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1. Kapitel

Alles hängt mit allem zusammen

4. Juni 2024

Kala Nera, Griechenland

Nach dem Essen saß Jan Metzner allein auf der Terrasse und blickte auf den Golf von Pagasitikós, in der Hand den Schwenker mit dem unvergleichlichen Brand, den Stavros destillierte, einer seiner Nachbarn und Kunden. Das Zeug war besser als jeder noch so edle Cognac. Die Seele Griechenlands steckte darin. Karstige Hügel und tiefblaues Meer, Rosmarin, Salbei und Thymian – und die speziellen Trauben von jenem besonderen Südhang, die das Licht der Sonne auf ihre ganz eigene, unnachahmliche Weise gespeichert hatten.

Ein leiser Schauer rann Jans Rücken hinab, als er sich klarmachte, dass er im Grunde gerade Sonnenlicht trank, und er hob den Schwenker in Richtung der untergehenden Sonne, prostete ihr zu und fühlte sich einen Moment lang vollkommen mit der Schöpfung und sich selbst im Reinen.

„Dank sei dir“, murmelte er zur Sonnenscheibe, die blutrot im Westen stand, dicht über den Gipfeln des zentralgriechischen Berglands, und fügte hinzu. „Gezeichnet: Echnaton.“

Witziger Gedanke!

Zugegeben, er war nicht mehr ganz nüchtern, wie eigentlich immer, wenn er die Dinge zusammenzuwerfen begann. Echnaton hatte mit Griechenland herzlich wenig zu tun. Doch der altägyptische Pharao, ein Sonnenverehrer, hatte trotzdem etwas verstanden: Alles Leben auf Erden hing von der Sonne ab. Den zugrundeliegenden Prozess, in dem aus Licht Materie wurde, die Photosynthese, verstand man erst seit rund 60 Jahren; so lange hatten die Menschen gebraucht, um aus Glauben Gewissheit werden zu lassen. Sonnenlicht in Verbindung mit Kohlendioxid und Wasser – das war die einfache Lebensgleichung, auf der auch der unvergleichliche Genuss beruhte, den der Brandy von Stavros verschaffte.

Und doch war Sonnenlicht nicht gleich Sonnenlicht. Das eine brannte auf der Haut, das andere brannte von innen. Jan mochte beides. Darum hatte er sich völlig ausgezogen, bevor er sich in den Liegestuhl am Pool hatte sinken lassen, streckte seinen Körper nun den letzten Sonnenstrahlen entgegen und schlürfte vom Brand.

Die Berge am gegenüberliegenden Ufer, dunkel vor den Schleierwolken, die im Licht der untergegangenen Sonne orangefarben nachglühten, das inzwischen fast schwarze Wasser des Golfs mit den Fischkuttern, die in aller Ruhe nach Süden tuckerten, Richtung offenes Meer, die Wärme des Abends, die Ruhe – es war ein bisschen zu viel der Idylle.

Alles hing mit allem zusammen. Das Sonnenlicht mit Stavros‘ edlem Tropfen ebenso wie mit den beunruhigenden Nachrichten und mit dem Frieden hier auf der Halbinsel Pilion, wo Jan seit sieben Jahren lebte. Immer wieder nahm er sich vor, keine Nachrichten mehr zu sehen, aber dann überkam ihn regelmäßig dieses Gefühl, etwas zu verpassen – ein Junkie auf Entzug. Er konnte nicht leben, ohne zu wissen, was draußen vorging, auch wenn dieses Draußen mit der vergessenen Weltgegend, in der er lebte, denkbar wenig zu tun hatte. Dieses Bedürfnis war das Ergebnis seiner Erziehung. Seine Eltern waren das gewesen, was man „homo politicus“ nannte – immer interessiert, immer engagiert und immer auf der Suche nach Zusammenhängen. Und so war eine der Weisheiten, die Jan gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen hatte: Alles hängt mit allem zusammen.

Die Welt schien in einer Dauerkrise. Wenn es mal keine Horrormeldungen über die Eskalation in Ägypten gab, dann gab es stattdessen welche über Flüchtlingsströme und Bürgerkriege anderswo auf der Welt. Oder es gab neue Spekulationen über die sogenannte Islamische Allianz. Diese Organisation, in deren Namen vor vier Wochen eine Autobombe vor der deutschen Botschaft im Jemen gezündet worden war, hatte eine Webseite, auf der ein Countdown lief; und der beschäftigte die halbe Welt. Auch Jan sah regelmäßig auf der Seite nach. Vorhin, vor dem Abendessen, hatte der Countdown „06:05:54 AST“ und die Sekunden angezeigt, die in dem ihnen eigenen unerbittlichen Rhythmus verrannen. AST stand für Arabia Standard Time; das war dieselbe Zeitzone, in der sich auch Griechenland befand. Niemand wusste, was das alles zu bedeuten hatte.

Über dem Countdown stand ein Ausschnitt aus dem achten Vers der fünften Sure des Koran:

„Die Feindseligkeit eines Volkes soll euch nicht verleiten, anders denn gerecht zu handeln.“

Daneben stand der Slogan der Islamischen Allianz:

„Wir haben noch nicht angefangen.“

Das schien zu bedeuten, dass die Islamische Allianz in sechs Tagen und knapp sechs Stunden, also mit Beginn des 11. Juni, irgendetwas zu tun beabsichtigte; mit irgendetwas wollten diese Leute anfangen. So wie man sie kannte, konnte es sich dabei eigentlich nur um einen Terroranschlag handeln. Dagegen sprach aber, dass ausgerechnet der jordanische König Abdallah II. der Kopf der Islamischen Allianz war. Er hatte sie ins Leben gerufen, und er hatte viele namhafte islamische Geistliche und Politiker zu jener sonderbaren Versammlung nach Amman gerufen, die er „Rat des Islam“ und „Große Schura“ nannte und die derzeit tagte. Islam-Experten sagten, es handele sich um eine Art Konzil – und damit um etwas, was es im Islam bisher nicht gegeben hatte. Abdallah II. war ein angesehener Mann, ein Garant für Stabilität, Ausgleich und Frieden im Nahen Osten. Nach dem Anschlag auf die deutsche Botschaft im Jemen hatte er der Welt versichert, dass die Allianz nichts damit zu tun habe und dass sie keine Terror-Organisation sei, sondern im Gegenteil gegen den Terror vorgehen werde. Vor fünf Jahren war er selbst Ziel eines Anschlags der al-Qaida gewesen, bei dem er beinahe getötet worden wäre.

Die Lage war also unklar, doch Jan sagte sich, dass die Welt schon noch erfahren würde, was die Allianz vorhatte – und zwar in gut sechs Tagen. Er versuchte, sich auch weiterhin nicht von der Paranoia anstecken zu lassen, die in Teilen Europas und in den USA vorherrschte. Überall wurden Sicherheitsvorkehrungen verschärft. An der amerikanischen Ostküste war es sogar schon zu Hamsterkäufen gekommen.

Doch nicht die Allianz beherrschte heute die Schlagzeilen, sondern die Aufrüstung Chinas. Die Volksrepublik hatte ein riesiges Problem: Sie war keine Exportweltmeisterin mehr. Die Billigstrategie, die sie jahrelang gefahren hatte, zahlte sich auf Dauer nicht aus, und die Versuche, sich mit Qualitäts-Hightech-Produkten wie etwa modernen Autos auf den Märkten zu behaupten, funktionierten nicht, weil chinesische Produkte immer nur so lange mithalten konnten, bis andere Produzenten neue, bessere und vor allem innovative Produkte auf den Markt brachten. Im Kopieren und Nachahmen waren die Chinesen traditionell groß, aber gerade weil sie den Urheberschutz und das Recht auf geistiges Eigentum nicht achteten, hatte eine Mentalität des Erfindergeistes, Basis jeder Innovation, in China nicht Fuß fassen können. Auch in Sachen Militärtechnologie würde China immer hinterherhinken, aber seine Bevölkerung war viermal so groß wie die der USA, und was China mit Klasse nicht schaffte, das schaffte es eben mit Masse. Im Prinzip war es ja schon immer so gewesen.

Warren Mills, ein einflussreicher US-Senator von der Republikanischen Partei, hatte nun vor den Chinesen gewarnt und verstärkte Rüstungsanstrengungen der USA gefordert.

Getöse eines konservativen Hardliners.

Warum sollten die Chinesen einen Weltkrieg provozieren? Schon die Nazis hatten erkennen müssen, dass selbst die effizienteste Kriegswirtschaft nur begrenzte Zeit durchzuhalten vermochte. China war zu sehr von anderen Teilen der Welt abhängig, als dass es sich leisten konnte, einen Krieg zu beginnen, der das Land auf der Stelle von lebenswichtigen Importen abschneiden würde. So war die Verflechtung Chinas in die Weltwirtschaft ein besserer Garant für den Frieden als jedes militärische Abschreckungskonzept.

Doch das militaristische Gerede aus den USA beunruhigte Jan, diese Forderungen nach Aufrüstung. Dabei gaben die USA schon jetzt jeden vierten Dollar ihres Staatsbudgets direkt für militärische Zwecke aus. Und weiteres Geld floss in ihre unzähligen Sicherheitsprojekte und natürlich in ihre Geheimdienste.

Auf solche Nachrichten reagierte Jan empfindlich, denn er hatte in den USA studiert, er hatte dieses Land lieben gelernt und war zugleich tief gespalten in seinem Urteil über die Weltmacht. Er hatte noch immer Freunde drüben, mit denen er in regelmäßigem Mailkontakt stand. Genau wie Jan verzweifelten sie an der Oberflächlichkeit, mit der in den USA mit den Themen umgegangen wurde. So lebte seine beste Freundin Diane in Los Angeles, wo sie sich als kritische Journalistin für ein viel gelesenes Blog beinahe die Finger wundschrieb. Jan las ihre Artikel regelmäßig. Und sein bester Freund Michael hatte zuletzt in Phoenix, Arizona, gelebt, bevor er spurlos verschwunden war. Die beiden waren umfassen gebildete, interessierte Menschen und überzeugt davon, dass man einzelne Phänomene nicht losgelöst von allen anderen betrachten konnte.

Aber das bedeutete nichts dort drüben. Da brachte Fox News die Meldung, dass die Chinesen ihren Militäretat erneut aufstocken wollten, und zwar auf die gigantische Summe von 120 Milliarden US-Dollar. Als erste Reaktion auf die Nachricht gab es dann ein Interview mit irgendeinem Experten aus dem Umfeld der US-Regierung, der die Losung ausgab, dass die US-Regierung eine angemessene Antwort geben müsse, der aber natürlich zu erwähnen vergaß, dass der Militärhaushalt der USA das Fünffache betrug. Es gab sie immer noch, die „Falken“, die alles aufs Militärische reduzierten und die der Chainey-Doktrin folgten: Die USA mussten jederzeit in der Lage sein, überall auf der Welt zwei Kriege gleichzeitig führen zu können. Dass ein Krieg für China keine Option sein konnte, das blendeten diese Leute aus, um aufrüsten zu können, und Fox News assistierte dabei, denn neue Kriege bedeuteten neue Nachrichten. Schon war die öffentliche Meinung gebildet – abgesehen von jenem Häufchen hilfloser Intellektueller, die diese Zusammenhänge durchschauten und doch nichts dagegen tun konnten. Ihnen fühlte Jan sich verbunden.

Doch auch in den USA hing alles mit allem zusammen, war alles mit allem auf eine ganz spezielle Art verflochten. Darum hatte Jan es dort nicht ausgehalten. Er hätte Karriere in den USA machen können, er war begabt, ein Mikrobiologe und Genetiker aus dem Stall von Professor Marcus Fairbanks, der dieses Jahr für den Nobelpreis vorgeschlagen war. Jan war zwar Deutscher, aber es war auch schon anderen Deutschen vor ihm gelungen, Karriere in den USA zu machen, darunter sogar einem von Jans direkten Vorfahren. Sein Ururgroßvater Herrmann Metzner war „Arzt“ im Konzentrationslager Sachsenhausen gewesen. Dort hatte er unter anderem erforscht, wie die unmittelbare Injektion von Phenol auf den menschlichen Körper wirkte – nämlich indem sie einen qualvollen, sich über Minuten hinstreckenden Todeskampf auslöste, den dieser „Arzt“ wie ein Chronist mit schriftlichen Kommentaren für die Nachwelt festgehalten hatte. Da war von wiederkehrenden Spasmen die Rede, da wurde Wert auf die Feststellung gelegt, dass die Testperson zum Glück sorgsam festgeschnallt worden war, und hervorquellende Augen und Schaum vor dem Mund wurden ebenso akribisch eingetragen wie der Zeitpunkt des endgültigen Herzstillstandes.

Dieser „Arzt“ hatte seine Forschungen in den USA fortsetzen dürfen, als Mitarbeiter jenes legendären Projekts der CIA, das den Namen MK-Ultra getragen hatte. Agenten der CIA-Vorgängerorganisation OSS – das stand für Office of Strategic Services – hatten Herrmann Metzner kurz nach Kriegsende in die USA und damit in Sicherheit gebracht. Allen Dulles, der spätere erste CIA-Chef, hatte persönlich dafür gesorgt, dass Metzner nicht vor das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal musste. Offiziell hatte der „Arzt“ als verschollen gegolten.

Jan war 14 Jahre alt gewesen, als seine Eltern ihn mit diesem Teil der Familiengeschichte konfrontiert hatten, und seitdem war er für immer immunisiert. Ja, er hätte Karriere in den USA machen können. Die Gelegenheit dazu hatte es gegeben. Er hätte nur die ausgestreckte Hand ergreifen müssen. Doch er hatte dankend abgelehnt. Sein Seelenfrieden war ihm wichtiger als eine Karriere, in deren Verlauf er zwangsläufig mit dem amerikanischen Militär in Berührung gekommen wäre. Selbst Michael Schwartz, sein hochbegabter bester Freund, hatte ihn für diese Haltung verspottet, dann aber selbst ebenfalls auf Abstand zu diesen Leuten geachtet.

Jan und Michael hatten sich zuletzt vor etwa zwei Jahren gesehen. Michael hatte Jan auf dem Pilion besucht, und als er den Wert dessen begriff, was Jan hier geleistet hatte, war er ziemlich zurückhaltend geworden mit weiteren spöttischen Anmerkungen. Jan hatte es nicht angesprochen, aber indirekt hatte er aus Michaels Verhalten geschlossen, dass Michael inzwischen Kontakt zum amerikanischen Militär gehabt haben musste.

Jan dachte gern an Michaels Besuch zurück, auch wenn er schon zwei Jahre zurücklag, ziemlich genau sogar – im Juni 2022, wie Jan gerade einfiel. Der griechische Sommer war schon in vollem Gang gewesen, aber noch nicht zur Höchstform aufgelaufen, die Temperaturen hatten 35 Grad noch nicht überschritten. Sie waren hinübergefahren nach Hiliadou, an den schönsten Strand Griechenlands, der zum Glück immer noch so schwer erreichbar war wie damals, als sie zum ersten Mal hier gewesen waren. Sie hatten gezeltet, als wären sie wieder Studenten, und Michael hatte zugegeben:

„Du hast alles richtig gemacht.“

Ein paar Monate später war Michael verschwunden. In die Wälder gegangen, hieß es. Jan hatte Michaels Mutter damals angerufen.

„Er ist nicht verrückt geworden, wie alle jetzt behaupten“, hatte Amy Schwartz gesagt. „Er war absolut klar im Kopf. Ich glaube, er hat etwas vor.“

Die Gedanken an den Kommilitonen und Freund machten Jan traurig – auch weil sie hier am Pool gelegen hatten, genau wie er in diesem Moment, und weil sie dieses köstliche Zeug getrunken hatten. Und weil sie miteinander geschwiegen hatten. Für Jan bedeutete das die Krönung von Freundschaft: Schweigen. Unentwegt plappern, Smalltalk halten, die Welt mit geistigen Ergüssen überschwemmen, das konnte jeder, und gewiss war das manchmal auch amüsant, kurzweilig und vielleicht sogar notwendig. Doch miteinander zu schweigen, nicht nur für eine Minute, sondern für eine Stunde, und dem anderen bei seinen Gedanken zuzuhören, ohne dass man sie aussprach, das war das Höchste. Mit Michael war das möglich gewesen – und nur mit ihm.

***

In Pakistan war eine Seuche ausgebrochen. Das war die zweite Hauptnachricht des Abends, und zum ersten Mal seit Monaten fühlte Jan sich dazu animiert, noch vor dem Abendessen mehr Informationen einzuholen – denn der Nachrichtensprecher bezeichnete den Erreger als „unbekannt“, „noch nicht identifiziert“, und es hieß, die Seuche breite sich „explosionsartig“ aus. Die Erkrankten litten unter plötzlicher Übelkeit und schwerem, blutigen Erbrechen, und bisher, so hieß es, seien alle Erkrankten gestorben. Diese Nachrichten weckten Jans professionelle Neugier, die des Mikrobiologen, und er begann zu recherchieren.

Eine Krankheit, die hundert Prozent Todesopfer forderte, war im evolutionären Sinn Quatsch. Menschen machten meistens den Fehler, Krankheiten aus der Perspektive des Betroffenen, des Opfers zu betrachten und sie als besonders schlimm zu empfinden, je mehr Opfer sie forderten. Das war nur menschlich. Doch Krankheiten und ihre Erreger ließen sich besser verstehen, wenn man sie vom Erreger her dachte. Ein solches Tötungspotenzial wie das, was den Erreger in Pakistan zu kennzeichnen schien, wirkte auf den ersten Blick natürlich hocheffizient, aber aus der Perspektive des Erregers war das Gegenteil richtig: Wer sollte die Nachkommen des Erregers weitergeben, wenn die Infizierten so schnell und überdies vollständig starben? Wie sollte der Erreger sich weiter verbreiten? Ein Erreger, der zu hundert Prozent tötete, war zum Aussterben verurteilt.

Das war auch der Grund dafür, dass die Erreger schwerer hämorrhagischer Fieber – wie etwa Marburg- oder Ebola-Virus – sich nie über einen eng umgrenzten regionalen Umkreis hinaus ausbreiteten: Sie töteten ihre Opfer so schnell und so effizient, dass sie ihre eigene Ausbreitung behinderten und an sich selbst erstickten. Das änderte natürlich nichts daran, dass Ebola furchterregend war; Jan hatte sich während seines Studiums eingehend damit befasst. Aber es war im evolutionären Sinn kein Erfolgskonzept, denn es würde niemals große Verbreitung erfahren, weil es zu effizient war. Daher würde es nie eine weltweite Ebola-Epidemie geben. Es sei denn, es entstand eine Ebola-Mutante mit reduziertem Tempo. Oder jemand manipulierte das Virus und drosselte es. Aber das war nicht so einfach.

Also war er online gegangen, um mehr zu erfahren als nur die nackte Tatsache, und was er las, war erschreckend. Bisher gab es seit Ausbruch der Seuche vor zwei Tagen geschätzte dreitausend Opfer. Das Gebiet, in dem sie ausgebrochen war, galt inzwischen als weiträumig abgeriegelt, niemand kam mehr hinein und hinaus. Was Jan aufhorchen ließ, war die Tatsache, dass es sich um das Swat-Tal im Nordwesten Pakistans an der Grenze zu Afghanistan handelte, eine fast ausschließlich von Paschtunen besiedelte Gegend. Die Paschtunen galten als – vorsichtig ausgedrückt – eigenwillig und problematisch. Aus Glaubensgründen hatten viele von ihnen sich vor Jahren schon geweigert, ihre Kinder gegen Kinderlähmung impfen zu lassen. Aus den Reihen der Paschtunen speisten sich überwiegend die afghanischen Taliban. Das Swat-Tal war während des Afghanistan-Kriegs der Nato das Rückzugsgebiet der Taliban gewesen. Auch die afghanische Bevölkerungsmehrheit war paschtunisch, aber von dort wurden bisher keine Krankheitsfälle gemeldet. Es schien, als sei die Seuche auf das Swat-Tal begrenzt.

In so gut wie allen Meldungen war die Rede von einer Seuche, einer Epidemie und von einem bisher unbekannten Erreger, aber was Jan über die Entwicklung las, sprach gegen eine Seuche, und er bekam den Verdacht, dass die Medien ein weiteres Mal nur eine offizielle Sprachregelung nachplapperten.

Seuchen entstanden nicht explosionsartig. Sie waren nicht einfach plötzlich da. Sie gingen meist von einzelnen Infektionsherden aus, die mit modernen Mitteln ausfindig gemacht werden konnten. Bei der Vogelgrippe etwa war es möglich gewesen, gewissermaßen den Hühnerstall ausfindig zu machen, in dem das tödliche Virus mutiert und damit zur globalen Gefahr geworden war. Am Ausgangspunkt solcher Seuchen gab es immer nur einen einzigen oder wenige Infizierte, die den Erreger weitergaben, bevor sie selbst ernsthaft erkrankten. So konnte er sich mit rasch wachsender Geschwindigkeit ausbreiten. Diese rasche Ausbreitung war typisch für das Anfangsstadium solcher Seuchen. In Pakistan aber hatte es in diesem ersten Stadium der Ausbreitung gleich 3000 Menschen getroffen, und zwar innerhalb kürzester Zeit, fast auf einen Schlag. Das roch nicht nach einem Erreger und einer Seuche, das roch eher nach einer Vergiftung. Oder wie schaffte es dieser Erreger, quasi schlagartig im ganzen Swat-Tal gleichzeitig aufzutauchen?

Da hat jemand ein Virus gegen Islamisten konstruiert und flächendeckend ausgebracht!

Jan wurde diesen Gedanken nicht mehr los, und Erinnerungen an die Zeit unmittelbar nach Abschluss seiner Doktorarbeit krochen in ihm hoch, als er sich der „Antennen“, die andauernd um ihn herumscharwenzelt waren, kaum noch hatte erwehren können. Michael hatte dazu einmal gesagt:

„Mein Vater würde jetzt sagen: Der militärisch-industrielle Komplex sucht Nachwuchs.“

Gleichgültig bis ablehnend hatte er sich von ihnen umwerben lassen. Von ihm stammte auch die Bezeichnung „Antennen“ für diese Leute.

Das Militär hatte durchaus Verwendung für Mikrobiologen und Genetiker, wie Michael und Jan welche waren, aber es trat niemals direkt in Erscheinung. Wenn man aber einmal ein wenig recherchierte, wer hinter den Firmen steckte, deren Schriftzüge auf den Visitenkarten der „Antennen“ prangte, dann landete man bei undurchsichtigen Konsortien und bei Konzernen wie Hellibarton, MediGen, Raethyon und Lockhead-Morten, die alle zusammen den militärisch-industriellen Komplex bildeten.

Im Jahr 1972 waren die USA der UN-Biowaffenkonvention beigetreten, welche die Erforschung und Entwicklung von Biowaffen untersagte. Die ganze Welt wusste, dass diese Konvention ein zahnloser Tiger war, denn es gab kein Zusatzprotokoll, in dem regelmäßige Kontrollen vereinbart worden wären. Am Beispiel Russlands hatte sich gezeigt, was die Konvention wert war: nichts. Die Russen hatten nachweislich bis vor 30 Jahren in verschiedenen Einrichtungen an Biowaffen geforscht und unter anderem extrem gefährliche Milzbranderreger entwickelt. Sie hatten aber auch ein gutes Beispiel dafür geliefert, dass Biowaffen ein zweischneidiges Schwert waren, denn ein Krankheitserreger kümmerte sich nicht darum, ob der Mensch, in dem er sich gerade vermehrte, zu den „Guten“ oder zu den „Schlechten“ gehörte. Es hatte Unfälle in Russland gegeben, die Opfer gefordert hatten. Biologische Waffen waren eben schwer handhabbar und in ihren Konsequenzen nicht kalkulierbar. Vielleicht hatte die Welt also recht damit, sich nicht sonderlich um Biowaffen zu sorgen.

Jan war überzeugt davon, dass in den USA noch heute an biologischen Waffen gearbeitet wurde – und nicht nur an solchen eher harmlosen Bakterien, die Tarnanstriche fraßen oder Gummidichtungen auflösten.

Er erinnerte sich noch gut an eine Vorlesung, die er hatte genießen dürfen, einen dieser ganz besonderen Momente. Er war im vierten Semester, und das Auditorium Maximum der Universität von Cincinnati war völlig überfüllt, als der Nobelpreisträger Samuel McWeir, Mikrobiologe und Genetiker, eine Gast-Vorlesung über „Waffen aus der Natur“ gehalten hatte. Für den provozierenden Titel der Veranstaltung war der ehrwürdige, charismatische Mann mit dem dünnen grauen Haar zwar nicht verantwortlich; das ging auf das Konto des Uni-Komitees, das gern die Frage erörtert hätte, ob es nicht denkbar wäre, dass die Natur sich gegen den Raubbau durch die Menschen wehren könnte, indem sie eine Krankheit schickte, eine globale Seuche. Eine Waffe gegen die Menschheit. McWeir nutzte den – wie er ihn nannte – „reißerischen“ Titel der Veranstaltung, um als erstes die Sache mit der Perspektive zu erläutern – ein Gedanke, den Jan nicht vergessen hatte: Man solle keinen Organismus, egal wie groß oder klein, als von vornherein für oder gegen den Menschen geschaffen betrachten. Selbst der kleinste Organismus, ja, sogar ein Virus sei in erster Linie nur eines: er selbst. Welche Folgen seine Existenz für andere hätten, das sei keine Frage, die ein Virus oder ein Bakterium sonderlich interessiere. Sie seien dazu geschaffen, sich zu vermehren, nichts weiter. Im Prinzip tue auch die Menschheit nichts anderes. Gewiss, einzelne Vertreter der sonderbaren Spezies namens Homo sapiens fragten nach den Konsequenzen menschlichen Tuns, aber änderte die Spezies insgesamt deswegen etwa ihr Verhalten? Nein, sie verhielt sich genauso gedankenvergessen wie ein Virus, obwohl ihr Hirn gegeben war.

Das Auditorium lachte, als der Professor ausführte, dass er keinen qualitativen Unterschied zwischen Menschen und Viren sah. Das war eine dieser Pointen, wegen denen man solche Vorlesungen besuchte. Da wurde die eigene Weltsicht ein bisschen aufgemischt, da bekam man schräge Gedanken präsentiert, die bei näherem Nachdenken aber immer plausibler wurden. Ja, nahm man sich als Mensch denn nicht wirklich viel zu wichtig?

Der berühmte Professor warb also dafür, die Lebewesen wertfrei und unvoreingenommen zu betrachten, und er warnte davor, die Natur als eine Art Selbstbedienungsladen aufzufassen. Als er so in sein Fachgebiet eintrat, die Welt der mikroskopisch kleinen Organismen und der Viren, da hing das Auditorium gebannt an seinen Lippen, denn es ging um 50 Jahre Gentechnik in den USA – McWeirs eigentliches Thema. McWeirs Credo war, dass nicht alles, was gemacht werden könne, auch gemacht werden dürfe. Dafür erntete er an diesem Campus, freundlichen Applaus, aber vor einem anderen Publikum hätte er sich gewiss mit eisigem Schweigen konfrontiert gesehen.

Anschließend beantwortete der Nobelpreisträger Fragen. Jan erinnerte sich genau, wie der schmächtige junge weiße Mann in der vierten Reihe aufstand und geduldig wartete, bis das Mikrofon zu ihm durchgereicht worden war, so dass er seine Frage stellen konnte:

„Sir, was halten Sie von der Idee, das Terrorismus-Problem zu lösen, indem man Pocken oder die Pest in Afghanistan und Pakistan einsetzt?“

Plötzlich lag eine unglaubliche Spannung in der Luft. Die Frage war politisch alles andere als korrekt, und so richteten sich viele empörte Blicke auf den jungen Mann. War der noch ganz dicht? Wie kam man auf solche Gedanken? Selbst McWeir wirkte einen Moment lang wie vor den Kopf gestoßen. Doch dann reagierte er souverän:

„Ich merke, Ihnen schwebt eine besondere Art von Manipulation der Natur vor.“

Die Spannung entlud sich in Gelächter. Das war ja wohl offensichtlich, nicht wahr? Der Nobelpreisträger als begriffsstutziger Clown, der wie alle normalen Menschen ein Weilchen brauchte, um einen einfachen Gedanken in seiner Tragweite zu begreifen – und der ihn dann mit wenigen Worten dem Thema des Abends zuordnete und ihn sich so zu eigen machte.

McWeir erinnerte zunächst daran, dass die USA der UN-Konvention beigetreten war, die Besitz und Entwicklung von Biowaffen untersagte.

„Alles Weitere ist also rein theoretisch gemeint“, fügte er hinzu, um dann von den Grenzen genetischer Manipulation zu sprechen. Ja, theoretisch galt es als machbar, eine Art lautlosen Genozids zu verüben, wenn man virale Waffen – diesen Begriff hatte er tatsächlich benutzt – so programmierte, dass sie bevorzugt Menschen töteten, die Gene trugen, die für ein bestimmtes Volk typisch waren. McWeir nannte diese Waffen „ethnische Viren“. Er ging dabei inhaltlich nicht über das hinaus, was Jan später bei Wikipedia nachlas. Vor allem merkte er an, dass Ethnien – also Stämme, Völker – nicht in erster Linie durch bestimmte Gene definiert würden, sondern durch ihre Kulturen, ihre Formen des Zusammenlebens. Das sei auch der Grund dafür, dass die Juden wahrscheinlich auf ewig dazu verdammt seien, erfolglos nach ihrem berühmten „jüdischen Gen“ zu suchen: Es existierte einfach nicht. Der Mensch hatte 99,8 Prozent seiner genetischen Ausstattung mit seinem nächsten Verwandten im Stammbaum der Arten gemeinsam, dem Schimpansen. Selbst wenn 0,2 Prozent angesichts der Länge eines DNA-Stranges immer noch eine Menge Material seien, gebe es in diesem Material mit Sicherheit kein Gen, das schrie: Ich bin jüdisch. Oder: Ich bin deutsch. Geschweige denn: Ich bin Islamist.

Jan hatte allerbeste Erinnerungen an diesen Abend, und selbst wenn er vieles schon gewusst hatte – er war ja nicht zu einer Expertenveranstaltung gegangen, sondern zu einem populärwissenschaftlichen Vortrag –, hatte er das Gefühl, etwas Neues mitgenommen zu haben. Später war ihm klar geworden: Dieses Neue – man nannte es „Überblick“. Von da an hatte er sich immer, wenn er sich in Details verhedderte, an diesen Abend mit seinen klaren Botschaften erinnert. Und auch an diesem Abend im Jahr 2024, 15 Jahre später, erinnerte er sich daran, und wieder durchflutete ihn dieses erhabene Gefühl, mit einer ungewöhnlichen Perspektive konfrontiert worden zu sein. Ein durch und durch gutes Gefühl, das ihn ein wenig aus seinen täglichen Zusammenhängen herauslöste. Der Wein beim Abendessen schmeckte plötzlich heiterer, und auch wenn der Anstoß zu diesen Erinnerungen – die Seuche in Pakistan – alles andere als schön war, fühlte er sich rundherum wohl, als er sich am Pool ausstreckte.

***

„Hallo, Meike“, sagte er.

Sie hatte wieder versucht, sich anzuschleichen, und hatte abgewartet, bis es ihrer Meinung nach dunkel genug dafür war. Heute hätte sie in der Tat gute Chancen gehabt, Jan zu überraschen, denn er war in sich versunken. Ihre leisen Schritte mit bloßen Füßen auf den Steinplatten der Terrasse hatte er nicht gehört. Es gab auch keine Veränderung der Lichtverhältnisse, kein Schatten, der ihm hätte auffallen können. Meike war sanft und leise wie immer, eine Katze, die sich an ihr Opfer heranpirschte. Und doch war ihm ihr Auftauchen nicht entgangen.

Er spürte sie, sobald sie die Terrasse betreten hatte.

Schon vor Jahren, gleich nach ihrem Einzug, hatte er ihr gesagt, dass es keinen Sinn hatte zu versuchen, ihn zu überraschen. Er würde sie immer bemerken, ehe sie über ihn herfallen und ihn ermorden konnte – oder was auch immer Schwestern sonst mit einem machten, wenn sie sich anzuschleichen versuchten. Jan hatte eine Gabe, eine Art sechsten Sinn: Er nahm seine Umgebung auch dann wahr, wenn er sie nicht sah. Er spürte sie. Auch seine Mutter hatte diese Gabe besessen. Alles hing mit allem zusammen.

Er spürte die Mauern des Hauses in etwa fünf Metern Entfernung, spürte die Fugen zwischen den Natursteinplatten der Terrasse und die feinen Unebenheiten ihrer Oberfläche, er spürte jedes leise Kräuseln des Wassers im Pool, wenn ein leichter Wind darüber hinweg strich, jeden Grashalm des Rasens, der den Pool umgab, und viele kleine und große Käfer und andere Insekten, die durchs Gras krochen. Er spürte die Nachtfalter in der Luft und die Fledermaus, die sie sich schnappte, und am Rand seines Wahrnehmungsbereichs spürte er die Blätter und Blüten der Hibiskushecke, die den Poolbereich zum unteren Teil des Gartens abgrenzte. Und das alles, ohne hinzusehen. Vieles von dem, was er wahrnahm, wäre für das Auge nicht zu erkennen gewesen. Was Jan spürte, ließ sich mit einer dreidimensionalen Karte seiner Umgebung vergleichen oder mit einem Hologramm, das nur in seinem Kopf existierte.

Er wusste nicht, wie das funktionierte, und er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich diese Frage zu stellen. Es war nie anders gewesen, schon als Kind hätte er sich dank dieser Gabe selbst ohne Augenlicht in der Welt zurechtgefunden. Seine Mutter hatte auf die Anzeichen geachtet und daher früh erkannt, dass er die Gabe besaß. Sie hatte ihm klargemacht, dass es etwas Besonderes war, die Welt auf diese Weise spüren zu können, und dass man es besser für sich behielt.

„Meike, du kannst aufhören“, sagte Jan. „Ich weiß genau, wo du bist.“

„Aber das ist ungerecht!“, empörte sich Meike. „Wie konntest du das wissen? Wieder einmal deine besondere Gabe?“

Sie wartete seine Reaktion nicht ab, hüpfte an ihm vorbei und tauchte in das Wasser des Pools ein. Sie war nackt, so wie auch Jan, und auch das hatte er schon gespürt.

Er war komplett in Meike vernarrt. Schon immer gewesen. Sonst hätte er sie damals, als sie plötzlich vor seiner Tür hier auf dem Pilion stand, nicht einfach einziehen lassen. In Deutschland war für sie damals alles zu Ende gewesen. Freund weg – deutsche Männer waren sowieso „scheiße“, wie Meike es ausdrückte. Job weg – auf berufliche Qualifikation hatte Meike es noch nie angelegt, sie hatte mit Mühe Abitur gemacht und dann eine Ausbildung als Verlagskauffrau abgeschlossen. Für eine mögliche Karriere hatte sie einfach nicht den nötigen Biss. Darum hatte sie sich auch nie um einen Job in einer der Metzner-Firmen gerissen. Die Firmen wurden gut geführt – warum sollte sie den Managern ins Werk pfuschen? Sie wollte lieber leben, im Augenblick, im Jetzt. Das hatte sie mit Jan gemein. Aber inzwischen waren die Bedingungen in Deutschland so schlecht, dass es kaum noch möglich war, einfach nur zu leben, und sie wurden immer schlechter.

Was Meike angeboten worden war, nachdem sie sich arbeitslos gemeldet hatte, spottete jeder Vernunft und auch ihrer Qualifikation. Mit etwas wohlwollender Phantasie konnten diese Jobs vielleicht als Niedriglohnjobs gelten. Schließlich hatte Meike nur noch die Wahl, es eben doch in einer der Metzner-Firmen zu versuchen oder in derselben Tretmühle zu landen, in der sich schon ein Viertel aller Deutschen befand, deren Leben aus nichts als Arbeit am Rande des Existenzminimums bestand.

Doch Meike war das Kind derselben Eltern, die auch Jan gezeugt hatten, und das bedeutete, dass sie einen eigenen Kopf hatte, der es nicht akzeptierte, vor Aufgaben gestellt zu werden, zu deren Lösung ihr ausschließlich unattraktive Optionen angeboten wurden. Und tatsächlich fand Meike eine dritte Option, die sie kurzentschlossen wahrnahm: Sie kehrte Deutschland den Rücken. Die Lust auf Kämpfen und Durchbeißen hatte sie verlassen. Sie hatte Ellenbogen, aber die brauchte sie für Anderes. Das ererbte Geld rührte sie trotzdem nicht an. Es lag ohnehin zum größten Teil in Fonds und Anleihen oder steckte direkt in Unternehmen, die den Metzners gehörten. Nein, den Flug nach Griechenland zu ihrem Bruder hatte sie vom eigenen Ersparten bezahlt. Seitdem lebten sie hier auf fast symbiotische Weise zusammen. Sie machte die Buchhaltung und kümmerte sich um den Papierkram, und Jan zahlte ihr ein Gehalt dafür, dass sie ihm die Bürokratie abnahm, so dass er konzentriert an seinen Mischungen arbeiten konnte.

Als Jan nach Griechenland gezogen war, hatte er noch keinen festen Plan gehabt, was er machen wollte. Hauptsache weg aus den USA und ihrem verrotteten gesellschaftlichen Klima, das sich nach all den Jahren des Kriegs gegen den Terror anfühlte wie in einer Wagenburg. Und auch weg von den „Antennen“. Es gab diese Villa hier auf dem Pilion, die seine Eltern gebaut hatten, etwas abseits in einer herrlichen Landschaft gelegen; also war er hierher geflüchtet. Auf seinen ersten Streifzügen durch die Umgebung stach ihm sofort die Vielfalt der Aromen in die Nase. Auf dem Pilion wuchsen mehr Kräuterarten als sonst irgendwo in Griechenland. Er begann, sich mit ihnen zu beschäftigen, fand heraus, dass viele von ihnen einst in der griechischen Volksmedizin angewendet worden waren und dass sie nicht nur ganz ausgezeichnet zur Lammkeule passten, sondern dass sie auch pharmazeutisch wirksam waren. Ihre ätherischen Öle wirkten entzündungshemmend und desinfizierend. Manche Kräuter warteten mit pflanzlichen Antibiotika auf, und es gab sogar welche, die auf die Psyche wirkten und Glücksgefühle hervorriefen. Jan dachte sofort an die wachsende Zahl von Menschen in Europa, die an Depressionen litten, und so zeichneten sich erste Umrisse einer Unternehmensidee ab.

Doch dabei blieb es nicht. Jan hatte Berichte über eine alte Frau gehört, die in einem Dorf im Süden des Pilion abgöttisch verehrt wurde, weil sie mit ihren Kräutern, so hieß es, jede Krankheit heilen konnte. Er schaffte es, ihre Bekanntschaft zu machen, und tatsächlich vollbrachte sie Erstaunliches. Sie heilte nicht nur Durchfälle und Husten und befreite von Warzen, sondern sie behandelte auch erfolgreich schwere Infektionen wie Lungenentzündungen, und wenn Jan sich nicht täuschte, blieb sie sogar im Kampf gegen Malaria siegreich – und das war wirklich außergewöhnlich! Gegen Malaria gab es weltweit noch immer kein wirksames Gegenmittel. Doch die Krankheit war auf dem Vormarsch, auch nach Südeuropa war sie wieder zurückgekehrt.

Die alte Frau kannte ein Kraut. Sie wusste nicht, wie der exakte botanische Name war, ebenso wenig wie sie die Namen der Krankheiten kannte, die sie behandelte; sie hätte niemals eine klare medizinische Diagnose stellen können. Das Kraut ließ sie Jan nur einmal kurz sehen, aber dieser Augenblick genügte ihm, um es gründlich genug zu spüren. Die behaarten, verkrüppelt wirkenden Stängel, die kleinen Blätter, der niedrige Wuchs – er prägte sich die Wahrnehmung genau ein, unternahm in den folgenden Tagen einige Wanderungen im Süden des Pilion und erspürte schließlich, was er suchte. Fortan wuchsen einige Exemplare des Malariakrauts frei in seinem Garten.

Das war schon die zweite gute und sinnvolle Unternehmensidee, seit er sich auf den Pilion zurückgezogen hatte. Keine von beiden setzte er sofort um, denn er hatte noch eine dritte. Sowohl sein Anti-Depressionsmittel als auch die Malaria-Medizin erforderten Forschung, klinische Studien und Auseinandersetzungen mit der Bürokratie und wahrscheinlich auch mit Konkurrenten, die besser mit den Entscheidungsträgern vernetzt waren als er; Griechenland war immer noch Mitglied der EU. Jan hatte jedoch keine Lust auf langwierige Auseinandersetzungen mit dem Bürokratiemonster. Er wollte Fortschritte, und zwar schnell!

Weil das Malariakraut nur sehr langsam wuchs, suchte Jan nach Mitteln, sein Wachstum auf möglichst natürliche Weise zu beschleunigen. Wenn er ein Labor wie das an der Uni von Cincinnati zur Verfügung gehabt hätte, wäre er vielleicht in Versuchung gekommen, die gewünschten Verbesserungen durch genetische Optimierung zu erzielen, aber erstens hatte er kein Labor, und zweitens hätte er dann einen gentechnisch veränderten Organismus geschaffen, den er in die Natur hätte entlassen müssen, um ihn zu testen, denn er hatte kein Hochsicherheitslabor, in dem dies unter abgeschirmten Bedingungen möglich gewesen wäre. Also war er lieber vorsichtig, auch wenn er die Gentechnik-Paranoia der Europäer nicht in allen Punkten teilte.

Er fand andere Wege, das Wachstum des Malariakrauts zu verbessern, und dabei war seine Ausbildung ausgesprochen hilfreich: Es gab Bakterien, einzellige Mikro-Organismen, mit Eigenschaften, die sich äußerst positiv auf das Pflanzenwachstum auswirkten. Diese Bakterien kamen in der freien Natur vor, auch hier auf dem Pilion, aber sie fühlten sich in den karstigen, trockenen Böden, in denen das Malariakraut wuchs, nicht besonders wohl. Sie brauchten ein feuchteres und saureres Milieu. Jan hatte also zwei Interessen miteinander zu vereinbaren: die des Krautes, das nährstoff- und wasserarme, eher kalkige Böden benötigte, und die jener Bakterien, die eher entgegengesetzt waren. So richtete er sich nun doch ein kleines Labor im Keller der Villa ein und experimentierte mit den Bakterien, setzte sie extremeren Bedingungen aus, als sie eigentlich gewohnt waren, und extrahierte schließlich einige wenige Einzeller, die mit den kargen Bedingungen zurechtkamen, weil sie sich angepasst hatten. Dann ging er daran, sie zu vermehren, mischte ein Substrat aus Humus und Kräutern zusammen, das er mit den gewonnenen Bakterien kontaminierte, und testete die Wirkung, indem er dieses Substrat in verschiedenen, genau beschriebenen Zusammensetzungen mit gewöhnlicher Erde vermengte, in zwanzig Töpfe füllte und Stecklinge des Malariakrauts einsetzte. Jeder einzelne der Stecklinge wuchs besser als in der freien Natur, aber mit einem bestimmten Substrat erzielte Jan ein erstaunliches Ergebnis: Der Steckling zeigte ein Wachstum, das achtzig Prozent über dem lag, das die frei im Garten wachsenden Pflanzen zeigten.

Es war ein Zufallsfund, und die Natur hatte ihre Hand im Spiel: Offenbar hatte Jan einen Bakterienstamm gefunden, der optimal mit dem unterirdischen Teil des Krauts zusammenarbeitete. Die winzigen Einzeller verbesserten nicht nur die Bodenqualität, sondern sie führten vor allem zu einer Steigerung des Wurzelwachstums – und die Wüchsigkeit des unterirdischen Teils einer Pflanze entsprach immer der des oberirdischen Teils. Wie die Wurzeln und die Bakterien zusammenarbeiteten, das grenzte an Symbiose. Offenbar waren die Bakterien unter den Bedingungen, denen Jan sie ausgesetzt hatte, auf natürliche Weise mutiert. Er hatte also Bakterien erzeugt, die das Wurzelwachstum von Pflanzen unter schwierigen Bedingungen begünstigten. Und das ohne großen Aufwand innerhalb eines halben Jahres. Und ohne dass Schaden für die Natur zu befürchten war.

Nun kam Nachbar Stavros ins Spiel, der Bauer mit dem feinen Gaumen. Sie hatten sich kennengelernt, als Stavros einmal wütend und reifenquietschend vorgefahren war und Jan verdächtigte, ihm Land zu stehlen. Es ging um eine Grenzsteingeschichte, die plötzlich wieder virulent geworden war. Irgendwo in einer Ecke, wo Jans weitläufiges Grundstück an einen Olivenhain grenzte, der Stavros gehörte, war eine uralte Grenzmauer zusammengebrochen, und Stavros witterte Absicht. Jan war alles andere als geneigt, sich deswegen aus dem Universum der mikroskopisch kleinen Lebewesen in die Niederungen juristischer Lappalien herabzulassen. Sie fuhren hin, besahen die Angelegenheit und regelten die Kleinigkeit. Stavros war darüber so glücklich, dass er Jan seiner Familie vorstellte, und dann musste Jan zum Abendessen bleiben und – unter anderem – jenen Brand kosten, dem er sofort verfiel.

Am nächsten Tag kam Stavros nochmals vorbei, um sich zu bedanken, weil er im Nachhinein das Gefühl hatte, sich wegen der Mauer kleinkariert verhalten zu haben. Er war klein, drahtig, faltig, seine Haut war überall, wo sie im Lauf seines fünfzigjährigen Lebens Kontakt mit Sonnenlicht gehabt hatte, gegerbt und verwittert, und er hatte sagenhaft schlechte Zähne, aber er war nicht auf den Kopf gefallen. Er wollte wissen, was Jan trieb, und Jan zeigte ihm seine Kräutertöpfe – ohne ihm allerdings zu sagen, was das für ein Kraut war, mit dem er da experimentierte. Stavros war sofort hellwach, als Jan ihn auf die Unterschiede im Wachstum der Pflanzen hinwies, und er sagte:

„Normalerweise kommt nichts von nichts.“

Diese Bemerkung ließ Jan stocken, und als er antwortete, war er keineswegs sicher, ob er Stavros richtig verstanden hatte.

„Das ist auf gute Bakterien zurückzuführen“, sagte Jan, „und auf gute griechische Kräuter.“

Von Bakterien wollte Stavros nichts wissen, aber gute griechische Kräuter, die kannte er. Und die sollten solche Unterschiede im Pflanzenwachstum bewirken?

„Kannst du das auch mit Weizen?“, fragte er.

Das war die Geburtsstunde von Jans dritter Unternehmensidee, und diesmal gründete er wirklich eine Firma. Unten in Volos kaufte er ein günstig gelegenes Firmengelände samt Gebäuden, die seit der Eurokrise leer standen, und richtete darin ein erstes, noch recht einfaches Labor ein, das vor allem dazu diente, jene Bakterien zu vermehren, die mit den kargen griechischen Böden so ausgesprochen gut zurechtkamen. Er engagierte eine Sekretärin, die zunächst wenig zu tun hatte, und zwei Wachleute, die gelangweilt das weiträumige Firmengelände im Auge behielten, während Jan in seinem Element war und das tat, wofür er ausgebildet worden war: Er züchtete Bakterien. Ständig nahm er Proben, prüfte das Aussehen der Einzeller unter dem Mikroskop, registrierte die Unterschiede, trennte die verschiedenen Stämme und katalogisierte sie – denn Bakterien mutierten schnell, und es konnte sein, dass sich aus dem bereits guten Bakterienstamm, den er gewonnen hatte, einer entwickelte, der noch besser war. Jan musste nur den Selektionsdruck aufrechterhalten, also die Bedingungen für die Bakterien ganz langsam verschlechtern. Irgendwann würden sie sich anpassen.

Metzner Ε.Π.Ε. war zunächst ein Zuschussgeschäft, vor allem weil das Firmengelände viel zu groß war, aber das scherte Jan nicht. Das Geld war da, und wozu sollte Geld gut sein, wenn nicht dazu, es in gute und zukunftsträchtige Ideen zu stecken? Metzner Ε.Π.Ε. würde irgendwann expandieren, und dann würden alle froh sein, wenn die nötigen Gebäude schon vorhanden waren.

Eine erste Mischung, die aus einem Kräutermix und den „Wunder-Bakterien“ bestand, testete Stavros persönlich auf einem seiner Äcker, auf dem er Weizen anbaute. Die Wirkung war verblüffend. Die Mischung, rechtzeitig vor der Aussaat untergepflügt, schien den Acker fruchtbarer zu machen. Der Boden speicherte das Regenwasser besser. Das höhere Wurzelwachstum steigerte nicht nur den Getreideertrag um immerhin fast fünfzig Prozent, sondern führte auch dazu, dass der Weizen kräftiger wuchs und gesünder war. Als Stavros das sah, beschloss er spontan, auf diesem Acker keine Pestizide und Herbizide mehr einzusetzen, mit anderen Worten: Er sparte die Kosten für die chemische Keule, nur weil da unterirdisch winzige Lebewesen zugange waren, und erntete am Ende mehr, als er jemals zuvor von diesem Acker bekommen hatte.

Das sprach sich auf dem Pilion herum, und die Bauern traten reihenweise an Jan heran und fragten nach der Mischung. Im nächsten Jahr brachten mehrere Dutzend Bauern Jans Mischung aus und erzielten Ergebnisse, die über die Grenzen der Provinz hinaus Aufsehen erregten. Jan bedauerte dies im Nachhinein, denn es gab Probleme mit der Zertifizierung und Zulassung seines Produkts, als er daran ging, es anzumelden, um es in ganz Griechenland vertreiben zu können. Ein Hersteller von Pestiziden hatte von Jans Erfolgen gehört und versuchte nun, dem noch jungen Unternehmen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Doch Jan wusste sich zu helfen. Sein „AcrePlus“ – so nannte er seine Mischung zunächst – kam hervorragend an, und schon drei Jahre später war der ganze Pilion de facto auf Biolandwirtschaft umgestiegen, indem er „AcrePlus“ von Metzner Ε.Π.Ε. auf allen Feldern und Äckern einsetzte.

Zwei Dinge passierten gleichzeitig: Der Pilion wurde die fruchtbarste Gegend Griechenlands – und der Einsatz von Pestiziden, Herbiziden und Fungiziden rutschte auf null.

***

Meike schickte Jan einen Gruß aus warmen Wasserperlen, die sie aus dem Pool herüberspritzte. Jan spürte jeden einzelnen Wassertropfen, ehe er auf seine Haut traf, und reagierte nicht wie gewünscht; da er vorbereitet war, blieb er einfach ruhig liegen.

„Blödmann“, knurrte Meike, tauchte ab und schwamm ein wenig.

Jan grinste, als er Meikes Kopf über dem Wasser spürte, den Rest von ihr aber nicht wahrnehmen konnte. Das war deswegen eine komische Wahrnehmung, weil Meikes Kopf ohne den Rest von ihr natürlich nicht zu denken war. Dieser Rest war durchaus atemberaubend, und Jan konnte absolut nachvollziehen, dass die jungen Griechen sich in Meikes Nähe meist ziemlich schnell auffallend kopflos zu verhalten begannen, aber er fand es auch ein wenig peinlich. Nicht die beste Visitenkarte für das männliche Geschlecht.

„Kommt Dimitri nachher?“, fragte er, als Meike etwa zwei Armlängen vom Fußende seiner Liege am Beckenrand auftauchte.

„Und wenn?“, fragte seine Schwester.

„Dann würde ich um eine Vorwarnzeit bitten, damit ich nach Volos fahren und mir rechtzeitig Ohropax besorgen kann. Vorgestern habt ihr mich um meinen wohlverdienten Schlaf gebracht.“

Meike lachte laut auf.

„Du würdest aus einem ganz anderen Grund nach Volos fahren“, entgegnete sie, „und zwar wegen dieser sexy Schnecke, die dir dein Geld abknöpft.“

„Red nicht so respektlos von meiner Lieblingshure“, rüffelte er sie sarkastisch. „Sie führt meine Aufträge bislang zu meiner absoluten Zufriedenheit aus.“

„Das hoffe ich sehr.“ Meike stieg aus dem Wasser. „Wäre aber doch schön, wenn du eine Schnecke hättest, mit der du auch auf Feste und an den Strand gehen könntest, oder?“

Jan verzog das Gesicht.

„Ich mag den Ton nicht, in dem du sie ‚Schnecke‘ nennst. Das klingt … abfällig.“

„Du mit deiner politischen Korrektheit. Dimitri nennt mich so, wusstest du das?“

„Schnecke? Dich?“

„Natürlich auf Griechisch. Saligkári. Klingt doch schön, oder?“

Jan lachte und antwortete:

„Schön ist vor allem, wie er dich am Wickel hat!“

„Männer wie ihn gibt es in Deutschland nicht mehr. Diese Leidenschaft ohne Hintergedanken, nur für den Augenblick … Jan, das sind göttliche Momente!“

Göttliche Momente – wie sie das sagte! Darin schwang so viel Wahrheit mit, dass es ihm für Sekunden die Sprache verschlug. Er wusste genau, was sie meinte, und er wusste auch, wie selten diese Erlebnisse waren. Sollte Meike ihren Griechen also genießen!

„Jan?“

Für einen Moment war er in Gedanken gewesen; plötzlich saß sie neben ihm auf der Kante des Liegestuhls.

„Ja?“

„Findest du Frauen schwierig?“

„Nicht wenn ich sie für ihre Dienste bezahle.“

Meike verzog das Gesicht.

„Nicht einen Moment lang kannst du ernst sein“, kritisierte sie. „Warum suchst du dir nicht ein nettes Mädchen? Es gibt doch wirklich einige hier. Dimitris Schwester zum Beispiel ist ziemlich hübsch…“

„Meike, ich hab keine Lust, irgendeinem Küken beizubringen, wie blasen geht!“

„Ach, du bist doof! Das ist doch nichts, was du beibringen musst.“

„Du kannst das von Natur aus, ja?“

„Jan, du reduzierst Frauen auf eine Funktion! Das ist frauenfeindlich!“

„Okay, ich bin ab sofort schwul. Lässt dein Dimitri sich gut ficken?“

„Eher fickt er dich“, lachte Meike, „und zwar bis du nicht mehr laufen kannst.“

Dimitri war ein Junge aus dem Dorf, gerade zwanzig Jahre alt. Meike hatte eine Vorliebe für jugendliche, kantige Griechen. Seit Jan hier mit ihr zusammenlebte, hatte sie ein paar von ihnen ausprobiert. Mit Dimitri war sie nun schon monatelang zusammen.

„Jan, ganz ehrlich: Du brauchst eine Frau!“

„Ich habe eine Frau.“

Sie lachte trocken auf und erwiderte:

„Wir vögeln nicht miteinander.“

„Also führen wir eine intakte Ehe.“

„Jan, wir sind Geschwister.“

„Ändert das was?“

„Eine Frau würde alles ändern.“

„Wie spießig du sein kannst!“

Zu diesen Worten stand er auf und sprang in das erfrischende Wasser des Pools. Meike folgte ihm.

„Nenn es wie du willst“, gab sie zurück, als er wieder aufgetaucht war.

„Lassen wir das jetzt“, sagte er und unterstrich seinen Wunsch, nicht mehr über dieses Thema zu reden, indem er ein ernstes Gesicht machte.

Im Grunde hatte Meike natürlich recht, aber Jan konnte nicht so einfach aus seiner Haut. Er war jetzt 38 Jahre alt, und von all diesen Jahren hatte er zusammengenommen höchstens drei Jahre in Beziehungen mit Frauen verbracht. Dabei interessierten ihn Frauen durchaus, und Frauen interessierten sich auch für ihn. Er sah blendend aus, hatte ein einnehmendes Lachen und konnte in Gesellschaft ausgesprochen witzig und charmant sein. Zudem war er sportlich, vielseitig interessiert, gebildet – lauter Vorzüge, die ihn attraktiv machten. Aber er hatte auch dieses spezielle Talent, die Leute vor den Kopf zu stoßen.

Das Problem war einfach, dass ihm die Richtige noch nicht begegnet war, und langsam begann er sich damit abzufinden, dass sie ihm vielleicht nie begegnen würde. Die Richtige – das musste eine Frau sein, die ihn so nahm, wie er war. Das war nicht immer ganz einfach. Wenn er beispielsweise ein Projekt verfolgte, richtete sich all seine Energie einzig und allein auf dieses Projekt, und der Rest der Welt wurde ihm völlig gleichgültig. Die meisten Menschen interpretierten das als Desinteresse und reagierten beleidigt, aber wenn sie ihn bei nächster Gelegenheit auf einer Party erlebten, waren sie wiederum völlig von ihm eingenommen. Jetzt hatte er sein Labor und plante einen Ausbau, und das bedeutete nichts Gutes für die Suche nach einer Frau, denn diese Frau müsste damit leben können, dass er ihr seine Bakterienkulturen und die abgeschiedene, stille Arbeit im Labor oft vorziehen würde.

Trotzdem liebte er Sex. Er konnte zwar wochenlang ohne Sex auskommen, wenn er in der heißen Phase eines Projektes und völlig absorbiert war, aber er holte alles wieder nach. Manchmal fuhr er nach Athen und holte sich, was er brauchte, mit Frauen, die er in Bars abschleppte. Für eine Weile war er auch Mitglied in einem Club gewesen, bis er das affektierte und angeberische Gehabe mancher Mitglieder nicht mehr ertrug. Und dann war da noch Sophia, bei der er Stammkunde war. Das war zwar nicht ganz billig, aber es war trotzdem die optimale Lösung. Jan ging schon seit fünf Jahren zu ihr, meist jede Woche zu einem Termin, der ihm zur Gewohnheit geworden war und den sie für ihn freihielt.

Mit der Zeit hatte sich zwischen ihnen eine Art Vertrauensverhältnis gebildet. Sophia wusste Dinge von Jan, die nicht einmal Meike wusste. Umgekehrt war es nicht anders. Das Schöne an dieser Beziehung war, dass sie endete, sobald Jan zahlte und ging. Meist war er dann in allerbester Laune, denn in den Stunden zuvor hatte er sich in der Regel nach Kräften ausgetobt.

Auch jetzt musste er an das unscheinbare Haus in einem Winkel am Hafen von Volos denken und an das, was dort passieren würde.

„Ich bin schon still”, sagte Meike. „Was für ein herrlicher Abend. Es geht uns gut hier, findest du nicht auch? Vielleicht sogar zu gut, oder?“

„Du hast manchmal komische Gedanken.“

„Das Wetter, das Land, ein gutes Leben mit einer Arbeit, die sinnvoll und befriedigend ist, keinerlei Sorgen … Da draußen gibt es so viele Menschen mit Sorgen!“

„Ja, auch hier in Griechenland.“

„Man kann hier leben, ohne hysterisch zu werden, weil kein Islamist auf die Idee käme, in Griechenland einen Anschlag zu verüben.“

„Weil Griechenland einfach nicht wichtig genug ist.“

„Genau das meine ich. Es ist hier ein bisschen wie… wie auf einer herrlichen Insel.“

Jan musste lachen, weil sie sich in eine leicht naive Begeisterung hineingeredet hatte, in der sie einfach bezaubernd war, aber im Grunde hatte sie auch in diesem Punkt wieder recht. Ohnehin hatte sie meistens recht. Zumal es mit dem Land inzwischen allmählich wieder aufwärts ging. Dafür waren nicht zuletzt kleine Unternehmen wie Jans Firma verantwortlich. Jan hatte in fünf Jahren zwanzig Arbeitsplätze geschaffen.

Doch plötzlich machte Meike ein nachdenkliches Gesicht, und sie fragte:

„Ob Mama und Papa das wohl vorhergesehen haben?“

„Dass es uns hier gutgehen würde?“

„Ja. Du weißt, sie haben viele kluge, weitsichtige Entscheidungen getroffen, die uns heute noch zugutekommen. Zum Beispiel dieses Haus ausgerechnet in dieser Weltgegend zu bauen …“

Jan verzog das Gesicht, denn er konnte sich an Zeiten erinnern, in denen er sich hier zu Tode gelangweilt hatte – die Zeiten vor seiner Firmengründung. Man war hier auf dem Pilion weit ab vom Schuss. Die nächste größere Stadt, Volos, hatte zwar inzwischen mit allen eingemeindeten Dörfern 150.000 Einwohner, aber der Rest der Gegend war von ländlichem Charakter, und auf dem Pilion wohnten überwiegend einfache und vielfach auch arme Leute, die nichts anderes kannten als dieses Leben auf dem Land. Jan hatte sich anfangs eingebildet, dass die Leute ihn schnitten. Immerhin war er von Geburt Deutscher, auch wenn er nur die ersten beiden Jahre seines Lebens in Deutschland zugebracht hatte, und die Deutschen hatten in Griechenland ein ambivalentes Image, nicht nur wegen der Verbrechen, die sie während des Zweiten Weltkriegs an Griechen verübt hatten. Auch die Euro-Politik der früheren Kanzlerin Merkel, die Griechenland praktisch die Souveränität genommen hatte, war unvergessen. Als Touristen waren die Deutschen dennoch willkommen, und wenn die einfachen Menschen, die hier auf dem Pilion lebten, sich mit einem akademischen Querkopf wie Jan anzufreunden vermochten, konnte es um das deutsch-griechische Verhältnis nicht allzu schlecht bestellt sein. In der Tat genoss Jan inzwischen einen ausgezeichneten Ruf in der Umgebung und hatte Freunde wie Stavros, die ihn als Freundschaftsdienst mit unvergleichlichen Köstlichkeiten versorgten.

Ja, er fühlte sich hier inzwischen wirklich wohl. Aber ob seine Eltern das geplant oder gar vorhergesehen hatten, als sie sich entschieden hatten, ihre Villa ausgerechnet hier hinzustellen, zweihundert Meter über Meereshöhe, mit diesem unverbaubaren Blick über den Golf von Pagasitikós hinüber auf die mythenbeladenen Berge Zentralgriechenlands, mitten zwischen Haine von uralten Olivenbäumen, direkt hinein in die Duftwolken der unzähligen Kräuter, die Jan nach einer Zeit des Durchhängens ins Leben zurückgebracht hatten?

Zweifellos waren sie kluge Menschen gewesen. Der Vater – ein kühl kalkulierender Wirtschaftsmagnat und ausgezeichneter Netzwerker mit besten Verbindungen in die europäische Politik. Die Mutter – eine hochintelligente Psychoanalytikerin mit einem ausgeprägten Sinn für Kunst und Ästhetik, aber auch für Gerechtigkeit. Alles hängt mit allem zusammen, das war ihr Credo – und es war die Essenz eines Lebens mit jener Gabe, die auch Jan besaß. Diese Zusammenhänge von Allem mit Allem waren für ihn tagtäglich fühlbar. Was dem Vater an Empathie fehlte, hatte die Mutter in die Familie eingebracht.

Man hatte ihre Leichen nie gefunden. Zur selben Zeit, im selben Flugzeug, Hand in Hand, wie Jan glaubte, waren sie einfach vom Himmel gefallen, zusammen mit zweihundertsiebenundzwanzig anderen Menschen. Über dem Atlantik. Die Trümmer des Flugzeugs lagen noch immer in dreitausend Metern Tiefe auf dem Meeresgrund. Nur den Flugschreiber hatte man geborgen. Er belegte, was die Welt schon geahnt hatte, als die Nachricht vom plötzlichen Verschwinden des Flugzeugs durch die Medien ging: Terroranschlag. Das Flugzeug war in der Luft explodiert und zerborsten, in zehntausend Metern Höhe. Die Menschen an Bord hatten nicht den Hauch einer Chance gehabt.

Zusammen mit anderen Hinterbliebenen hatten Jan und Meike sich damals dafür stark gemacht, die Trümmer des Flugzeugs zu bergen, um die Katastrophe zu rekonstruieren. Ihnen missfiel, wie schnell die Behörden über den Absturz hinweggingen und zu „business as usual“ zurückkehrten. Der Verlust ihrer Eltern hatte Jan und Meike schwer zugesetzt. Doch ihre Fragen, das fanden sie zumindest, müssten eigentlich auch die Behörden interessieren – zum Beispiel diese: Wie war es dem Attentäter oder den Attentätern angesichts der strengen Sicherheitsmaßnahmen am Startflughafen Frankfurt gelungen, eine Menge Sprengstoff an Bord zu bringen, die ausreichte, das Flugzeug in der Mitte auseinanderzureißen? Diese Frage wurde nie geklärt. Folglich konnten die Sicherheitsmaßnahmen nicht weiterentwickelt werden. Millionen von Fluggästen waren seitdem von Frankfurt gestartet, ohne dass die Sicherheitsmaßnahmen überarbeitet worden wären – und ohne dass es zu einem weiteren solchen Anschlag gekommen wäre.

Für eine Weile hatten Jan und Meike – er damals noch in den USA lebend, sie in Deutschland – mit dem Gedanken gespielt, die Bergung der Wrackteile auf eigene Rechnung zu besorgen. Ihre Eltern hatten ihnen ein Konsortium prosperierender Firmen hinterlassen, die international einen ausgezeichneten Ruf genossen und von Ingenieurs-Dienstleistungen bis zum Maschinenbau vielseitig und krisensicher aufgestellt waren. Einige dieser Firmen waren regelrechte Filet-Stückchen und hätten zu ausreichend viel Geld gemacht werden können, um ein solches Mammutunternehmen wie die Bergung der Flugzeugteile zu finanzieren. Doch dann hatte ihr Onkel, Vaters Bruder, der Vorstandsvorsitzender der zentralen Holding war, ihnen ins Gewissen geredet und ihnen klargemacht, dass sie dabei waren, sich in eine fixe Idee zu verrennen, weil sie den Verlust nicht verkrafteten.

Sie verkrafteten ihn durchaus, und er brachte sie enger zusammen als je zuvor, obwohl sie Tausende von Kilometern getrennt waren. Es war der Gedanke an ihre Mutter und ihren Gerechtigkeitssinn, der sie antrieb, die Katastrophe erforschen zu wollen. Denn ihre Mutter, das glaubten sie beide, hätte sich mit dem unzureichenden Ergebnis der Flugschreiberauswertung nicht zufriedengegeben.

„Du meinst, sie haben vorhergesehen, dass wir einmal hier leben würden?“, fragte Jan. „Du überhöhst sie. Sie waren klug und weitsichtig, aber sie waren keine Hellseher. Sie waren Menschen wie wir beide.“

„Ich rede nicht von Hellseherei“, antwortete Meike neben ihm im Pool. „Du weißt genau, dass sie außergewöhnlich waren. Mama hatte dieselbe Gabe wie du. Das ist etwas Besonderes!“

„Ach, Meike!“, seufzte Jan. Er wurde immer traurig, wenn sie über ihre Eltern redeten, auch wenn die Katastrophe zehn Jahre zurücklag. „Lass uns lieber im Hier und Jetzt leben.“

Wie auf Bestellung näherte sich Motorengeräusch, Reifen knirschten auf der Kiesauffahrt vor der Villa, eine Hupe ertönte.

„Das ist Dimitri“, sagte Meike, stemmte sich hoch auf den Beckenrand und lief, nackt und nass wie sie war, ums Haus herum zur Auffahrt. Kurz darauf kam sie fröhlich mit dem Griechen im Arm zurück.

Jan musste grinsen, weil Dimitri befangen wirkte. Der junge Mann war diese Freizügigkeit nicht gewöhnt, obwohl er nun schon ein Weilchen mit Meike zusammen war; doch vorher war er noch viel länger ein Junge vom Pilion gewesen, und das streifte man nicht einfach so ab.

Dimitri wirkte fünf Jahre älter, als er tatsächlich war, und was Jan an ihm besonders gefiel: Er liebte es, damit zu kokettieren, dass er wie die Unschuld vom Lande aussehen konnte. Jan mochte Dimitri, und er winkte ihm zur Begrüßung zu, während Meike wieder in den Pool sprang.

„Komm auch rein“, rief sie ihm zu, als sie wieder aufgetaucht war.

„Ich gucke weg“, versprach Jan und hielt sich demonstrativ die Augen zu.

„Kannst wieder aufmachen“, sagte Dimitri, nachdem er sich ins Wasser hatte gleiten lassen.

Doch dann hatte der junge Mann ohnehin nur noch Augen und Aufmerksamkeit für Meike, und das führte dazu, dass Meike nur noch Augen und Aufmerksamkeit für Dimitri hatte, und das wiederum hatte zur Folge, dass Jan sich zunehmend fehl am Platze fühlte. Er ließ die beiden im Pool zurück.

***

Jan hatte es nicht eilig. Ohnehin liebte er die schnelle Fahrt nicht, obwohl er ein schnelles Auto fuhr. Einer der schäbigen Allrad-Pritschenwagen, die in Griechenland üblich waren, hätte ihm völlig genügt. Doch Leute wie er, von denen man in der Gegend redete, nicht nur weil sie Firmen gründeten, solche Leute fuhren keine Pritschenwagen, wie sie hier die Bauern hatten. Andererseits genoss er die warme Frühsommernacht während der Fahrt in seinem Bentley Continental bei offenen Fenstern.

Gemächlich kurvte er die nächtliche Landstraße hinab Richtung Volos. Er freute sich auf Sophia und die Kunststücke, die sie mit Lippen und Zunge vollbrachte, und auf ihren perfekten Körper, den er haben wollte. Durch die engen Straßen der Innenstadt von Volos steuerte er seinen Wagen bis zu dem Haus am Hafen, und als ihn das sanfte Dämmerlicht des Lokals umfing, war es fast wie eine Heimkehr.

Jan ließ sich einen Metaxa geben und zog sich in eine der Sitznischen zurück, um auf Sophia zu warten. Von hier aus ließ sich das Lokal entspannt überblicken. Es war nicht viel los. Zwei ältere Männer saßen in Gesellschaft von Frauen des Hauses an der Theke und tranken, und in der Nische nebenan ließ sich ein Mann von vielleicht dreißig Jahren von zwei Frauen anheizen. Jan hatte ihn noch nie hier gesehen, und er wirkte auch nicht wie ein typischer Besucher.

Irgendwie machte dieser Typ Jan misstrauisch. Er sah nicht schlecht aus, nur dieses auffällige Muttermal am linken Nasenflügel hätte Jan an seiner Stelle entfernen lassen. Der Typ hätte vermutlich in jeder Bar in Volos eine Frau abschleppen können. Was suchte so einer hier? Doch dann zuckte Jan mit den Schultern. Für ihn selbst galt das auch. Er war hier, weil er genau wusste, was er wollte, und weil es hier eine Frau gab, die seine Bedürfnisse befriedigen konnte, eine Frau, die er mochte. Vielleicht war der Kerl einfach genauso drauf wie Jan, vielleicht war er deswegen hier, weil er nicht auf eine Zufallsbekanntschaft in irgendeiner Bar hoffen wollte.

Die beiden Frauen hingegen kannte Jan, doch mit Sophia konnte keine von ihnen konkurrieren.

Jan lehnte sich zurück und tat so, als beachte er die drei nicht, aber in Wirklichkeit verfolgte er, was sie taten. Dazu brauchte er nicht hinzusehen. Er spürte das Tasten des Mannes entlang der Schenkel der beiden Frauen, ja, fast war es, als sei er selbst diese Hand. Und er spürte, wie die Hände der Frauen über die Härte in seiner Anzughose hinwegglitten. Er konnte den Vorgang räumlich mit einer Intensität wahrnehmen, die jedes Zuschauen weit überstieg. Manchmal konnte er sogar Gegenstände bewegen, ohne sie zu berühren, etwa das Whiskyglas, das auf dem Nachbartisch vor dem jungen Mann stand. Er spürte es rundherum, es war in seinem Kopf, er umfasste es im Geist und stellte sich vor, wie er es um einen Zentimeter verrückte, dann um einen weiteren …

Solche Scherze machten ihm Spaß. Leider bemerkte der Mann nichts davon, dass sein Whiskyglas sich bewegte. Er war voll und ganz mit den beiden Frauen beschäftigt.

Da trat Sophia durch die Tür, die zum Treppenhaus und nach oben führte. An der Theke ließ sie sich Sekt einschenken, auf Jans Kosten natürlich. Das war so verabredet. Dann kam sie auf ihn zu. Sie lächelte nicht. Sie sah umwerfend aus in ihrem hautengen schwarzen Einteiler – heute strenger als sonst mit einem strammen Pferdeschwanz, zu dem sie ihre Haare zusammengefasst hatte, so dass ihre griechischen Gesichtszüge stark zur Geltung kamen.

Sie probiert etwas mit mir, oder?

„Wie geht es dir?“, fragte sie.

„Gut, danke.“

„Du sollst mich nicht anlügen. Ich sehe genau, dass du etwas auf dem Herzen hast.“

„Warum fragst du dann?“

„Ist der Junge heute etwa aufsässig?“, gab sie streng zurück. „Das sollten wir ihm vielleicht austreiben!“

Mit ausgestrecktem Arm deutete sie auf die Tür zum Treppenhaus. Jan gehorchte umgehend.

***

Obwohl es abgekühlt hatte, fuhr Jan mit offenen Fenstern zurück. Er war bester Stimmung, der Abend hatte seine Erwartungen voll erfüllt – er wusste schon, warum er zu Sophia ging und zu keiner anderen. Manchmal kam es ihm so vor, als ob sie eine Antenne für ihn hatte.

Sanft ließ er den Bentley die Auffahrt vor der Villa hinaufgleiten und schaltete Motor und Licht aus, noch während der Wagen rollte. Er wollte den Kies knirschen hören.

Im Obergeschoss des Hauses brannte noch Licht. Das war ungewöhnlich. Es war halb zwei Uhr nachts. Normalerweise hatten Meike und Dimitri um diese Uhrzeit genug miteinander gespielt und schliefen erschöpft.

Das Haus lag in tiefer Stille, als er eintrat. Jan hielt inne. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Etwas stimmte nicht. Er spürte, aber er fand nichts, was sein Unbehagen erklärt oder beruhigt hätte.

Doch es war absolut nicht Meikes Art, so spät noch wegzugehen und das Licht brennen zu lassen.

„Meike?“

Keine Antwort.

Unten, im Wohnbereich, war alles normal, alles dunkel, doch das Obergeschoss war hell erleuchtet, und die Tür zu Meikes Schlafzimmer stand weit offen. Nicht der geringste Laut! Jan ging nach oben und rief währenddessen noch einmal Meikes Namen. Dann trat er ein. Quer über das Fußende des zerwühlten Bettes lag ein nackter, regloser Körper, das Gesicht nach unten, der rechte Arm hinabhängend, ein schlanker Mann mit einer Reihe von Einschusslöchern im Rücken, das Bettlaken und der Fußboden rot von Blut.

Dimitri!

Jan keuchte auf und stolperte vor Schreck rückwärts aus dem Zimmer.

Waffe!

Er stürzte in sein Zimmer, riss die Schubladen seines Nachttisches auf, weil er sich in der Panik nicht gleich erinnerte, welche die richtige war, und nahm die Pistole. Hektisch prüfte er, ob sie geladen war, und lief zurück in Meikes Zimmer. Dabei lauschte er und spürte, doch wer auch immer dies getan hatte – er war nicht mehr hier.

Dimitri war zweifelsfrei tot. Um das festzustellen, brauchte Jan ihn nicht umzudrehen. Er spürte Dimitris Körper in seinem Kopf, spürte auch die offenen Augen in dem herabhängenden Kopf und drängte jeden Gedanken an ihren Ausdruck beiseite. Die Reglosigkeit des Körpers war erschreckend, sie glich einem Stein. Die Leiche lag wohl schon eine ganze Weile so; alles Blut um sie her war in den Tüchern und Teppichen versickert, das Bett war kalt. Neben dem Kopfende des Bettes fand Jan ein benutztes Kondom. Meike hatte die Angewohnheit, Kondome nach dem Verkehr zuzuknoten, damit das Sperma nicht herauslief. Dann fand er ein zweites Kondom und ein drittes, alle benutzt.

Aber wo ist Meike?

Fort! Entführt? Oder war sie noch im Haus? Hatte sie sich vielleicht verstecken können?

Jan riss alle Schränke und Türen auf – hier, dann in seinem eigenen Zimmer, er stürzte die Treppe hinab, rannte brüllend durchs Haus, schaltete überall das Licht ein, auch im Keller, im Garten und auf der Terrasse. Meikes Auto stand in der Garage, der Pool lag still und unberührt, die Gebüsche des Gartens ruhten. Wer auch immer hier eingebrochen war, er hatte es nicht auf die Wertgegenstände im Haus abgesehen.

Jan ließ sich im Wohnzimmer auf die Couch sinken und saß eine Weile wie gelähmt.

Meike ist weg.

Wer macht denn so was?

Sie werden Geld wollen.

Er stand auf und wollte zur Bar gehen. Auf dem Weg dorthin fiel ihm das Blinken des Anrufbeantworters auf. Das Gerät hatte eine Mitteilung aufgezeichnet. Zeitpunkt der Mitteilung: Ein Uhr. Vor etwa einer halben Stunde.

Völlig benommen drückte er auf die Wiedergabetaste, ohne den Hörer abzunehmen.

„Sie wissen, weshalb wir anrufen“, sagte eine Stimme in gestelztem Oxford-Englisch, jedoch mit unüberhörbarem arabischem Akzent. „Wir haben Ihre kleine Schwester. Wir werden ihr kein Leid zufügen, aber dafür erwarten wir eine Gegenleistung von Ihnen.“

Die Worte kamen im Befehlston.

„Sie fliegen nach Ägypten, ins Fayyum, und zwar sofort. Bei El-Shawashna unterhält die UNO ein Projekt zur Entsalzung der Böden. Nehmen Sie Kontakt mit dem Mitarbeiter Rafik auf. Sie erkennen ihn an einer kleinen, hellen Narbe auf der linken Wange. Er gehört zu unserer Gruppe, von der Sie vielleicht schon einmal gehört haben: Gamāʿa al-Islāmiyya. Er wird Sie weiterleiten. Die Polizei lassen Sie dabei selbstverständlich aus dem Spiel. Ich warne Sie, wir spaßen nicht! Wir brauchen nur eine einzige Kugel, um Ihrer Schwester ein Loch in den Kopf zu pusten, und Kugeln haben wir wirklich genug.“

***

2. Kapitel

Ausgeliefert

5. Juni 2024, 2 Uhr

Kala Nera, Griechenland

Fassungslos starrte Jan das Telefon an, eines jener guten alten Festnetz-Telefone, die vom Fortschritt eigentlich überholt waren.

Wer kennt diese Nummer?

Deswegen war Jan das Blinken des Anrufbeantworters überhaupt nur aufgefallen: Das Gerät, obwohl erst wenige Jahre alt, stand die meiste Zeit ungenutzt und unauffällig an seinem Platz auf dem Sideboard im Wohnzimmer. Es kam nur bei den seltenen Gelegenheiten zum Einsatz, wenn ältere Verwandte anriefen, etwa Tante Becky aus Denver oder Tante Bärbel aus Hamburg. Die alten Damen bestanden darauf, internationale Gespräche nur über das Festnetz zu führen; so waren sie es gewohnt. Außerdem glaubten sie unerschütterlich daran, dass Handys eine starke magnetische Strahlung emittierten, die Hirntumore erzeugen konnte.

Wie kommen die Terroristen an diese Nummer?

Die Frage lähmte Jan förmlich. Sonst die behäbigen Gespräche, die nicht enden wollten, weil der Tante immer noch etwas einfiel, was Jan bestimmt noch nicht gehört hatte aus dem großen Familienkreis der Metzners. Und jetzt die knappe, an Klarheit nicht zu überbietende Nachricht eines Fremden, der keinen guten Tag wünschte, nicht nach dem Wohlbefinden fragte und auch nicht sagte, wie er hieß, sondern mit arabischem Akzent klare Befehle erteilte. Jan sollte nach Ägypten fliegen – und dann? Hatten sie Meike entführt, um ihn dazu zwingen zu können, nach Ägypten zu fliegen? Das ergab keinen Sinn. Er hatte mit Ägypten nichts zu tun. Keine Bekanntschaften, keine Geschäftsbeziehungen – nur dieser fürchterliche Familienurlaub mit vielen alten, langweiligen Tempeln, die er sich als Zehnjähriger hatte ansehen müssen. Das Land hatte einen derart nachhaltigen Eindruck auf ihn hinterlassen, dass er nie wieder hingeflogen war. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte er selbst in Cincinnati keinen ägyptischen Kommilitonen in seinem großen Bekanntenkreis gehabt. Mit Ägypten verband ihn rein gar nichts. Trotzdem würde er hinfliegen, denn die Gamāʿa al-Islāmiyya wollte es so.

Der Name war in den vergangenen Monaten in den Medien präsent gewesen, aber Jan hatte sich kaum dafür interessiert. Es handelte sich um eine Islamistengruppe aus Mittel-Ägypten, die vor rund einem halben Jahr eines der letzten Nil-Kreuzfahrtschiffe, mit denen Ägypten den Anschein von touristischer Normalität aufrechtzuerhalten versuchte, erst in ihre Gewalt gebracht und dann gesprengt hatten, mit 250 überwiegend westeuropäischen Touristen und sich selbst an Bord. Damit hatten sie den Startschuss zur Konterrevolution gegeben. Heute befand sich Ägypten unter der Kontrolle der von salafistischen Hetzern unterwanderten Muslimbrüder.

Und solche Leute hatten Meike in ihrer Gewalt?

Aber wieso Meike? Wieso nicht gleich mich?

Stocksteif stand Jan vor dem Telefon und spürte. Es lag eine eigentümliche Spannung in der Luft, schwer erklärlich – dicht und dunkel. Alle Fröhlichkeit, alles Licht schien aus dem Haus gewichen. Ein Gefühl von Bedrohung erfasste Jan. Es war nicht greifbar, aber es ging von dem Zimmer im Obergeschoss aus, wo der Tote lag. Das Böse, das dort geschehen war, schnürte Jan die Luft ab, und er hatte Angst, noch einmal dort nachzusehen, aber er wollte wissen, was geschehen war – und wie es geschehen war.

Wie sind sie hereingekommen?

Er stand mit dem Rücken zur Haustür, während seine geistigen Fühler durch den Eingangsbereich der Villa hinter ihm streiften. Die großzügige Halle war mit teuren Terrakotta-Platten gefliest, die Maria, ihre Putzfrau, erst gestern blitzeblank gewischt hatte. Außer einem kleinen Kiesel konnte Jan nichts spüren, was dort nicht hingehörte. Diesen Kiesel hatte er vermutlich selbst im Profil eines seiner Schuhe von der Auffahrt hereingeschleppt.

Doch am Fuß der Treppe, die zum Obergeschoss führte, lag etwas, was dort nicht hingehörte. Es war klein, nur millimetergroß, aber es konnte Jans Sinnen nicht entgehen. Allerdings konnte Jan nicht spüren, worum es sich handelte, es hatte keine klare, feste Form. Er tippte auf eine Krume Erde – und damit lag er vollkommen richtig, wie er feststellte, als er hinging und sich das unauffällige Bröckchen aus der Nähe ansah.

Sie sind durch den Garten gekommen und haben den Hintereingang genommen.

Jetzt, da er wusste, worauf er achten musste, fiel es ihm leicht, die Spur der winzigen Erdkrumen zu verfolgen, die von der Treppe nach hinten führte, in die Küche. Er folgte ihr, ohne Licht zu machen, denn er wollte sich ganz auf die Eindrücke konzentrieren, die sein Spür-Sinn ihm bescherte. Licht hätte ihn nur abgelenkt.

Von der Küche gelangte er direkt auf die nach Osten weisende zweite Terrasse der Villa. Am Boden der Küche, der nicht weniger sauber gefeudelt war als der der Eingangshalle, spürte Jan deutlich mehr von den Erdbröckchen – und er fand die Terrassentür aufgebrochen vor. Die Entführer hatten ein kreisrundes Loch in die zweifach verglaste Tür geschnitten. Das Ganze schien schnell und lautlos vonstattengegangen zu sein – zumindest so lautlos, dass Dimitri und Meike von dem Einbruch nichts mitbekommen hatten bis zu dem Zeitpunkt, da die Verbrecher bei ihnen im Zimmer standen. Und die Alarmanlage war natürlich ausgeschaltet gewesen, es waren ja Menschen im Haus.

Jan hatte im Lauf des Abends einiges an Alkohol getrunken, doch jetzt kam er sich stocknüchtern vor, und seine Sinne waren sensibel wie kaum jemals zuvor, als er durch die Tür, die nur angelehnt war, hinaustrat auf die Terrasse.

Vermutlich hatten sie Meike auf diesem Weg aus dem Haus befördert. Meike schien sich nicht gewehrt zu haben. Zumindest konnte Jan keinerlei Spuren einer Gegenwehr finden, keine umgerissenen Stühle, keine Scherben am Boden vom Geschirr, das sie in ihrer Wut zu Boden gefegt hätte. Denn sie wäre wütend gewesen, davon war Jan überzeugt. Er kannte seine Schwester lange genug. Dass er keine Spuren einer Gegenwehr fand, bedeutete vermutlich, dass die Entführer sie betäubt hatten.

Was er aber fand, waren die Spuren der Entführer im Rasen. Jans besonderer Sinn spürte die Grashalme hinter der Terrasse, die niedergetreten waren und sich noch nicht wieder vollständig aufgerichtet hatten. Da musste jemand über den Rasen davongeeilt sein, der schwer war – vielleicht, weil er außer seinem eigenen Körpergewicht noch die 68 Kilo schwere Meike über den Rasen trug?

Noch nie hatte Jan seine Gabe derart bewusst eingesetzt. Sie war für ihn etwas Selbstverständliches und darum Beiläufiges. Er brauchte sie eigentlich nicht, aber er liebte es zu spüren, zum Beispiel wenn er mit einer Frau schlief. Ihre Erregung in seinem Kopf zu spüren steigerte sein Verlangen und konnte ihnen beiden unglaublich intensive Momente verschaffen. Jetzt aber setzte er seine Gabe gezielt ein, um die Spuren eines Verbrechens zu finden, und es war, als habe er nie etwas anderes gemacht.

Jan suchte sich einen der Abdrücke im Rasen aus, der vom Haus wegführte, und stellte seinen eigenen Fuß hinein. Er hatte Schuhgröße 46. Der Schuh, der den Abdruck verursacht hatte, war etwas größer. Das war die erste konkrete Information, die er über die Entführer erhielt: Der Mann, der die bewusstlose Meike aus dem Haus getragen hatte, trug Schuhe der Größe 48.

Nicht gerade typisch für Araber.

Aber nicht jeder Araber war Islamist, und nicht jeder Islamist war Araber.

Jan folgte den Abdrücken quer über den Rasen und durch die Hibiskus-Hecke, wo die Kidnapper diverse Zweige abgebrochen hatten, und nun kam er in den Bereich des Gartens, wo die beiden Männer – definitiv nur zwei! – durch das Malariakraut getrampelt waren. Daher die Erdkrumen im Haus. Die Spur wurde immer deutlicher. Er kam zum Zaun, der das Grundstück der Metzner-Villa umschloss und in den die Entführer ein großes Loch geschnitten hatten. Jan brauchte kein Licht, um das zu erkennen.

Jenseits davon war ein steiniger Acker. Jan konnte spüren, wo der Wagen der Entführer gestanden hatte, denn er hatte Kräuter und Getreide umgewalzt, aber viel mehr gaben die Abdrücke, die er spürte, nicht her. Breite Reifen, das war sein Eindruck. Vermutlich ein Geländewagen, vielleicht mit einem dritten Mann hinter dem Steuer. Um mehr zu erfahren, hätte der Boden weicher sein müssen, doch es hatte zuletzt vor zwei Wochen geregnet, und so konnte Jan nicht mehr erkennen, als dass der Wagen nach Süden davongefahren war. Dabei dürfte er in etwa zweihundert Metern Entfernung auf die asphaltierte Landstraße nach Afissos gestoßen sein, und damit verlor sich die Spur.

Haben sie nicht gesagt, dass ich mich sofort auf den Weg nach Ägypten machen soll?

Stattdessen stand er hier und versuchte, etwas über die Leute herauszufinden, die Meike entführt hatten, als wäre er ein professioneller Ermittler und emotional so gut wie unbeteiligt.

Aber ich muss wissen, was geschehen ist!

Jan ging ins Haus zurück, nahm eine große Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und trank sie in einem Zug halbleer. Dann schaltete er die Kaffeemaschine ein und ließ sie vorwärmen. Er brauchte Stärkung, denn bevor er nach Ägypten aufbrach, musste er noch einmal nach oben.

Es war zwei Uhr in der Nacht. Jan zog sein Handy hervor und rief Christos an, den Hausmeister der Firmengebäude unten in Volos. Er entschuldigte sich für die ungewöhnliche Störung zu derart früher Stunde und bat Christos, heraufzukommen zur Metzner-Villa und die Sache mit der Polizei zu übernehmen. Christos versprach, sich gleich auf den Weg zu machen, auch wenn er, wie er betonte, nicht verstand, worum es ging. Er würde etwa eine halbe Stunde brauchen. Diese Zeit würde Jan sich nehmen vor seinem „sofortigen“ Aufbruch nach Ägypten.

Er war inzwischen ruhiger geworden. Das Analysieren der Situation, das Sammeln von Fakten und Anhaltspunkten hatte dazu geführt, dass er sich wieder gefangen hatte. Es war und blieb ein grauenhaftes Gefühl, dass in seinem Haus ein solches Verbrechen hatte passieren können, und es war und blieb entsetzlich, dass Meike entführt worden war – doch die, die das getan hatten, waren nur Menschen. Sie mochten glauben, dass sie Jan nun im Griff hatten, aber sie hinterließen Spuren im Rasen und Dreck aus dem Garten auf der Treppe. Sie waren aus Fleisch und Blut, und das bedeutete, dass man sich gegen sie wehren konnte.

Gegen die Gamāʿa al-Islāmiyya?

Egal in welchen Terror er da hineingezogen werden sollte – er hatte nicht vor, den Anweisungen der Entführer bis ins Detail zu folgen. Er hatte seinen kühlen Kopf wiedererlangt. Der tote Grieche da oben im Schlafzimmer war keine Kleinigkeit. Selbstverständlich würde Jan die Polizei einschalten – nachher.

„Weißt du, was mich stört?“, murmelte er Richtung Telefon. „Dass du Oxford-Englisch sprichst. Mit Leuten wie dir bin ich noch nie klargekommen.“

Er trank einen Espresso, holte tief Luft und machte sich noch einmal auf den schweren Weg nach oben. Seine Sinne registrierten jedes feine Dreckbröckchen, das die Entführer auf der Treppe und oben auf dem Teppich hinterlassen hatten. Jan schloss die Augen, während er langsam zur Tür des Schlafzimmers ging, und versuchte, auf alles zu achten, was ungewöhnlich war. Schuhabdrücke fand er jedoch nicht; Teppichfasern richteten sich viel schneller wieder auf als niedergeknickte Grashalme.

Erst jetzt nahm Jan wahr, dass der Türrahmen in Höhe des Schlosses zerborsten war. Offenbar hatten die Einbrecher die Tür eingetreten. Mit brachialem Schwung musste sie aufgesprungen sein. Jan stellte sich vor, wie Meike und Dimitri im Zimmer nichtsahnend so miteinander beschäftigt gewesen waren, dass sie von der Außenwelt nichts mitbekamen. Als die Tür aufflog, musste Dimitri sich mit dem Rücken zur Tür befunden haben – ein klares, einfaches Ziel. Er hatte vermutlich keine Zeit gehabt zu reagieren, ehe die erste der Kugeln in seinen Körper einschlug.

War er sofort zusammengebrochen? Hatte er Meike unter sich begraben? Hatten die Entführer ihn beiseite gezerrt, um die entsetzte, schreiende Meike vom Bett zu ziehen und ihr die Betäubungsspritze zu geben?

Jan war jetzt nahe genug, um Dimitris nackten, toten Körper in allen Details spüren zu können. Selbst die feinen Salzkrusten von getrocknetem Schweiß nahm er wahr. Ja, sie hatten ihn von Meike heruntergewälzt, dessen war sich Jan sicher. Auch weil alle Einschusslöcher sich im Rücken befanden. Jan konnte sie spüren, die aufgerissene Haut, die Eintrittskanäle, das geronnene Blut, die zersplitterten Knochen – die Eindrücke, die sein Sinn ihm lieferte, fragten nicht danach, ob er solche Details vertrug. Sie zeigten ihm die ungefilterte Realität. Vermutlich war jeder einzelne Treffer tödlich gewesen. Trotzdem hatten die Einbrecher zehnmal, nein, zwölfmal geschossen, fast als wollten sie den Eindruck erwecken, wild drauflos geballert zu haben. Doch alle Einschusslöcher saßen in der Gegend des Herzens.

Profis.

Jan spürte die Schleifspuren im Bettlaken, wo Meike vom Bett herunter gezerrt worden war, er spürte auch wieder die drei Kondome, die rund um das Bett am Boden verteilt waren, sauber verknotet nach Meikes Art, und er folgerte, dass die beiden beim vierten Durchgang gewesen sein mussten, als die Einbrecher dem Vergnügen ein jähes Ende bereitet hatten. Das alles aber war eigentlich nicht wichtig, sondern wichtig war, was Jan möglicherweise übersah.

Irgendetwas stimmt nicht.

Er stand da im Schlafzimmer mit geschlossenen Augen, das Abbild des Zimmers im Kopf, und spürte: Etwas stimmte nicht. Das war seine klare Wahrnehmung. Doch er brauchte lange Sekunden, um darauf zu kommen, und als er es entdeckte, stieß er einen wütenden Schrei aus.

Es liegen keine Patronenhülsen herum!

Zwölf Schüsse hatten Dimitri durchbohrt und seinem jungen Leben ein Ende bereitet, aber die Patronenhülsen waren verschwunden.

Bei weiterhin geschlossenen Augen tastete Jan wütend alles ringsherum ab. Fast war es, als könne er Meike noch spüren. Ihr Geruch lag noch im Raum, aber auch der Geruch von Pulverqualm.

Jan hatte den Ablauf der Szene klar vor Augen. Er wusste, wie die Entführer hereingekommen waren, und er wusste, was bis zu Dimitris Tod geschehen war. Dann gab es eine Lücke, er wusste nicht, was bis zu dem Zeitpunkt geschehen war, da sie Meike abtransportiert hatten, aber er vermutete, dass sie diese Zeit unter anderem damit verbracht haben mussten, die Patronenhülsen einzusammeln.

Da ist etwas unter dem Bett …

Er spürte es, ohne sich bücken und nachsehen zu müssen. Trotzdem machte er vorsichtshalber mit dem Handy ein Foto davon und der Vollständigkeit halber einige weitere Fotos von dem Toten auf dem zerwühlten Bett.

Wozu auch immer das noch nützlich sein mag.

***

„Mein Güte, kyrios – was ist denn bloß los?“, fragte Christos, als Jan ihn an der Haustür empfing. Der kleine, dicke Mann schwitzte und roch stark nach Knoblauch wie immer.

Jan hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass seine griechischen Angestellten ihn „kyrios“ nannten. Für seine Ohren klang das unangemessen religiös, doch „kyrios“ bedeutete einfach nur „Herr“ auf Griechisch, und sie meinten es freundlich bis hochachtungsvoll.

„Entschuldigen Sie vielmals, dass ich Sie um diese Uhrzeit …“

„Gar kein Problem, gar kein Problem, aber was haben Sie gesagt von wegen Polizei?“

Jan machte Espresso, den sie auf der Terrasse tranken. Er hatte die Dinge nun sortiert. In der Eingangshalle stand seine gepackte Tasche für die Reise nach Ägypten.

„Meine Schwester ist entführt worden“, sagte er schließlich. „Was ich Ihnen jetzt sage, Christos, merken Sie sich bitte ganz genau, denn das ist es, was Sie der Polizei sagen sollen. In Ordnung?“

„Das riecht nach Ärger, kyrios. Muss das wirklich sein?“

„Ich fürchte, das muss es, denn oben im Schlafzimmer liegt Meikes Liebhaber und ist tot. Er hat zwölf Schusswunden im Rücken. Ich habe ein Alibi. Die Polizei soll Sophia in Volos im Hotel Toumafyllou fragen. Das reicht an Information, die Polizei wird damit etwas anfangen können. Die Entführer haben Spuren hinterlassen – in der Hibiskus-Hecke, auf dem benachbarten Acker und unter dem Bett meiner Schwester. Dort soll die Polizei nachsehen.“

„Unter dem Bett Ihrer Schwester?“

„Genau. Die Entführer haben außerdem eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Die soll die Polizei abhören, dann wird sie verstehen, warum ich nicht warten konnte.“

Er sah auf die Uhr. Es war viertel vor drei in der Nacht. Er ging zurück in die Küche, stellte seine Tasse ab und sagte:

„Daher muss ich jetzt los. Aber vorher rufe ich die Polizei an.“

Er wählte den Notruf, kühl und beherrscht. In diesen Sekunden machte sich die Polizei auf den Weg. In einer halben Stunde würden die ersten Beamten hier eintreffen. Es war weit von Volos hier herauf.

Jan ging in die Halle, nahm seine Tasche und sah, dass sein Hausmeister völlig überfordert wirkte. Der kleine Mann tat ihm fast leid.

„Aber wer soll denn jetzt die Firma führen?“, fragte Christos entsetzt.

„Frau Papadopoulos – aber nur bis ich zurückkehre.“

Was bald sein möge.

„Die Sekretärin?“

„Genau. Christos, was sollen Sie der Polizei sagen?“

„Dass sie unter dem Bett nachsehen soll.“

„Sehr gut. Sie machen das schon. Bis bald!“

Er schüttelte die Hand des Hausmeisters und verließ das Haus. Christos winkte ihm hinterher.

***

Als die Rücklichter von Jans Wagen jenseits der Auffahrt verschwunden waren, kehrte Christos ins Haus zurück und überlegte einen Moment. Konnte er irgendwelche Fehler machen? Ihm fiel nichts ein, bis auf die eine Angelegenheit. Die musste er bereinigen. Er ging hinauf ins Schlafzimmer, stöhnte entsetzt auf, als er Dimitris durchlöcherten Leichnam sah, und ließ sich dann ächzend auf die Knie sinken, um unter das Bett zu sehen.

Da lag eine Patronenhülse!

„Idioten“, murmelte er, während er seinen Arm nach der Hülse ausstreckte, doch der Arm war zu kurz. Auf Knien krabbelte er um die Ecke des Bettes herum und versuchte es von der Längsseite her. Als er sich wieder aufrichtete, die Patronenhülse in der Hand, schwitzte er noch stärker.

„Idioten“, murmelte er noch einmal und ließ die Patronenhülse in seine Hosentasche gleiten. Dann ging er wieder hinunter ins Erdgeschoss, um auf die Polizei zu warten.

***

Jan hatte Meikes Wagen genommen, einen Toyota-Hybrid. Seinen Bentley wollte er nicht tagelang am Flughafen stehen lassen. Der Toyota war schnell genug, um ihn bis zum Einsetzen des Berufsverkehrs zum Flughafen von Athen zu bringen.

Auf halber Strecke zwischen der Villa und Volos kamen ihm zwei Polizeiwagen entgegen, fünf Minuten später ein ziviler Wagen mit Blaulicht auf dem Dach.

Kriminalpolizei.

Die Griechen waren schneller geworden, und auch effizienter. Früher hätte Christos dort oben stundenlang auf die Polizei warten dürfen, doch die schwere Krise, in die Griechenland im Zuge des Euro-Zusammenbruchs gestürzt war, hatte vieles verändert. Die Griechen hatten ihre frühere Korruptokratie abgeschafft, in der Jobs im öffentlichen Dienst nach Parteien-Gusto vergeben worden waren. Dafür hatten sie einen hohen Preis in Form von großer Armut und menschlicher Not gezahlt. Inzwischen, so hieß es seit einer Weile immer wieder, gehe es aufwärts, aber Jan kannte haufenweise Leute, bei denen diese Entwicklung noch nicht angekommen war.

Als Jan durch Volos fuhr, dachte er an das Haus am Hafen und an Sophia. Er grüßte still und hoffte, sie bald wiederzusehen, aber bei diesem Gedanken empfand er keinerlei Erregung. Die Sorge um Meike würgte jeden Gedanken in dieser Richtung ab. Dafür empfand er etwas anderes: Wärme. Heimat. Sein Leben auf dem Pilion war gut eingerichtet, fand er.

Wann werde ich zurückkehren?

Jenseits der Stadtgrenze forderte sein Handy seine Aufmerksamkeit. Er hatte es auf den Beifahrersitz gelegt. Er kannte die angezeigte Nummer nicht. Vermutlich die Polizei. Jan steuerte den Wagen auf die Autobahn, stellte den Tempomat ein und rief zurück. Der Kommissar war über die Situation informiert und wollte Jan darauf hinweisen, dass er drauf und dran war, sich in eine unkontrollierbare Situation zu begeben, wenn er tatsächlich nach Ägypten flog.

„Es gibt andere Möglichkeiten“, sagte der Kommissar, doch als Jan fragte:

„Welche?“, da wusste der Mann keine überzeugende Antwort. Jan bremste ihn aus, indem er klarstellte:

„Ich werde genau das tun, was die Entführer von mir verlangen. Auf keinen Fall werde ich etwas unternehmen, was das Leben meiner Schwester gefährden könnte. Also werfen Sie mir bitte keine Knüppel zwischen die Beine, zum Beispiel indem Sie mir Ihre Athener Kollegen auf den Hals schicken.“

„Das habe ich nicht vor“, antwortete der Kommissar kühl, „aber wenn Sie glauben, dass Sie dieses Problem komplett auf eigene Faust lösen können, wird es ein böses Erwachen geben.“

„Danke für den Hinweis“, knurrte Jan zurück.

Er hatte nicht vor, die Sache komplett allein durchzustehen, aber um halb vier am Morgen konnte er Herbert noch nicht anrufen. Dazu würde es später am Flughafen noch Gelegenheit genug geben.

Sonderbarerweise hatte Jan das Gefühl, sich von Meike zu entfernen, als er nach Süden über die leere Autobahn Richtung Athen raste. Es war ein befremdlicher Gedanke, aber Meike befand sich wahrscheinlich noch auf dem Pilion. Doch Jan konnte ihr nur helfen, indem er sie zurückließ.

Oder machte er einen Fehler?

Wohin diese Leute sie wohl gebracht haben?

Nein, er tat das Richtige, das einzig Mögliche, und dennoch fühlte er sich hilflos und ausgeliefert. Islamisten verschiedener Gruppen hatten oft genug bewiesen, dass ihnen Menschenleben nichts bedeuteten. Schon mit ihren Glaubensbrüdern gingen sie bei Bedarf gnadenlos um und zündeten während des Gebets Bomben in Moscheen, wenn sie das für opportun hielten. Bei Ungläubigen verloren sie dann auch die letzten Hemmungen. Im Netz kursierten diverse Hinrichtungsvideos, die dokumentierten, wie diese Leute mit ihren Opfern umgingen – etwa indem sie ihnen vor laufender Kamera die Kehle durchschnitten. Es gab auch Vergewaltigungsvideos, hatte Jan sich berichten lassen, sogar Videos, die zeigten, wie Frauen starben, während sie vergewaltigt wurden. So etwas lief natürlich nicht auf YouTube. Jan ertrug es nicht, sich solche Filme anzusehen.

So was darf Meike niemals passieren. Es darf einfach nicht!

Jan war bereit, alles zu unternehmen, um ihr zu helfen, doch während sein Kopf sagte, dass er die Hilfe von Spezialisten suchen sollte, die Erfahrung mit Leuten wie diesen Entführern hatten, sagte ihm sein Bauchgefühl, dass er richtig handelte, wenn er ohne Verzögerung auf die Forderungen der Entführer einging.

Und wenn es nicht die Gamāʿa al-Islāmiyya war?

Die Art, wie der Tatort von Spuren gereinigt worden war – sprach das wirklich dafür, dass da skrupellose Fanatiker am Werk gewesen waren? Nicht eher dafür, dass Meike von Profis entführt worden war? Die Patronenhülse … Jan hatte ein dreidimensionales Abbild von ihr in seinem Kopf, es war für immer in seinen Erinnerungen gespeichert. Sie war vielleicht der Schlüssel zum vollen Verständnis dessen, was geschehen war. Jan kannte sich mit Waffen nicht gut genug aus, um der Hülse mehr Informationen zu entlocken. Sobald er Zeit dazu hatte, wollte er sich kundig machen.

Jan vertraute auf sein Bauchgefühl, aber er würde sich nicht blindlings ins Verderben stürzen. Er hatte vor, sich abzusichern. Gegen fünf Uhr wollte er Herbert nicht anrufen. So sehr eilte die Sache jedoch nicht, dass er den deutschen Botschafter in Athen schon jetzt aus dem Schlaf reißen musste.

So schnell wie nie zuvor war er in Athen. Noch vor Einsetzen des Berufsverkehrs, der regelmäßig mit dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung einherging, erreichte er den Flughafen und verschaffte sich einen Überblick über die Startzeiten. Der erste Linienflug nach Kairo startete um neun Uhr – zu spät für Jans Ungeduld. Außerdem müsste er dann die üblichen Kontrollen über sich ergehen lassen, und dabei würde mit Sicherheit die Pistole im Gepäck gefunden werden. Das konnte Probleme geben, auch wenn Jan das Gepäck aufgab und obwohl er einen Waffenschein besaß. Es war vermutlich besser, einen Privatjet zu chartern.

Ein junger Grieche namens Mikis, der für die Firma OUO arbeitete – das blödsinnige Kürzel stand für „On Your Own“ und gehörte einem exklusiven Privat-Flugservice, der weltweit Jets vermietete wie andere Firmen Limousinen –, legte sich für ihn ins Zeug und sagte Jan zu, um 6:30 Uhr abheben zu können. Er bugsierte Jan in die Lounge des Flugservices und übergab ihn hier einer hübschen Hostess, der nicht anzusehen war, ob sie die Nacht durchgearbeitet hatte oder eben erst aufgestanden war. Sie führte Jan zu einem bequemen Sessel, brachte ihm Kaffee und fragte:

„Wünschen Sie eine aktuelle Zeitung?“

Das war einer der Gründe, warum Jan gern flog, denn außer im Flugzeug fand er kaum noch Gelegenheit, eine echte gedruckte und zudem auch noch aktuelle Zeitung zu lesen. Die griechischen Zeitungen, die man auf dem Pilion bekam, waren ungenießbar, und ausländische Zeitungen waren dort kaum erhältlich.

Die Leute lasen heutzutage fast nur noch online. Aber während des Fluges mussten alle Handys und Tablets ab- oder auf Flugbetriebsmodus gestellt werden. Eine schöne Gelegenheit, endlich mal wieder eine gute alte deutsche Zeitung zu lesen! Die außerdem tatsächlich aktuell war. Sie trug das heutige Datum, obwohl es erst halb sechs war, kam also frisch aus der Druckerei. Sie musste in Athen gedruckt worden sein.

Halb sechs. Es war an der Zeit, Herbert anzurufen. Jan schoss alle Bedenken wegen der Nachtruhe des Botschafters in den Wind. Es war spät genug. Trotzdem holte er den alten Freund der Familie Metzner aus dem Schlaf.

„Jan?“, nuschelte Herbert Bergmann. „Du hast wirklich ein Talent …“

„Entschuldige, Bertie, aber ich war in Gefahr einzuschlafen, und ich wollte dich auf jeden Fall sprechen, bevor ich nach Kairo fliege.“

„Nach Kairo? Du?“ Die Stimme des Botschafters klang angemessen beunruhigt. Er kannte die Familiengeschichte. „Was ist geschehen?“

„Meike ist entführt worden. Die Entführer …“

„Moment, Jan!“, unterbrach der Botschafter. Jetzt klang er hellwach. „Jan, bist du in Athen?“

„Am Flughafen. Mein Jet startet in … in 50 Minuten.“

„Okay, das reicht nicht, um noch vorbeizukommen. Ich hätte das lieber gründlich mit dir besprochen. Unter vier Augen!“

Jan zögerte, weil Herbert Nachdruck auf die letzten drei Worte legte. Warum so geheimnisvoll? Was befürchtete der Botschafter?

„Also, was wollen die Entführer?“, fragte der Botschafter.

„Dass ich mich zu einem UNO-Projekt in der Fayyum-Oase begebe. Dort soll ich Kontakt zu einem Mann namens Rafik aufnehmen, der bei dem Projekt mitarbeitet. Der soll mich weiterleiten. Auffälliges Merkmal: Er hat eine helle Narbe im Gesicht.“

„Was ist das für ein Projekt?“

„Es geht um die versalzenen Böden. Mehr weiß ich nicht.“

„Also vermutlich ein Projekt der FAO, nicht der UNO direkt“, sagte der Botschafter. „Ich lasse dieses Projekt überprüfen. Das ist eine Kleinigkeit für die Kollegen vom BND. Aber, Jan … Du weißt, dass du dich in Gefahr begibst, nicht wahr?“

„Was bleibt mir anderes übrig?“

„Du fliegst also nach Kairo.“ Herbert schien zu überlegen.

„Ja. El-Fayyum hat keinen eigenen internationalen Flughafen. Kairo liegt am nächsten.“

„Ich werde dafür sorgen, dass jemand am Flughafen in Kairo ist, der ein Auge auf dich hat.“

„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, gab Jan zurück. „Die könnten was mitkriegen.“

„Keine Sorge, unsere Leute sind Profis.“

Jan schluckte eine skeptische Bemerkung hinunter.

„Also gut.“

„Komm heil zurück.“ Der Botschafter klang besorgt. „Lass dein Handy eingeschaltet, damit wir immer wissen, wo du bist. Und melde dich bitte, so oft es dir möglich ist.“

„Natürlich. Danke, Bertie!“

„Müssen wir irgendwas mit der Polizei regeln?“, fiel es dem Botschafter noch ein zu fragen.

Jan überlegte und entschied, dass er derzeit nicht in der Lage war, diese Frage zu beantworten.

„Die Polizei von Volos ist im Bilde“, sagte er schläfrig. Das hatte er völlig vergessen zu erwähnen. „Der Kommissar klang am Telefon recht vernünftig. Es hat ja einen Toten gegeben …“

„Einen Toten?“

Das hatte Jan in seiner Müdigkeit total vergessen. Er berichtete in aller Kürze.

„Arme Meike“, kommentierte der Botschafter entsetzt, und da nun alles besprochen war, fügte er hinzu: „Noch einmal, Jan: Pass auf dich auf. Sonst verlieren wir nicht nur eine Metzner-Waise, sondern gleich alle beide. Kein unnötiges Risiko, versprich mir das!“

Jan versprach es, obwohl er nicht wusste, was ein unnötiges Risiko von einem nötigen unterschied.

Nun war alles getan, was getan werden konnte. Jan war vorbereitet, so gut man sich auf ein solches Erlebnis vorbereiten konnte. Jetzt endlich durfte er seiner Müdigkeit nachgeben. Schon verschwammen ihm die Buchstaben der Zeitung vor Augen, als plötzlich Mikis von OUO vor ihm stand.

„Entschuldigen Sie, Sir, ich störe nur ungern – aber da wären zwei Herren, die eine Mitflug-Gelegenheit suchen, und ich soll Sie fragen, ob Sie zustimmen würden, dass der Jet nach Kairo zwei weitere Passagiere mitnimmt?“

„Oh …“, entfuhr es dem müden Jan. „Was sind das für Leute?“

„Geschäftsleute von der Firma Eccon.“

„Eccon? Das ist doch die Fracking-Firma, die in den USA gerade diesen Skandal wegen Verseuchung des Grundwassers …“

Jan stockte, als er sah, wie unbehaglich Mikis wirkte. Der junge Mann zuckte verunsichert mit den Schultern.

„Entschuldigen Sie, Sir, das weiß ich nicht. Es ist so, dass die beiden Herren dringend nach Kairo müssen, dass Sie aber den einzigen Jet gemietet haben, der uns zurzeit zur Verfügung steht. Der Preis für den Flug reduziert sich natürlich entsprechend, wenn er auf drei verteilt wird.“

Jan räusperte sich. An solche Kleinigkeiten wie den Preis hatte er noch keinen Gedanken verschwendet.

„Was ist denn eigentlich der Preis, wenn ich den Jet allein nehme?“

„45.000 US-Dollar, Herr Metzner.“

Jan zuckte zusammen und hoffte noch im selben Augenblick, dass Mikis es nicht bemerkte.

Jan hatte Geld genug, aber er hatte vorhin das Konto seiner Firma, der Metzner E.Π.E., belastet, auf dem es keineswegs von solchen großen Summen nur so wimmelte. Er musste Elena Papadopoulos, seiner Sekretärin, gleich eine SMS schreiben, dass sie ihre Vollmacht nutzen und sich das Geld von Jans Privatkonto holen sollte. Sonst war Metzner E.Π.E. über Nacht pleite.

„Entschuldigung, Sir“, sagte Mikis, der Jans Zögern richtig deutete, „es handelt sich um einen VIP-Jet mit Luxusausstattung für bis zu 12 Passagiere. Ich kann Ihnen zeitnah leider keine günstigere Flugmöglichkeit anbieten. Alle anderen Jets sind unterwegs. Der erste wird um elf Uhr zurückerwartet. Ich war davon ausgegangen, dass Sie sofort nach Kairo …“

„Die Summe reduziert sich dann auf 15.000 Dollar pro Kopf?“, unterbrach Jan den OUO-Angestellten. Der bejahte, und so stimmte Jan dem Deal zu in der Hoffnung, dass der Jet groß genug sein möge, um den beiden Fracking-Leuten aus dem Weg gehen zu können.

Dann versuchte Jan erneut, sich auf die Zeitung zu konzentrieren. Das Blatt, eines der führenden in Deutschland, berichtete auf der dritten Seite in einer großen Reportage über die Seuche im Swat-Tal, während die erste Seite gespickt war von krisenhaften Nachrichten über den beginnenden Rüstungswettlauf zwischen den USA und China. Und es gab einen größeren Artikel über Reaktionen aus den USA auf die Aktivitäten der Islamischen Allianz. Für seine Ankündigung, entschieden gegen den Terrorismus vorgehen zu wollen, hatte König Abdallah II. von Jordanien schon eine Menge Häme und Spott über sich ergehen lassen müssen. Jetzt kochten neue Äußerungen aus der ultrakonservativen Ecke hoch, denn in den USA war Wahlkampf. Präsidentin Lindsay Preston hatte ihre zweite Amtszeit so gut wie hinter sich. In fünf Monaten wurde ein neuer Präsident gewählt. Der Kandidat mit den besseren Aussichten war Joey Calderon von den Demokraten. Der Kandidat der Republikaner, Senator Chris Kerry, kritisierte den jordanischen König nun in scharfem Ton dafür, dass er ein wenig spät komme mit seinem Bestreben, gegen den Terrorismus vorzugehen, denn der Terrorismus sei bereits besiegt, al-Qaida sei längst tot, und zwar dank der Anstrengungen und Opfer der USA im Krieg gegen den Terror. Wo sei der jordanische König denn gewesen, als US-Soldaten in Afghanistan gestorben seien? Da hätte man seine Hilfe brauchen können. Lieber gründete er nun selbst eine Terror-Organisation. Man werde ja sehen, was der 11. Juni bringen werde, wenn der Countdown der Islamischen Allianz ablief. Das amerikanische Volk jedenfalls werde allen kommenden Bedrohungen ebenso kraftvoll widerstehen wie allen, die hinter ihm lägen.

Wahlkampfgetöse, dachte Jan.

Aber es stimmte, von al-Qaida war lange nichts mehr zu hören gewesen. Wer immer in letzter Zeit einen Führungsposten bei al-Qaida übernommen hatte, war mit Sicherheit ein halbes Jahr später tot, gestorben bei einer der unablässigen Drohnen-Attentaten des US-Militärs. Vielleicht war al-Qaida wirklich besiegt. Das wäre eine gute Nachricht. Jan mochte allerdings nicht glauben, dass Abdallahs Islamische Allianz die Nachfolge der al-Qaida angetreten haben sollte. Für ihn war das Tea Party-Gewäsch, für die Ohren der Ultrakonservativen in den USA bestimmt. Abdallah II. selbst behauptete, dem Extremismus das Wasser abgraben und endlich im Namen aller moderaten Muslime für einen gerechten Islam und gegen die fundamentalistischen Kräfte aufstehen zu wollen. Seine Worte galten etwas in der arabischen Welt, denn er konnte seine Abstammung bis auf den Propheten zurückführen. Vor einem Jahr noch hätte die Islamische Allianz beinahe den Friedensnobelpreis bekommen, doch dann waren die Anschläge losgegangen.

Die Zeitung meldete auch, dass der Vorsitzende des Rats des Islam, Großscheich Ahmed Mohammed Zadzouk, sich hoffnungsvoll über das Ergebnis der Schura geäußert habe. Zadzouk war Rektor der angesehenen al-Azhar-Universität in Kairo gewesen, bevor er vor einem halben Jahr vor den Fundamentalisten aus Ägypten nach Jordanien geflohen war, zusammen mit vielen anderen moderaten Geistlichen, die sich in Ägypten zunehmend bedroht gefühlt hatten. Denn dieses Mal hatten die Muslimbrüder durchgegriffen. Mit einer Härte, die ihnen niemand zugetraut hätte, hatten sie zumindest die ägyptische Hauptstadt von allen moderaten Stimmen „gesäubert“, und zwar nicht nur, indem sie Menschen vertrieben hatten. Es gab Berichte über entsetzliche Gräueltaten paramilitärischer Einheiten der Salafisten.

Zadzouks Wort galt etwas in der islamischen Welt. Die Zeitung zitierte ihn mit den Worten:

„Etwas wie unsere Ratsversammlung, diese Schura, hat es im Islam seit sehr, sehr langer Zeit nicht gegeben. Ihr Ergebnis wird epochal sein. Der Countdown läuft.“

Jan seufzte, als er das las. Wahrscheinlich hatte der Großscheich sich nur möglichst zeitgemäß in westlicher Manier ausdrücken und eine gute Botschaft spannend verpacken wollen. Dass der Westen beim Wort „Countdown“ wahrscheinlich sofort kollektiv an die ablaufende Zeit auf der Webseite der Islamischen Allianz dachte, mit der viele Menschen im Westen eine Bedrohung verbanden, hatte er wahrscheinlich einfach nicht bedacht. Die Islamische Allianz versuchte auch sofort, die Sache klarzustellen. Abdallah II. schickte einen Sprecher vor die Kameras, der zu erklären versuchte, dass die Worte des Großscheichs ein Versprechen bedeuteten, keine Drohung. Am 11. Juni werde etwas geschehen, was den Islam völlig verändern werde.

Rechts unten auf der ersten Seite der Zeitung fand Jan eine Meldung, die den Eindruck machte, als sei sie in letzter Minute in die Druckausgabe der Zeitung hineingestopft worden, denn sie wimmelte von Rechtschreibfehlern:

„Ajatollah Khahmani gestorben“.

Aber Jan war zu müde. Er registrierte die Nachricht gähnend, empfand eine gewisse Befriedigung angesichts des Todes dieses Hetzers, die aber sofort von seinem schlechtem Gewissen in die Schranken gewiesen wurde – denn wie konnte man den Tod eines Menschen begrüßen, auch wenn dieser Typ nachweislich alles dafür getan hatte zu polarisieren, aufzuschaukeln und anzustacheln?

Nun, in bestimmten Situationen kann man offenbar froh über den Tod eines Menschen sein.

Er hätte es niemals zugegeben.

Noch vierzig Minuten bis zum Start des Jets. Jan kämpfte gegen seine Müdigkeit an, indem er versuchte, sich in die Reportage auf Seite drei zu vertiefen, doch ihm fielen die Augen zu.

Mensch, Jan! Seuche! Unbekannter Erreger! Das ist doch dein Ding!

Er schreckte auf, als jemand ihn sanft an der Schulter rüttelte. Eine nachsichtige Stimme raunte in seinen Gehörgang:

„Sir, wir wären startbereit. Gern können Sie im Flugzeug weiterschlafen.“

Es war die hübsche Hostess, und Jan hatte soeben exakt die berühmten 15 Minuten geschlafen, die einen wieder richtig fit machen konnten. In Kürze wäre er in die Tiefschlafphase abgeglitten, den Ursumpf des Unterbewusstseins, doch jetzt war er schlagartig hellwach und fühlte sich erstaunlich ausgeschlafen.

„Natürlich“, sagte er und sprang auf.

Fünf Minuten später rollte der Privatjet auf die Startbahn und hob ab Richtung Kairo, der Hauptstadt der Islamischen Republik Ägypten – mit Jan an Bord und mit den beiden smarten Eccon-Burschen in ihren teuren Anzügen zwei Reihen hinter ihm. Jan kam sich fast wie ein Kollaborateur vor. Leute wie die hatte er immer gemieden.

Solche vom militärisch-industriellen Komplex.

***

Während des Starts schwiegen die beiden Männer, sahen aus den Fenstern und genossen den einzigartigen Ausblick, den ein Start vom Athener Flughafen bot. Sie starteten nach Südwesten. Rechterhand erstreckte sich das Athener Häusermeer, wie Jan sehen konnte, wenn er sich zur anderen Sitzreihe hinüberbeugte. Er saß links, und da der Jet rasch an Höhe gewann, hatte er auf seiner Seite bald den kompletten Überblick über das Südostende der Halbinsel Attika mit dem Kap Sounion. Als sie über das Meer kamen, legte sich der Jet in eine sanfte Linkskurve nach Süden, Richtung Heraklion und Kairo. Noch während des Steigflugs tauchte Kéa in der Ferne auf, die nächstgelegene Kykladeninsel. Und das alles im Licht der Morgensonne, die sich noch nicht weit über den Horizont erhoben hatte. Griechenland, die Wiege der Demokratie, blitzte sozusagen.

Vielleicht hatte Jan das schon zu oft gesehen. Heute jedenfalls riss ihn der Ausblick nicht hin. Er hatte völlig andere Sorgen. Wie sollte er die Flugzeit überstehen, in der er verdammt war, untätig herumzusitzen? Immerhin, er war auf dem Weg, er war dabei, der Forderung der Entführer nachzukommen. Nur dass die das erst erfahren würden, wenn er in El-Shawashna Kontakt zu Rafik aufnahm.

Also widmete er sich, um sich abzulenken, wieder der Zeitung. Die Eccon-Kerle hielten zum Glück den Mund.

Noch einmal in Ruhe die Meldung auf der Seite eins. Ajatollah Khahmani war in Teheran überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Es gab gewiss Menschen, deren Tod Jan näher gegangen wäre. Der Ajatollah hatte keinen Moment verstreichen lassen, ohne gegen das „zionistische Regime“ in Israel und seine Patronatsmacht USA, das „Imperium des Satans“, zu hetzen. Ein Hardliner aus dem Bilderbuch. Leider gab die Meldung ansonsten nicht viel her. Der Ajatollah war während eines öffentlichen Auftritts vor laufenden Kameras zusammengebrochen, nachdem er zuvor Anzeichen von Schwäche gezeigt hatte. Khamani war Ende sechzig, da konnte so was schon mal passieren. In den USA dürfte der Tod des erbitterten Feindes sicher mit tiefer Genugtuung registriert werden. Khamanis Tod vor laufenden Kameras war auf YouTube garantiert in zahlreichen Videos dokumentiert.

Doch weit mehr interessierte sich Jan für Neuigkeiten aus dem Swat-Tal. Die große Reportage auf Seite drei stammte von Gordon W. Maverick, einem berühmten amerikanischen Journalisten. Die Zeitung wies in einer Randnotiz darauf hin, dass der Text gleichzeitig auch in der New York Times, im Guardian und in Le Monde erschien, in Deutschland aber exklusiv nur in dieser Zeitung. Maverick war eigentlich ein Kriegsberichterstatter. Doch der Mann wusste, was er seiner Leserschaft schuldete. Schon im ersten Absatz wies er darauf hin, dass dieser Text eher dem Zufall zu verdanken war, da Maverick sich gerade in Pakistan aufgehalten hatte – und vor wenigen Tagen war er noch selbst im Swat-Tal gewesen.

„Es hätte mich treffen können, wenn ich nur zwei Tage länger dort gewesen wäre“, schrieb er. Das Entsetzliche daran erschloss sich erst später im Text.

Maverick war einer jener Journalisten, die immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren – und auch schnell genug wieder von dort verschwanden. Er hatte sich einen Namen gemacht, als er, kaum dreißig Jahre alt, „embedded“ mit den US-Truppen in den Irak einmarschiert war und trotzdem die journalistische Distanz gewahrt hatte. Seine Reportagen waren weltbekannt, und was er über die Seuche im Swat-Tal schrieb, riss Jan derart mit, dass er selbst das Geplapper seiner Mitreisenden überhörte, die mittlerweile angeregt miteinander diskutierten.

Dabei war Maverick der Wieder-Zugang zum Tal verwehrt worden. Er konnte also nicht aus eigenem Augenschein berichten. Das machte die Sache nur noch gespenstischer. Das Tal war weiträumig abgesperrt – eine logistische Leistung, die Jan den pakistanischen Sicherheitskräften nicht zugetraut hätte, denn es ging um ein riesiges Gebiet.

Pakistan war seit Jahrzehnten ein Wackelkandidat in der Weltpolitik, hin- und hergerissen zwischen dem westlich orientierten Einfluss seiner Eliten und des Militärs, dem stetig wachsenden Einfluss von Islamisten, deren Basis das Swat-Tal war und die alles verdammten, was nach Westen roch, und dem des mächtigen pakistanischen Geheimdiensts ISI, der in dem Ruch stand, von Islamisten unterwandert zu sein. Seit dreißig Jahren konnte die Atommacht Pakistan sich nicht entscheiden, welchen Weg sie gehen wollte. Zurzeit wurde die pakistanische Bevölkerung auf 235 Millionen Menschen geschätzt, und sie wuchs weiter stark an. Arbeitslosigkeit und Armut grassierten – der ideale Nährboden für fundamentalistisches Gedankengut. Seit zehn Jahren wurde der baldige Zusammenbruch Pakistans prognostiziert, ohne dass sich diese Vorhersagen bisher bewahrheitet hätten.

Im Fall des Swat-Tals agierte die ständig kriselnde Regierung erstaunlich klar und kompromisslos, so als habe sie Pläne aus der Schublade gezogen, wie in einem solchen Fall zu verfahren sei. Maverick beschrieb die brachiale Entschlossenheit der Sicherheitskräfte, mit der die Abschottung des Tals radikal durchgesetzt wurde, auch gegen Leute, die zu ihren Familien wollten. Sie durften nicht hinein – zu ihrer eigenen Sicherheit. Was aus dem Tal zu hören war, etwa über Telefonkontakte, klang apokalyptisch. Maverick schilderte, wie ein Konvoi von ABC-Spezialkräften des pakistanischen Militärs durchgelassen wurde und wie dann alle darauf warteten, dass die Spezialisten zurückkamen und vielleicht etwas Klarheit in die Angelegenheit brachten. Doch auf die Rückkehr wartete man zunächst vergeblich. Es gab Gerüchte über einen Helikopter, der Proben aus dem Swat-Tal in ein Hochsicherheitslabor gebracht habe, um das Virus – oder den Erreger, das Gift – identifizieren zu lassen. Es gab auch Gerüchte über Tausende Tote im Tal, Tausende mehr als am Vortag. Das Wasser sei verseucht, hieß es, und wer davon trinke, sterbe innerhalb kürzester Zeit. Offenbar waren die internen Berichte über das, was im Swat-Tal passierte, ziemlich drastisch. Maverick schrieb davon, dass Leute gesehen hätten, wie Menschen sich quasi von innen nach außen gestülpt hätten, indem sie die eigenen Eingeweide erbrachen.

Entsetzt eilten Jans Blicke über die Zeitungszeilen und bohrten sich schließlich in die Luft jenseits des Flugzeugfensters. Da ließ der Jet gerade Mykonos hinter sich, und vor ihnen lag Naxos. Da Jan auf der linken Seite des Jets saß, konnte er noch einen Zipfel von Mykonos sehen, indem er sich beinahe den Nacken verrenkte.

„Benötigen Sie etwas, Sir?“, fragte die Flugbegleiterin, die in ihrer OUO-Uniform wirklich hübsch anzusehen war. „Kann ich Ihnen etwas Gutes tun?“

Wie unanzüglich!

Jan ignorierte das Dekolleté der jungen Frau und ihre auffällig unauffällig geschminkten Lippen, denn er war soeben gedanklich aus dem Swat-Tal zurückgekehrt, und beim Anblick dieser Lippen konnte er momentan nur an eines denken: an Übertragungswege.

Wenn nur die Hälfte von dem zutraf, was Jan argwöhnte, dann stand die Welt möglicherweise vor einer Pandemie mit einem Erreger, dem die Menschheit noch nie begegnet war. Hoffentlich gelang es den Pakistanis, das Swat-Tal wirklich komplett abzuriegeln und hart zu bleiben. Ein einziger Infizierter, der nach draußen gelangte, konnte genügen, den Rest der Welt in tödliche Gefahr zu bringen. Jan hoffte, dass er sich täuschte und dass es sich doch „nur“ um eine Vergiftung handelte, wie er gestern noch geglaubt hatte. Aber aus Gründen, die sich ihm nicht völlig erschlossen, glaubte er heute eher an einen Erreger.

Gestern in meinem Haus in Kala Nera, Pilion. Und dann mit Meike im Pool.

Er seufzte tief.

„Ich weiß nicht“, sagte einer seiner Mitreisenden, „ich werde nicht schlau aus diesen Typen. Das sind alles Schlitzohren.“

„Natürlich sind sie das“, entgegnete der andere, „sie halten sich für sagenhaft schlau und gerissen. Ich finde sie ziemlich berechenbar.“

„Ich mache nicht gern Geschäfte mit Moslems“, hielt der erste dagegen, der jünger und schlanker war. „Ich finde das nicht richtig. Wir können nicht auf der einen Seite sagen, das sind alles Terroristen, und auf der anderen gehen wir hin und machen mehr oder weniger heimlich Geschäfte mit ihnen.“

„Aber deine Provision streichst du hinterher trotzdem gern ein, nicht wahr?“, versetzte der zweite – Wohlstandsbäuchlein, weniger Haare auf dem Kopf.

Die beiden saßen zwei Reihen hinter Jan, so dass er sie nicht sehen konnte, aber er spürte sie.

„Siehst du“, fuhr der zweite fort, „es geht eben ums Geschäft und nicht um die Religion. Erst das Fressen, dann die Moral. Außerdem sind die ganz genauso drauf wie wir. Sie verdammen zwar den großen Satan USA in ihren Freitagsreden, aber wenn die Mikrofone abgeschaltet sind, können sie uns nicht schnell genug die Hand geben. Geld regiert die Welt.“

Noch so eine Plattitüde, Bursche, und ich ...

„Weißt du noch, die Sache mit dem angeblichen Krankenhaus neulich?“, fragte der erste.

Auch Jan erinnerte sich. Der Vorfall hatte zu internationalen Verwicklungen geführt. US-Seestreitkräfte, die zur Kampfgruppe des im Golf von Aden patrouillierenden Flugzeugträgers USS George H. W. Bush gehörten, hatten mit zwei Marschflugkörpern ein Gebäude im Jemen zerstört. Es dauerte nicht lange, bis regionale Fernsehsender und kurz darauf Al-Dschasira Bilder von einem mehrstöckigen, in Qualm gehüllten Gebäude zeigten, vor dem Leichen und Leichenteile herumlagen. Teile des Gebäudes waren zusammengebrochen. Weinende Kinder und abwesend wirkende alte Menschen irrten durch die Trümmer. Der Sprecher behauptete, es handle sich um die Reste des Krankenhauses von Shaqra‘, einer jemenitischen Küstenstadt, das von zwei amerikanischen Marschflugkörpern fast völlig zerstört worden sei. Zum Beweis wurden verbogene Metallteile in die Kamera gehalten, auf denen deutlich die rauchgeschwärzte US-Flagge zu erkennen war. Der Sprecher behauptete, das seien die Überreste der Marschflugkörper.

Wenig später war ein Sprecher des Pentagon in Washington vor die Kameras getreten und hatte den Start zweier Cruise Missiles bestätigt. Sie hätten getan, wozu sie gebaut worden seien, und hätten einen Gebäudekomplex im Hinterland der südjemenitischen Metropole Aden zerstört, in dem die Islamisten mit Milzbrand-Bakterien experimentiert hätten, um biologische Waffen zu entwickeln. Als Beleg wurde ein Komplex von flachen Gebäuden in wüstenartiger Umgebung gezeigt, aufgenommen offenbar aus der Erdumlaufbahn oder von einer Drohne. Deutlich war zu sehen, wie kurz nacheinander zwei heftige Explosionen erfolgten, die die beiden größten Gebäude komplett zerstörten und die Umgebung verwüsteten. Jeder, der diese Bilder sah, konnte sich vorstellen, dass dort kein Anthrax mehr hergestellt werden würde.

Mit der Darstellung des jemenitischen Fernsehens konfrontiert, antwortete der Sprecher, man habe bisher keine Erkenntnisse darüber, welches Gebäude in diesen Bildern des Jemen-TV gezeigt werde. Vermutlich handle es sich um filmisches Archivmaterial, aber er halte es auch für möglich, dass die Islamisten selbst ein Gebäude in die Luft gejagt hätten, um die USA an den Pranger stellen zu können, und dass sie dabei Tote und Verletzte billigend in Kauf genommen hätten.

„Natürlich erinnere ich mich“, sagte der zweite Geschäftsreisende. „Wir sind im Krieg mit denen.“

„An welche Version hast du geglaubt?“

„An unsere natürlich.“

„Und wenn die Islamisten die Wahrheit gesagt haben?“

Jan spürte, wie der Ältere die Schultern zuckte.

„Dann haben sie jetzt eben ein Krankenhaus weniger“, sagte er teilnahmslos. „Jeff, wir sind im Krieg. Wo gehobelt wird, da fallen Späne.“

Jan knirschte mit den Zähnen. Diese Überheblichkeit! Genau das war das Amerika, das ihn aus den USA vertrieben hatte. Diese breite Brust, dieses „Wir sind immer im Recht, auch wenn wir im Unrecht sind!“, diese gegen jeden Zweifel immunisierte Selbstgerechtigkeit. Um wie viel sympathischer war ihm dagegen der jüngere Geschäftsreisende, der die Dinge zumindest hinterfragte!

Auch Jan glaubte übrigens an die US-Version, weil es sich einfach um die plausiblere der beiden Versionen handelte. Das zerbombte Krankenhaus passte den Islamisten zu gut ins propagandistische Konzept, als dass ihnen die Amerikaner diesen Gefallen getan hätten. Zudem hatte Jan die Aktion der Amerikaner sogar begrüßt, denn er war der Auffassung, dass die Terroristen niemals in den Besitz biologischer Waffen kommen durften! Nicht auszudenken, was sie damit anstellen konnten.

Das Problem war: Das Ausgangsmaterial für biologische Waffen lieferte die Natur frei Haus. Überall auf der Welt gab es Erreger tödlicher Krankheiten, mit denen man experimentieren und die man weiterentwickeln konnte, wenn man das nötige Knowhow und ein sicheres Labor hatte, und überall konnte zudem jederzeit ein neuer Erreger entstehen. Das Influenza-Virus H5N1 etwa, das Vogelgrippe auslöste, eines der gefährlichsten Grippeviren überhaupt, war in einem eng umgrenzten Gebiet in China durch zufällige Mutationen entstanden. Solche Mutationen ließen sich auch künstlich auslösen. Auch vom Ebola- und vom Marburg-Virus, den gefährlichsten aller bekannten Viren, konnte man sich relativ leicht Proben beschaffen. Man musste nur eine Expedition in die Gebiete Afrikas starten, in denen Nilflughund und Hammerkopf lebten, zwei Flughundarten. Diese Fledertiere verbreiteten Ebola und Marburg mit ihrem Kot. Doch um mit diesen tödlichen Viren zu experimentieren, brauchte man Spezialisten und ein hochsicheres Labor. Daher war es absolut richtig, den Islamisten jede Möglichkeit zur Weiterentwicklung und Vervielfältigung solcher Waffen zu nehmen.

„Aber stell dir vor, wir schließen unser Geschäft ab“, sagte der jüngere Geschäftsreisende. Jan spürte, wie der ältere zu diesen Worten nickte:

„Was uns gelingen wird!“

„Okay. Wir holen also das Erdgas aus dem Boden ihrer Wüste. Und ich rede dabei nicht von einer Kleinigkeit, sondern von geschätzten 300 Milliarden Kubikmetern. Das deckt zum Beispiel den gesamten Bedarf in Europa für eineinhalb Jahre. Wir machen also ein richtig gutes Geschäft, die Knete fließt reichlich, und alle haben was davon. Auch die. Wie wohl ist dir bei dem Gedanken, dass die mit dem Geld so ein beschissenes Labor einrichten, in dem sie Anthrax oder noch Schlimmeres züchten, das sie dann mit Briefen an uns nach Hause schicken? Nein, du kannst sagen, was du willst – es ist nicht richtig, mit denen Geschäfte zu machen.“

Der ältere seufzte.

„Dann darfst du mit niemandem Geschäfte machen“, gab er zurück. „Aber denk daran, wir haben das Go von ganz oben. Hassan …“ Er zuckte zusammen, sein Kopf ruckte in die Höhe und er sah zu Jan nach vorn, ohne mehr von Jan zu sehen als dessen obere Hälfte seines Hinterkopfes. Vorsichtig fuhr er fort:

„… unser Geschäftspartner wurde überprüft und für unbedenklich befunden.“

„Wer hat ihn überprüft?“

„CIA vermutlich.“ Der Ältere zuckte mit den Schultern. „Hoffe ich wenigstens.“

„Und wenn er ein Strohmann ist?“

Der Ältere schwieg einen Moment, ehe er bissig bemerkte:

„Glaubst du eigentlich, dass du in unserem Business richtig bist?“

Der Jüngere schnaubte und gab ebenso bissig zurück:

„Glaubst du, dass es falsch ist, sich Sorgen um die nationale Sicherheit zu machen, die vielleicht in Gefahr ist, weil wir unbedacht Geschäfte mit den falschen Leuten machen? Denk mal dran: Es werden Milliarden Dollar fließen, wenn das Erdgas strömt.“

„Das wollen wir doch hoffen!“

„Auch in deren Taschen!“

„Jeff, das Projekt wurde abgesegnet. Wenn etwas schiefgeht, ist es zumindest nicht unsere Schuld.“

„Sehr beruhigender Gedanke!“

„Noch einmal: Das Projekt wurde abgesegnet.“ Der ältere Geschäftsreisende flüsterte nun, aber Jan verstand ihn trotzdem einwandfrei. „Von ganz oben. Aus dem Wirtschaftsministerium. Das Geschäft mag vielleicht nicht frei von Risiko sein, aber du kannst mal davon ausgehen, dass die da oben damit ein Ziel verfolgen, das übers reine Geldverdienen hinausgeht.“

„Klar, sie wollen die alte amerikanisch-ägyptische Freundschaft wiederbeleben. Sie wollen Ägypten aus der Anti-US-Allianz der islamischen Staaten herausbrechen.“

„Ein großes Ziel, was?“ Der ältere Mann lachte zufrieden.

„Mit Osama haben wir damals auch Geschäfte gemacht, bevor er unser größter Feind wurde.“

„Osama!“ Der Ältere ächzte. „Das ist natürlich ein Totschlagargument. Okay, ich hätte zwei Vorschläge zur Auswahl. Vorschlag eins: Sobald wir in Kairo sind, nehmen wir den ersten Flug nach Hause und kündigen bei Eccon wegen unerwarteter Skrupel. Dann treten wir Greenpeace bei, kämpfen für die Rettung der Wale und werden Vegetarier. Vorschlag zwei: Wir lassen uns einen Whisky bringen und freuen uns vorab ein wenig über eine fünfstellige Provision, die am Ende der Woche auf unseren Konten landen wird, und das nächste Wochenende verbringen wir mit Betsys geilen Bräuten, die dir neulich schon so gut gefallen haben, und lassen uns richtig verwöhnen.“

Der Jüngere lachte und antwortete:

„Ich kenne jemanden, der besser mit Totschlagargumenten um sich werfen kann als ich.“

Sie bestellten den Whisky.

***

Auch Jan hatte Lust auf etwas Alkoholisches, obwohl es früh am Morgen war, doch er brauchte einen klaren Kopf. Es hätte ihn wahrscheinlich beruhigt. Normalerweise hatte er einen Ruhepuls von 56 bis 60, doch zurzeit hämmerte sein Herz 86- bis 90-mal pro Minute, und er fühlte sich unangenehm abgehetzt.

Hoffentlich sind wir bald da.

Das Frühstück, das die Flugbegleiterin nun servierte, brachte ihn vorübergehend auf andere Gedanken. Auch die beiden geschwätzigen Amerikaner verstummten, als sie sich den aufgefahrenen Köstlichkeiten widmeten. Es gab Toast, Konfitüre, erlesenen geräucherten Schinken, der an Serrano erinnerte und der duftete, als käme er direkt aus dem Bergdorf, dazu ein gekochtes Ei, das Jan gepellt, aufgeschnitten und mit einem Häubchen von Beluga-Kaviar verziert anlachte. Die hübsche Hostess servierte Kaffee, der diesen Namen tatsächlich verdiente, was in der Luftfahrt keineswegs selbstverständlich war, und bot auch Champagner an, doch Jan lehnte ab, während die beiden Amerikaner sich wieder zu streiten begannen.

Fracking!

Jan war entrüstet. Die Typen wollten diesen ökologischen Unsinn also immer noch weiter exportieren, obwohl damit in den USA schon verheerende Schäden angerichtet worden waren. Weite Landstriche waren verwüstet, Grundwasser-Reservoirs waren vergiftet von den Chemikalien, die beim Fracking in den Boden gepresst wurden, um tiefe Gesteinsschichten aufzusprengen und das Erdgas herauszupressen. Die USA folgten heute wieder der energiepolitischen Linie der Reagans und Bushs, die da lautete:

„Verbrauch steigern, Produktion steigern – Gewinne steigern! Koste es, was es wolle!“

Mit dieser Linie hatten sich die USA von Energieimporten unabhängig gemacht. Sie waren heute autark. Egal wie viel die amerikanischen Konsumenten verbrauchten – es war für lange Zeit genug da. Das Erdgas ließ sich beliebig verflüssigen und verstromen. Irgendwann, wenn dem Boden selbst mit dem brutalsten Fracking kein Gas mehr abzupressen war, würden die USA zwar ein ausgeplündertes, verwüstetes und vergiftetes Land sein, aber Hauptsache, bis dahin sprudelten die Profite.

Jan seufzte. Er wünschte sich auf seinen entlegenen, friedlichen Pilion zurück, wo die Welt noch in Ordnung war, und er sehnte sich nach der Ruhe seines Labors, wo er sich an normalen Tagen mit den kleinsten Bewohnern dieser Welt beschäftigte.

Glückliche Mikroben! Nichts anderes im Sinn als fressen, leben und sich vermehren!

Nach dem Frühstück nahm er wieder seine Zeitung zur Hand und blätterte sie ratlos durch auf der Suche nach weiteren Artikeln, die ihn bis zur Landung, die er ungeduldig erwartete, ablenken konnten. Ausgerechnet im Feuilleton blieb er hängen, bei einem Essay des Politologen Hermann Brandt. Jan wunderte sich, dass ein Artikel mit der Überschrift „Der Clash ist endgültig da!“ im Feuilleton gebracht wurde, aber wo sonst sollten sie einen derart langen und anspruchsvollen Text bringen?

Brandt beschäftigte sich mit dem Hauptwerk des berühmten Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington, „Clash of Civilizations“, indem er sich 30 Jahre nach dessen Entstehung in die Niederungen heutiger Politik wagte. Jan hatte eine deutschsprachige Ausgabe von „Clash of Civilizations“ zu Hause in Kala Nera. Das Ärgerliche daran war, dass der deutsche Verlag den Originaltitel zu einem reißerischen „Kampf der Kulturen“ verhunzt hatte. „Clash“ bedeutete jedoch nicht Kampf, sondern Zusammenstoß, Kollision, und auch „Civilizations“ bedeutete etwas anderes als „Kulturen“. Der deutsche Titel bot praktisch bereits eine Interpretation der Thesen Huntingtons an, eine Interpretation, die zudem an Sozialdarwinismus grenzte. Auch Darwins Wort vom „survival of the fittest“ wurde meist falsch übersetzt, nämlich als „Recht des Stärkeren“, doch der Stärkste war nicht zwangsläufig der Fitteste. Es kam immer darauf an, welche Herausforderungen die Auswahl dominierten.

Brandt untersuchte in seinem Essay die Entwicklungen in der islamischen Welt seit 1990. Iran fuhr wieder eine unnachgiebige Linie gegenüber dem Westen, und zwar seit der Rebellion in Saudi-Arabien vor drei Jahren, die das Wahhabiten-Regime nur mit Mühe überstanden hatte – und mit militärischer Unterstützung der USA. Damals hatten US-Streitkräfte geholfen, eine Demokratiebewegung niederzuschlagen. Die USA bestritten das bis heute, aber es gab so viele Videos auf YouTube, die das Gegenteil belegten, dass die USA seitdem ein riesiges Problem mit ihrer Glaubwürdigkeit hatten, und zwar nicht nur im Westen. Frankreich war daraufhin sogar wieder aus der Nato ausgetreten und in den Assoziierten-Status zurückgekehrt, den es bis 2009 innegehabt hatte.

Saudi-Arabien hatte so wieder stabilisiert werden können, ganz im Sinne der USA. Dafür regte sich die Rebellion nun überall rundherum. Es begann in Qatar, das seit langem islamistische Bewegungen in anderen Ländern finanzierte, etwa in Gestalt der Salafisten, aber nicht darauf vorbereitet war, dass die Agitation ins Scheichtum zurückkehren könnte. Niemand war darauf vorbereitet, dass Qatar drei Wochen vor der Fußball-Weltmeisterschaft im Ausstand und praktisch unregierbar war. Das Mega-Event musste abgesagt werden.

Der Emir konnte sich an der Macht halten, ebenso die Herrscher von Kuwait, den Vereinigten Arabischen Emiraten und des Oman. Doch im Jemen wurde der jahrzehntelange Bürgerkrieg schlagartig zugunsten der islamistischen Rebellen entschieden, als sich das Volk erhob und den korrupten Präsidenten davonjagte. Von dort sprang der revolutionäre Funke über die Meerenge auf den afrikanischen Kontinent über und fegte das autokratische Regime von Dschibuti fort, mit verheerenden Folgen für die Weltwirtschaft, denn 40 Prozent aller über die Meere verschifften Waren mussten durch die Meerenge vor Dschibuti hin zum Sueskanal oder zum Golf von Aden, die nun nicht mehr sicher war.

Dann war der Irak an der Reihe. Dort gewann die unter den Amerikanern aufgelöste, später wiedergegründete Baath-Partei des früheren Diktators Saddam Hussein die Wahlen, nachdem ihr Führer Walid al-Sheri ein strategisches Bündnis mit einigen schiitischen Parteiführern geschmiedet hatte. Al-Sheri hieß zufällig wie einer der Attentäter vom 11. September 2001, was ihm – zynische Randnotiz der Geschichte – einen Bonus in den Wahlen verschaffte. Und vor einem halben Jahr war auch Ägypten an die Islamisten gefallen. Nur in Jordanien, Syrien und im Libanon blieb es relativ ruhig.

„Das US-Eingreifen in Saudi-Arabien, mit dem die Demokratiebewegung niedergeschlagen wurde“, schrieb Hermann Brandt, „hat die Welt in einem Sinne verändert, der von den Amerikanern mit Sicherheit nicht erwartet und auch nicht gewünscht worden ist. Sie haben so gehandelt, um ihre strategisch wichtigen Stützpunkte zu sichern, als Fortsetzung einer Politik, die dazu beigetragen hat, die islamische Zivilisation zusammenzuschmieden. Sie erhebt nun ihre Faust. Der Clash, den Huntington prognostiziert hat – er ist da. Der Westen wird in diesem Konflikt unterliegen. Er kann keinen Krieg gewinnen, den er wegen seines Eingreifens in Saudi-Arabien moralisch und ethisch schon zum jetzigen Zeitpunkt verloren hat.“

Ob die beiden Fracking-Typen das wohl auch so sehen?

Fast schien es Jan, als dürfe er froh sein, dass es solche Leute wie die beiden Handlungsreisenden gab, die unterwegs waren, um geschäftliche Kontakte zu schmieden. Solche wirtschaftlichen Verbindungen konnten auf zwischenstaatliche Kontakte anscheinend ungemein stabilisierend wirken. Insofern glaubte Jan sehr wohl, was der Ältere der beiden vorhin gesagt hatte: dass die USA eine Strategie verfolgten, die Allianz islamischer Staaten aufzubrechen. Leider saß der Politologe Brandt nicht bei Jan im Flugzeug. Das Gespräch der beiden Fracker hätte ihn sicher interessiert.

Nein, die Amerikaner waren gewiss nicht blöd. Vieles von dem, was der jüngere Geschäftsreisende vorhin gesagt hatte, hätte Jan unterschreiben können. Das war das Amerika, das er sich wünschte. Ein Amerika, das sich zumindest gelegentlich mal ein paar kritische Fragen stellte.

Ein Amerika, das Meike rettet.

Mit jeder Sekunde entfernte er sich weiter von seiner Schwester. Immer wieder schaute er auf die Uhr und erwartete die Ankunft in Kairo ungeduldig. Sie hatten Kreta längst überquert, und mit einiger Anstrengung meinte Jan, im Dunst am Horizont voraus bereits die ägyptische Küste ausmachen zu können, als die Flugbegleiterin in die Kabine kam und sagte:

„Es gibt leider unvorhergesehene Probleme beim Anflug auf Kairo International Airport. Das Bodenpersonal befindet sich im Streik. Wir versuchen, Landeerlaubnis auf einem der vier anderen Flughäfen rund um Kairo zu bekommen, deren Landebahn lang genug für unseren Jet ist, aber es scheint so, als ob wir großräumig ausweichen müssen, weil der Streik übergreift. Welche Zielflughäfen ließen sich mit Ihren Zielen vereinbaren? Wohin müssen Sie?“

„Kairo“, riefen die Amerikaner, und Jan sagte:

„In die Fayyum-Oase.“

„Ich möchte Sie um einige Minuten Geduld bitten“, sagte die Flugbegleiterin. „Wir werden sicher eine Lösung finden.“

Mit diesen Worten verschwand sie nach vorn.

Plötzlich saß der jüngere der beiden Amerikaner auf dem Platz neben Jan, jenseits des Ganges, und musterte ihn unverhohlen interessiert, so dass Jan fast erschrak. Er hatte ein freundliches, offenes Gesicht.

„Hallo, ich bin Jeff“, sagte er und streckte Jan seine Hand entgegen. „Sie wollen ins Fayyum? Das ist so ziemlich die abgefahrenste Weltgegend, die ich kenne. Sie liegt teilweise unter dem Meeresspiegel, wissen Sie das? Man darf sich das gar nicht vorzustellen versuchen. Meine Vorfahren stammen von dort.“

Tatsächlich hatten sich die Gene dieser Vorfahren bis heute so weit durchgesetzt, dass Jeff die arabische Herkunft deutlich anzusehen war. Der dunkle Teint, die dunkelbraunen Augen, die dichten, fast schwarzen Haare, das schmale Gesicht – er wäre problemlos als Araber durchgegangen.

Jan ergriff die angebotene Hand und stellte sich vor.

„Aber Sie müssen vorsichtig sein, Jan“, sagte Jeff. „Malaria. Das Fayyum ist ein ehemaliges Sumpfgebiet, und die Malaria ist wieder auf dem Vormarsch. Ich hoffe, Sie haben an Prophylaxe gedacht.“

„Natürlich“, log Jan.

Die Flugbegleiterin kam wieder herein. Sie brachte schlechte Nachrichten:

„Der Streik des Bodenpersonals scheint auf alle Flughäfen im Nildelta übergegriffen zu haben. In allen Städten des Deltas kommt es zu Aufruhr und bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die einzige Zusage, die wir bekommen konnten, ist aus El-Minya. Dort gibt es einen Regionalflughafen, der von Kairo etwa 250 Kilometer entfernt ist. Dort hätten wir Landeerlaubnis. Die Alternativen wären ein Ausweichen nach Tunis oder Tel Aviv.“

„Warum streiken die überhaupt?“, fragte Jeff.

„Die ägyptische Regierung hat die Brotpreise freigegeben“, antwortete die Flugbegleiterin, „auf Druck der Weltbank.“

„Na sowas“, knurrte der ältere Geschäftsreisende, der hinten sitzengeblieben war. „Marktwirtschaft im Islam – wie passt das denn zusammen?“

Jan hatte eine grobe Vorstellung davon, wo die Fayyum-Oase im Verhältnis zu Kairo lag, und wenn El-Minya 250 Kilometer südlich von Kairo lag, dann erschien ihm das unter diesen Bedingungen wie eine brauchbare Alternative.

„Wenn Sie dafür sorgen können, dass ich ein Taxi am Flugplatz finde, wäre ich mit El-Minya einverstanden“, sagte er.

„Es gibt viele Dinge, an denen es in Ägypten mangelt, Sir“, gab die Flugbegleiterin zurück. „Taxis gehören definitiv nicht dazu.“

Schließlich stimmten auch die beiden Amerikaner zu, unter der Voraussetzung, dass OUO dafür sorgte, dass die Leute, die sie am internationalen Flughafen von Kairo abholen sollten, über die neue Destination informiert wurden. Die Flugbegleiterin ließ sich Telefonnummern und Namen geben und versprach, alles in die Wege zu leiten, und tatsächlich kam sie kurz darauf mit der Bestätigung zurück, dass alles organisiert sei. Flugzeit bis zur Landung in El-Minya noch etwa 40 Minuten.

„Aber vielleicht sollten Sie sich etwas informieren“, sagte sie mit ernster Miene. „Wir hätten noch genug Treibstoff für den Rückflug.“

Sie schaltete den Monitor ein, der in der Rückwand des Cockpits eingelassen war, und wählte den englischsprachigen Kanal von Al-Dschasira. Dort gab es drastische Bilder von Straßenkämpfen in Kairo, Alexandria und Al-Isma’iliyyah, obwohl es gerade acht Uhr morgens war. Die Verordnung der islamistischen Regierung, die Brotpreise freizugeben, hatte offenbar für spontane Proteste gesorgt. Die Lage war unübersichtlich. Entlud sich da nur angestauter Unmut, oder war das der Anfang einer Rebellion gegen die Islamisten?

Und das ausgerechnet heute!

Für Jan stand fest, dass dies alles nichts an seinen Plänen änderte, auch dann nicht, wenn er mitten in eine Revolution hineinfliegen sollte. Aber wie sah es bei den beiden Geschäftsleuten aus? Forschend blickte er zu Jeff hinüber, der wiederum seinen Partner anblickte; und der starrte auf den Bildschirm.

„Misses!“, rief er schließlich, und die Flugbegleiterin erschien wieder. „In El-Minya ist es ruhig?“

„Nach allen Informationen, die mir vorliegen, ist es in El-Minya ruhig, ja. Wir landen in zwanzig Minuten.“

„Zum Henker mit diesen Arabern“, knurrte der Mann. „Warum müssen die schon wieder Revolution machen? Haben die denn nicht noch genug von der letzten? Hat doch wirklich genug Tote gegeben. Riesenschweinerei!“

„Wir landen!“, ordnete Jan an. „Es sei denn, der Kapitän ist anderer Meinung.“

„Der Kapitän sagt, dass wir problemlos landen können.“

„Dann tun sie es“, sagte Jan, und nun entschied sich auch der Geschäftsreisende:

„Runter mit der Kiste. Aber Sie warten, bis wir von unseren Geschäftspartnern abgeholt worden sind!“

„Wir können bis zu einer Stunde warten“, sagte die Flugbegleiterin, „bis wir wieder aufgetankt sind und die üblichen Kontrollen durchgeführt wurden.“

„Die Kontrollen interessieren mich nicht“, knurrte der Geschäftsreisende. „Sie werden warten, bis wir abgeholt worden sind, egal ob Ihre Kontrollen vorher abgeschlossen sind oder nicht. Sonst bekommen Sie massiven Ärger mit Eccon.“

„Natürlich werden wir warten, Sir, wenn Sie es wünschen“, gab die junge Frau scheinbar ungerührt zurück, doch Jan entging nicht, dass die gesunde Bräune ihres Teints blasser wirkte, aus der Nähe betrachtet. Auch ihr Lächeln wirkte angestrengter, doch trotz der Anmaßung des Geschäftsreisenden behielt sie die Kontrolle über sich.

***

Der Jet kam vor einigen niedrigen Gebäuden zum Stillstand. Zwei alte Kleinflugzeuge standen in der Nähe, und im Schatten der heruntergekommenen Gebäude, hinter denen einige staubige Palmen aufragten, saßen sechs Ägypter auf dem Boden und blickten mäßig interessiert herüber.

Dieser trostlose Eindruck korrespondierte nahezu perfekt mit Jans Kindheitserinnerungen an Ägypten. Nein, dies war kein Land, das ihn anzog. Ägypten war trocken, staubig, arm, und Jan wünschte, er müsste nicht hier sein.

Immerhin – keine Schüsse, kein Tränengas in der Luft.

Es war ruhig in El-Minya, und Jan musste an die Leute vom BND denken, die sich am Flughafen von Kairo an seine Fersen hatten heften sollen. Die warteten dort vergeblich. Aber per Handy-Ortung würden sie schon mitbekommen, wo Jan tatsächlich war. Darum verzichtete er darauf, Herbert anzurufen.

Jan verabschiedete sich von seinen beiden Mitreisenden, indem er Jeff die Hand gab und dem anderen kurz zuwinkte, und stieg aus.

Es gab sogar eine Art Zollabfertigung: Ein Beamter hielt Jan auf, als er gerade das Flughafengebäude verlassen wollte, und trug ihm wortreich seine ganze Wichtigkeit in einem Gemisch aus Arabisch und Englisch vor. Jan machte dem ein Ende, indem er dem Mann zwanzig Dollar in die Hand drückte und weitere fünfzig Dollar zu dessen Konditionen in ägyptische Pfund tauschte. Damit waren alle Formalitäten erledigt, und die Pistole in Jans Reisetasche war problemlos mit ihm eingereist.

Das Taxi wartete bereits. Nach dreistündiger Fahrt am Nil entlang erreichten sie El-Fayyum, das altägyptische Krokodilopolis, heute eine schmutzige, heruntergekommene Provinz- und Industriestadt. Dichte Rauchwolken lagen über der Stadt. Der Aufruhr tobte also auch in El-Fayyum.

„Nicht durch das Zentrum“, sagte Jan zu seinem unentschlossenen Fahrer und drückte ihm einen Zwanzig-Dollar-Schein in die Hand. „Es gibt eine Ringstraße.“

Da der Mann kein Navigationsgerät hatte, dirigierte Jan ihn mit Hilfe seines Handys. Kurz darauf verließen sie den Einzugsbereich der Stadt bereits wieder Richtung Westen und brausten durch einige Dörfer, bis sie ein paar einfache Hütten aus getrocknetem Lehm erreichten, die inmitten von Feldern standen. Weizen, Hirse, Tomaten, auch Auberginen, überall Palmen – der Boden gab offenbar noch einiges her.

„El-Shawashna“, sagte sein Fahrer, nachdem er durch das offene Fenster mit einem Bauern gesprochen hatte.

Jans Handy sagte dasselbe.

***

Er blinzelte in die grelle Sonne. Der große Salzsee, der den nordwestlichen Teil der Oase einnahm, war nicht zu sehen, aber es lag ein eigentümlich salziger Geruch in der schwülen, stehenden Luft. In der Ferne erhoben sich öde, schroffe Hügel, deren schmutziges Graubraun in einem atemberaubenden Kontrast zum Himmelsblau stand, das rein und tief war, und wenn man länger hinsah, hatte man den Eindruck, man dringe in sein Inneres vor, wo es sich zu Schwarz wandelte.

Mit afrikanischer, wüstenhafter Wucht brannte die Sommersonne auf Jan herab. Er war aus Griechenland einiges gewohnt, aber das hier war härter.

Auf dem Weg durchs Dorf schoss dicht vor ihm plötzlich eine Horde von halbnackten, staubbedeckten Jungen hinter einer Mauer hervor. Zuerst erschraken sie vor ihm, ehe sie ihn umringten und von allen Seiten gleichzeitig auf Arabisch auf ihn einredeten. Einer von ihnen konnte erstaunlicherweise etwas Englisch. Es stellte sich heraus, dass er ein paar Brocken von den Wissenschaftlern des UNO-Projekts aufgeschnappt hatte, zu deren Zelten er Jan dann führte.

„Da sind wir“, sagte der Junge. „Zu Professor Fairbanks, jetzt?“

Jan traute seinen Ohren kaum.

„Fairbanks?“, wiederholte er. „Professor?“

Jan verteilte Kleingeld unter den Jungen, und die Horde stob davon.

Zwischen den Zelten stieß er auf einen älteren Ägypter in Kaftan und Küchenschürze, der zusammen mit seinem Küchenjungen Kartoffeln schälte. Weder er noch der Junge hatten eine Narbe auf der Wange. Der Alte wies Jan Richtung See. Ansonsten war das Zeltlager verwaist.

Bis zuletzt mochte Jan nicht glauben, dass er hier tatsächlich Marcus Fairbanks treffen sollte, seinen Doktorvater und Mentor von der Universität von Cincinnati. Aber er war es, kein Zweifel, wenn auch von der Sonne verbrannt, stoppelbärtig und deutlich gealtert. Jan erkannte ihn schon von weitem, wie er da am Boden kniete und Erde durch die Finger krümeln ließ, und rief ihm zu:

„Hallo, Marc!“

Fairbanks verfügte über einen etwas abwegigen Humor, hinter dem er die meisten seiner intensiveren Gefühle verbarg. Er blickte wohl auf, sah Jan, erkannte ihn auch und stockte sogar für einen Moment, winkte ihm dann aber lediglich beiläufig zu und rief:

„Hallo, Jan. Nett, dass du mal vorbeischaust. Lange nicht gesehen. Ist aber ein Scheißwetter hier. Hau bloß schnell wieder ab.“

Was für eine Wiedersehensfreude!

Doch Jan wusste, wie dieser Mann genommen werden wollte, und gab zurück:

„Hat deine Frau dich endlich in die Wüste geschickt?“

Jetzt erhob sich der Professor, beäugte ihn misstrauisch und fragte:

„Bist du das wirklich? Jan? Jan Metzner? Was verschlägt dich denn in diese Gegend? Dich hätte ich hier am wenigsten erwartet. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Acht Jahre? Meine Güte, es muss mindestens acht Jahre her sein, oder?“

Jan hätte die Fragen des Professors gern beantwortet, aber wie immer, wenn Fairbanks redete, kam niemand sonst mehr zu Wort.

„Es können auch neun Jahre sein. Warte mal, nein, nichts sagen, ich komme von selbst drauf. Du hast zu der Gruppe gehört, die Pseudomonas denitrificans modifiziert hat, genau. Seitdem heißt sie Pseudomonas denitrificans spec. metzneris, wusstest du das? Sie haben sie freigelassen, hast du davon gelesen? Es gab Gutachten, ja. Seitdem hat Cincinatti das beste Leitungswasser in den USA. Du könntest ein reicher Mann sein, Jan, aber es war ja nur eine Seminararbeit, nicht wahr? Ein mordsmäßiger Nitratfresser, deine Pseudomonas. Großartige Sache. Alle sind stolz auf dich. So was könnten wir hier auch brauchen, aber nicht wegen Nitrat, eher wegen Oxalat. Damit haben wir hier wirklich ein Problem, Jan. Aber entschuldige, du kennst mich, ich habe schon wieder vergessen, was du mich gefragt hast. Du wolltest doch etwas wissen, oder?“

„Neun“, antwortete Jan.

„Was – neun?“ Fairbanks musterte ihn verwundert.

„Wir haben uns neun Jahre lang nicht gesehen.“

„So lange.“ Der Professor runzelte die Stirn. „Du könntest recht haben. Die Zeit vergeht. Das hat sie so an sich, was? Du warst wie abgetaucht, wie verschwunden.“

„Ja, ich habe ein anderes Leben angefangen.“

„Keine Genetik?“

„Keine Genetik!“, bestätigte Jan.

„Warum? Du warst einer der besten Studenten, die ich je hatte. Du hättest etwas werden können.“

„Ich bin etwas geworden“, entgegnete Jan und berichtete knapp von seinen Erfolgen mit Bakterienkulturen auf dem Pilion.

„Sehr schön, sehr schön“, rief der Professor. „Etwas Ähnliches wollen wir hier machen – aber mit Genetik.“

Das bedeutete: mit genetisch modifizierten Organismen. Jan nickte. Vielleicht war das wirklich einer der Fälle, wo man mit der Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen nicht geizen sollte, um die Folgen menschlicher Fehlwirtschaft zu beseitigen. Jan konnte es nicht beurteilen, er hatte nicht genug Informationen. Die Gegend machte auf den ersten Blick einen fruchtbaren Eindruck, aber das Getreide auf den benachbarten Feldern wirkte bei näherem Hinsehen doch etwas dürr und strohig.

„Und was führt dich hierher?“, fragte Fairbanks.

„Ich war gerade in der Nähe“, log Jan, „und da dachte ich, schau doch mal bei der FAO vorbei.“

Er ersetzte dabei „UNO“ durch „FAO“, die Ernährungs- und Landwirtschafts-Unterorganisation der UNO. Meikes Entführer, die jene Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen hatten, wegen der er nun hier war, schienen sich mit der UNO nicht sonderlich gut auszukennen, denn die hatten von einem UNO-Projekt gesprochen. Die UNO selbst organisierte solche Projekte jedoch nicht

Fairbanks lachte auf.

„Schau mal vorbei, genau!“, rief er vergnügt. „Du bist schon der erste Besucher, der sich für uns interessiert. Selbst die Medien sind nullkommanullmal hier vorbeigekommen. Naja, einen Vorteil hat das – keiner merkt, dass wir nicht so recht vorankommen.“

Jan betrachtete den Boden des Feldes, an dessen Rand sie standen. Es lag brach, nur robuste Kräuter und Gräser kamen hier hoch. Dabei lag das Landstück nur wenig über dem Wasserspiegel des Sees.

„Total versalzen“, sagte Fairbanks, plötzlich ganz der ökologisch entrüstete Wissenschaftler. „Praktisch so wertlos wie Wüstensand. Und jetzt kommen wir – mit zwei läppischen, veralteten Berieselungsanlagen, einer Handvoll Bakterien und dem Wasser aus diesem See dort, das schon von Natur aus salzig ist. Und durch die Stadt Fayyum und ihre Abwässer ist es zu einer Brühe geworden, die man eigentlich schnellstens in einem Sondermüllofen verdampfen sollte. Du kannst dir ungefähr vorstellen, wie prächtig sich die Böden hier in den letzten Wochen und Monaten verbessert haben.“

„Und da haben die von der FAO sich gedacht, Sprinkleranlagen brauchen wir nicht, das macht Professor Fairbanks im Handumdrehen, der hat einen kräftigen Strahl …“

Fairbanks winkte ab.

„Bei dem Bier hier“, knurrte er. Dann grinste er Jan misstrauisch an. „Und du kommst mal eben so vorbei, wie?“

„Ja, aber ich wusste nicht, dass du hier arbeitest. Ehrlich gesagt wundert mich das. Seit wann stehst du Laborfuzzi auf praktische Umsetzung?“

Fairbanks kratzte sich im Nacken.

„So eine Scheidung ändert eine Menge. Ich dachte, die Luftveränderung täte mir gut nach dem Stress. Außerdem ist der Posten ganz passabel bezahlt. Ich leite ja nicht nur diesen armseligen Trupp hier, sondern alle FAO-Umweltaktionen in Ägypten. Das ist Pionierarbeit. Ich habe lange genug im Labor herumgestanden, weißt du? Und überstrapazierte Böden wieder auf die Beine zu bekommen, das ist genau das Richtige für einen Idioten wie mich. Hast du zufällig Durst?“

„Von Zufall kann keine Rede sein.“

Sie gingen zu den Zelten, und Fairbanks organisierte zwei Flaschen Bier.

„Auf die alten Zeiten“, rief Fairbanks. Selbst er war nicht vor Plattitüden gefeit.

Jan trank die Flasche in einem Zug zur Hälfte aus. Das Gefühl der kühlen Flüssigkeit in seiner trockenen Kehle war überwältigend. Die Bauchschmerzen kamen erst später.

„Und jetzt mal im Ernst“, sagte Fairbanks dann. „Warum bist du hier?“

„Wirklich, das ist – na gut, nicht ganz zufällig. Eigentlich bin ich auf … Einladung nach Ägypten gekommen.“ Jan hoffte, dass der Professor das kurze Zögern nicht bemerkte. „In Griechenland hat mein Produkt inzwischen einen ziemlich guten Ruf, und das hat sich anscheinend herumgesprochen. Meine Geschäftskontakte meinten, dass ich mir ein Bild von den Problemen mit den ägyptischen Böden machen könnte, wenn ich hier vorbeischaue, und da bin ich. Ich wusste ja nicht, dass ausgerechnet du hier …“

Jan erfand diese Geschichte aus dem Stegreif, weil sie sich einfach nahelegte. Er war selbst verblüfft, wie gut sich alles zusammenfügte. Er, der Produzent von bodenverbessernden Bakterienkulturen, und hier die Böden, die dringend etwas wie „AcrePlus“ gebrauchen könnten – jedoch ein „AcrePlus“, das es noch nicht gab, denn zweifellos waren die Anforderungen, die diese Böden nach jahrzehntelanger Misshandlung an ein bodenverbesserndes Bakterium stellten, ganz andere als die, auf die Jan auf dem Pilion gestoßen war.

„Nun ja“, brummte Fairbanks, „dein Interesse ist also touristischer Natur?“

„Wenn du so willst.“ Jan nickte. „Ich möchte mir ein Bild machen.“

„Dann schau dich um. Gleich hier. Ägypten war einmal die Kornkammer des römischen Imperiums. Ohne den ägyptischen Weizen hätten die Cäsaren ihre Herrschaft niemals über die ganze damals bekannte Welt ausdehnen können. Sieh dir diese Böden heute an. Ist das nicht trostlos?“

„Wegen dem Assuan-Staudamm, oder?“

„Natürlich wegen dem Assuan-Staudamm!“, rief der Professor. „Und wegen der Gigantomanie von Leuten wie Nasser, die nicht bedacht haben, was sie tun.“

„Ja, Nasser war sicher naiv“, erwiderte Jan, „aber er wollte vermutlich das Beste.“

„Ach, Quatsch, es ging um Macht, um nichts anderes“, schnaubte Fairbanks. „Es geht immer nur um Macht. Selbst bei meinem Projekt hier geht es um Macht, nämlich um die Macht, die die UNO in ihrer Verzweiflung gern demonstrieren würde, um die Völker dazu zu bringen, zusammenzuarbeiten statt gegeneinander. Die UNO wird damit scheitern, und das wird dazu führen, dass wir in zehn Jahren eine globale Hungersnot haben werden, die überall auf der Erde zu spüren sein wird, nicht nur in den armen Ländern.“

„Wusste gar nicht, dass du dich auf Zukunftsforschung spezialisiert hast“, kommentierte Jan zurückhaltend.

„Musst auch nicht alles wissen“, gab der Professor augenzwinkernd zurück. „Wann musst du nach Kairo zurück?“

„Ich muss gar nichts. Ich bin freier Unternehmer und kann machen, was ich will. Meine Geschäfte in Griechenland laufen auch ohne mich eine Weile. Ich habe so viel Zeit, wie ich will.“

Wieso passt das alles so gut zusammen?

Ein sonderbares Gefühl flog Jan an – als ob Zahnrädchen ineinandergriffen wie dafür geschaffen.

„Brauchst du ein Bett, oder schläfst du auf dem Boden?“, fragte der Professor.

„Wie bitte?“

„Okay, anders ausgedrückt: Ich würde mich freuen, wenn du ein wenig bei uns bleiben und uns zusehen würdest. Einfach nur zusehen. Dann kannst du ein bisschen wiedergutmachen, was du damals angerichtet hast.“

„Was habe ich denn damals angerichtet?“

„Du hast mich im Stich gelassen“, sagte der Professor. „Einer der talentiertesten Jung-Wissenschaftler, die ich jemals ausgebildet habe, zog sich aus der Forschung zurück.“

„Die Richtung der Forschung passte mir nicht“, knurrte Jan.

„Das hier ist ein humanitäres Projekt, okay? Ich mache dir dieses kleine Angebot in der Hoffnung, dich für die Wissenschaft zurückzuerobern.“

„Ich bin schon auf der anderen Seite. Ich habe eine Firma. Ich forsche und entwickle, um Produkte anbieten zu können.“

„Und wie wäre es mit einem Joint Venture? Tun wir unsere Kräfte zusammen zum Wohle der Allgemeinheit!“

„Ich überlege es mir“, erwiderte Jan knapp und mit einem Unterton, der Fairbanks klarmachte, dass er aufhören sollte mit seinen Versuchen, Jan zu überreden.

Der Professor holte zwei weitere Flaschen Bier und nötigte Jan, auf das Ereignis anzustoßen. Jan erfüllte ihm diesen Wunsch, obwohl er bereits von der ersten Flasche einen leichten Schwips hatte. Es musste mit der Hitze zu tun haben.

„Und jetzt, mein Junge“, verkündete Fairbanks feierlich, „machen wir eine Ortsbegehung. Freu dich auf einen klasse Scheißjob.“

Doch Jan hob die Hand und bremste seinen Doktorvater.

„Marc, bitte – von der Gegend habe ich bereits meine Eindrücke. Ich würde mich zuerst gern ein wenig ausruhen und dann deine Leute kennenlernen.“

„Die Leute sind alle unterwegs, um Bodenproben zu nehmen. Aber heute Abend werden wir alle zusammensitzen.“

„Bis dahin will ich ehrlich gesagt nur eines“, sagte Jan, „nämlich schlafen.“

Marcus Fairbanks zeigte ihm, wo das möglich war, und ließ seinen früheren Doktoranden dann in Ruhe. Jan sank auf das Feldbett und war fast in der nächsten Sekunde eingeschlafen.

***

Der Professor kehrte auf den Acker zurück, auf dem Jan ihn vorhin getroffen hatte, und widmete sich wieder den Bodenanalysen. Als sich ein Schatten auf ihn senkte, zuckte er kaum zusammen; er schien die Begegnung erwartet zu haben. Er blickte nicht auf zu dem breitschultrigen Mann, der trotz der Hitze einen Anzug trug. Dass der Mann mit einem Finger das Muttermal streichelte, das seinen linken Nasenflügel zierte, das wusste Fairbanks auch ohne hinzusehen.

„Ich übernehme keine Garantie“, sagte der Professor, ohne gefragt worden zu sein.

„Das hätte ich auch nicht erwartet“, gab der Mann zurück. „Leute wie Sie übernehmen nie Garantien. Aber er wird anbeißen, oder?“

„Hat er schon.“

Virenkrieg I. Komplettversion

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