Читать книгу Infektion - Ly Fabian - Страница 4

Hannah

Оглавление

Maries Hand schmerzte. Sascha presste ihre Finger zusammen.

»Lauf nicht hin! Er ist einer von ihnen. Siehst du es jetzt?« Seine Stimme klang hohl. Ringsumher Schreie und Menschen, die wie gelähmt herumstanden.

Kevin hob das Gesicht, schaute in ihre Richtung. Sein Mund war blutverschmiert. Marie zitterte. Die Zeit verging wie in Zeitlupe. Inzwischen hatten sich zwei seiner Freunde auf Kevin gestürzt. Einer riss ihn an den Haaren nach hinten, der andere warf ihm eine Jacke über den Kopf. Ein weiterer kümmerte sich um Hannah. Die, die den Tobenden hielten, schrien um Hilfe, da sie ihn kaum bändigen konnten.

Marie versuchte sich von Saschas erstaunlich kräftigem Griff loszureißen.

»Hey, lass mich, wenn du schon nicht anpacken willst!«

»Willst du gebissen werden? Du kannst nicht helfen und ich denke nicht im Traum daran!«

»Du bist so ein Feigling.«

»Ich bin nur kein Selbstmörder.«

Inzwischen waren bei den Jungen, die mit Kevin rangen, noch zwei weitere, die halfen, ihn am Boden zu halten. Auch ein Lehrer tauchte endlich auf. Er eilte mit einem Rot-Kreuz-Koffer zu Hannah. Aus der Ferne ertönten Sirenen. Eine Durchsage forderte die Schüler auf, ihre Klassenräume aufzusuchen.

»Du musst mit mir kommen.« Sascha versuchte sie hinter die Bäume, die den Schulhof umgaben, zu ziehen.

Marie riss sich los. »Ich will zu Hannah!«

Doch die Stelle wurde inzwischen von mehreren Lehrern abgeschirmt.

»Falls sie Zeugen suchen, geh auf keinen Fall hin!« Saschas Stimme klang beschwörend. »Die versuchen es unter Kontrolle zu halten, doch es ist zu spät. Sei vorsichtig, du weißt, wo du mich findest.«

Sascha hatte sich zurückgezogen, bevor eine Lehrerin sie erreichte, um sie aufzufordern nach hinten in das Gebäude zu gehen. In der Klasse herrschte bedrückende Stille. Wenige hatten das Drama direkt mitbekommen, doch jeder wusste inzwischen Bescheid. Der Mathematiklehrer betrat das Klassenzimmer, als erneut eine Durchsage ertönte. Alle, die den Vorfall auf dem Schulhof beobachtet hatten, wurden gebeten, sich in die Aula zu begeben. Marie zögerte, ihr Mäppchen rutschte hinunter. Während sie die Einzelteile auf dem Boden zusammensuchte, standen zwei ihrer Mitschüler auf und verließen den Raum. Sie sortierte ihre Stifte und blieb sitzen. Was hatte sie schon gesehen? Wenn sie befragt würde, müsste sie zugeben, dass Sascha, obwohl krankgemeldet, auch da gewesen war.

Die Stunde plätscherte dahin, auch der Lehrer konnte sich nicht auf seinen Stoff konzentrieren, als die Tür nach einem kurzen Klopfen geöffnet wurde. Ein Polizeibeamter betrat den Raum.

»Ihr habt sicher von dem Vorfall auf dem Schulhof gehört, bei dem eine Schülerin schwer verletzt wurde. Sie ist in der Klinik und wird notoperiert. Wir vermuten, dass der junge Mann unter dem Einfluss einer neuen Droge gehandelt hat. Eine Substanz, die Menschen psychisch sehr verändern kann. Ich muss alle bitten, sich an die Polizei oder einen Vertrauenslehrer zu wenden, falls ihr wisst, wer diese Drogen verteilt. Ebenso würden wir gern mit den Schülern reden, die in letzter Zeit zu Kevin Strauß Kontakt hatten.«

Marie machte sich klein. Was sie über Hannahs Freund wusste, ließ sie an der Drogenversion zweifeln. Er war wie sie im Sportleistungskurs und extrem gesundheitsbewusst. Freiwillig hätte er nie illegale Drogen genommen.

Hannah hatte den Angriff überlebt. Trotz des vielen Blutes. Der Polizist verabschiedete sich. Inzwischen war die Stunde vorbei und die zwei Zeugen der Schulhofattacke aus ihrer Klasse noch nicht zurück. Sie schaute versonnen aus dem Fenster, unten standen vier Polizeiwagen. Obwohl es in den Pausen sonst ziemlich laut einherging, war es jetzt sehr ruhig. Die Schüler flüsterten nur miteinander. Nach der Klingel kam statt der Kunst- die Deutschlehrerin. Sie erwähnte den Vorfall nicht, schaute jedoch ständig auf ihre Uhr, nachdem sie Arbeitsblätter verteilt hatte. Die letzte Stunde fiel aus. Marie konnte sich kaum auf die Heimfahrt konzentrieren. Beinahe fuhr sie einen Mann um, der ihr wütend hinterherschrie, nachdem sie es gerade so geschafft hatte, ihn zu umrunden.

Vor ihrem Haus standen die überfüllten Mülltonnen noch genauso wie am Vormittag, als sie losgefahren war.

»Gott sei Dank, du bist da!« Irene umarmte sie. Ihr Zorn vom Morgen schien verraucht.

»Ich habe es in den Nachrichten gehört, in eurer Schule gab es einen Anschlag. Was ist passiert? Warst du in Gefahr?«

Marie schluckte. Ihre Tränen konnte sie kaum zurückhalten.

»Hannah. Kevin hat sie angegriffen, dann war da überall Blut. Sie ist jetzt im Krankenhaus«

Irene drückte sie schweigend an sich, während Marie still vor sich hin weinte.

»Wenn deine Mutter kommt, fragen wir sie, ob sie etwas weiß.«

Marie wischte sich über die Augen. Hoffentlich überlebte Hannah, hoffentlich waren ihre Verletzungen nicht so schwer. Gleichzeitig ärgerte sie sich über Sascha, der sie festgehalten und so verhindert hatte, dass sie helfen konnte.

Irene ging in die Küche, um kurz darauf wieder in Maries Zimmer zu kommen. Sie hielt einen dampfenden Kakao in ihren Händen.

»Hier, den habe ich extra mit Mandelmilch gemacht.«

Ihre Enkelin lächelte und nahm ihr die Tasse ab. Das süße, heiße Getränk war genau das Richtige. Sie umfasste es mit beiden Händen, nahm die Wärme in sich auf und betete seit Jahren das erste Mal.

Lieber Gott, bitte lass Hannah leben, lass sie gesund werden.

Sie war nicht in der Lage, die Hausaufgaben zu machen, wollte das Zimmer nicht verlassen, saß einfach nur auf ihrem Bett, während ihre Tränen liefen.

Irene sortierte in der Küche das Geschirr in die Schränke. Auf dem Herd stand ein Eintopf. Lisa müsste bald nach Hause kommen. Hoffentlich war im Krankenhaus alles in Ordnung.

Draußen rumpelte die Müllabfuhr. Sie nahm den Müllbeutel und beeilte sich, um die Männer zu erwischen.

»Könnt ihr das noch mitnehmen?«, bat sie und hielt ihnen den blauen Sack entgegen. Der ältere Arbeiter, sie waren diesmal nur zu zweit, nahm ihn ihr ab.

»Ausnahmsweise. Wir sind heut eh spät. Zwei Kollegen sind krank. Wie es aussieht, wird die Abfuhr ausgesetzt, wir müssen die Nachbargemeinden mit übernehmen. In der Stadt gibt es Engpässe. Versucht so weit wie möglich Müll zu vermeiden.«

»Aber das geht doch nicht. Dann müssen mehr Leute eingestellt werden. Zum Schluss haben wir hier überall wilde Müllkippen und eine Rattenplage!«

»Das ist nicht unser Problem, wir können nicht mehr als arbeiten.«

Der Mann schwang sich auf den Wagen, der sich rumpelnd entfernte. Irene zog die Tonnen auf das Grundstück. Die am Morgen im Radio erwähnte Grippepandemie, schien schlimmer zu sein als erwartet. Die Warnung vor Menschenansammlungen, der Ratschlag bei Fieber, Gliederschmerzen und ähnlichen Symptomen unverzüglich das Bett zu hüten, machte Sinn.

Ihre Gelenke schmerzten, als sie nach oben ging. Sie war seit dem frühen Morgen auf den Beinen.

Die Tür fiel ins Schloss. Lisa kam aus der Klinik. Diesmal sogar fast pünktlich.

»Oh, da bist du ja. Das Essen ist fertig.«

»Mama, ich bin total kaputt, lass mich erst mal ankommen. Ich dusche jetzt, dann lege ich mich für eine halbe Stunde hin. Essen können wir später, ich habe keinen Hunger.«

Lisa ging ins Bad und kurz darauf hörte Irene das Wasser rauschen.

»Ist Mama da? Vielleicht weiß sie etwas wegen Hannah.« Marie wollte die Badezimmertür öffnen.

»Lass sie erst einmal duschen. Du kannst sie gleich fragen.«

»Was ist los?« Lisa kam im Bademantel in die Küche. Durch die nassen Haare sah ihr Gesicht noch schmaler aus.

»Hannah wurde angegriffen. Ihr Freund Kevin hat sie verletzt. Sie soll in die Klinik gekommen sein. Weißt du etwas?«

»Schatz, das ist ja furchtbar! Ich habe gehört, dass es einen Zwischenfall an einer Schule gegeben hat. Das Mädchen wurde bei uns operiert. Als ich gegangen bin, ist sie auf die Intensivstation gekommen. Ich wusste ja nicht, dass es Hannah ist. Wie schrecklich.«

»Kann ich Hannah besuchen?«

»Auf die Intensivstation dürfen nur Verwandte. Aber ich schaue mal, was man machen kann. Meine Freundin arbeitet dort.«

»Können wir gleich hin? Bitte.«

»Nein, jetzt geht es nicht. Sie braucht Ruhe nach der Operation. Vielleicht morgen. Ich rufe meine Freundin an und frage, wie es Hannah geht. Dann muss ich mich erst mal hinlegen, beim Essen können wir reden.«

Marie brachte ihrer Mutter das Telefon, die wählte die Nummer der Intensivstation. Ihre Kollegin Betty war am Apparat. Hannah schlief, die erste Operation war gut verlaufen. Es bestand Hoffnung.

Lisa ging in ihr Schlafzimmer. Aus der halben wurden zwei Stunden.

Im Radio wurde durchgegeben, dass alle Schulen am Freitag geschlossen wären.

»Du kannst morgen mit, musst aber helfen. Da du im Frühjahr zwei Wochen Praktikum auf unserer Station hattest, kennst du dich ja aus.« Lisa lächelte ihre Tochter an. »Dann kannst du auch Hannah besuchen.«

»Ich finde das jetzt nicht so gut«, mischte sich Irene ein. »Überall wird vor Ansteckung gewarnt und du willst sie mit in die Klinik nehmen?«

»Wir haben keine infektiösen Patienten, nur wahnsinnig viel zu tun.«

»Ist das legal? Darf sie das überhaupt?«

»Nein. Ist es nicht. Aber in dem Chaos kontrolliert niemand und so kann sie ihre Freundin sehen und mir helfen Sachen in Sicherheit zu bringen. Ich habe gehört, dass Stationen geschlossen werden. Wir haben zu wenig Personal. Eventuell wird die Klinik aufgegeben und die Belegschaft muss zum städtischen Krankenhaus wechseln. Die haben auch Probleme wegen dem hohen Krankenstand. Das entscheidet sich alles heute bei einer Krisensitzung. Und nein, ich weiß das nicht offiziell, und ja, es ist auch gefährlich. Marie ist bei uns aber nicht in Gefahr. Sie kann Hannah besuchen, wenn sie mir geholfen hat. Sie hat schon zwei Praktika in unserem Haus gemacht, sie kennt sich aus.«

Irene verzog das Gesicht. Schweigend räumte sie mit Marie die leeren Teller ab.

»Keine Sorge Oma, ich passe auf, mir wird nichts passieren.«

Die Nacht war kurz. Marie zog schnell Jeans und Sweatshirt an, als Lisa sie weckte. Das Gesicht ihrer Mutter war bleich. »Wenn dich jemand fragt, du bist Schülerin im ersten Jahr. Dann werden sie nicht allzu viel von dir erwarten. Kannst du fahren?«

»Ich kann, aber ich darf doch noch nicht.«

»Jetzt kontrolliert keiner und ich muss ein paar SMS versenden. Außerdem hast du den amerikanischen Führerschein, wir müssen es riskieren.«

»Wenn du meinst.« Marie war so aufgeregt, dass sie den Wagen zweimal abwürgte, bis er stotternd anfuhr. Die Straßen waren leer. Während ihre Mutter mit dem Handy beschäftigt war, versuchte Marie sich an den Weg zu erinnern und erwischte prompt eine falsche Ausfahrt.

»Das ist nicht schlimm, fahr einfach die Nächste links und dann gleich wieder rechts«, beruhigte ihre Mutter.

Bei der Klinik dirigierte Lisa sie zu einem Platz hinter dem Gebäude, neben einem Wirtschaftseingang.

»Jetzt müssen wir ganz herumlaufen!«, beschwerte sich Marie.

»Hier geht eine Versorgungstür nach draußen. Ich habe dir doch gesagt, dass ich ein paar Sachen mitnehmen muss. Bleib im Auto, ich komme gleich wieder. Am Haupteingang wird kontrolliert.«

Marie setzte sich auf den Beifahrersitz und schloss die Augen, während ihre Mutter um das Gebäude hastete. Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis sich die Nebentür öffnete. Ihre Mutter stellte mehrere Kisten neben das Auto.

»Komm hilf mir, neben der Tür stehen noch Sachen.«

»Wie willst du das alles da rein packen?«, ächzte Marie unter der Last einer Kiste. Lisa antwortete nicht. Sie füllte erst den Kofferraum und danach die Rückbank. Zum Schluss legte sie eine Decke darüber und zog den Sonnenschutz an den hinteren Fenstern hoch.

»So, sehen kann man nichts. Jetzt kannst du mit hineinkommen.«

Bevor sie das Gebäude betraten, schaute sie sich noch einmal um. Alle Fenster waren dunkel. Marie folgte Lisa in den Umkleideraum.

»Zieh diesen Kittel über und stecke das Schülerzeichen an.«

»Da steht Steffi drauf.«

»Die war in den letzten Tagen nicht hier und es kennt sie keiner. Also heißt du heute eben mal Steffi.« Lisa lächelte. »Und jetzt komm.«

Im Stationszimmer richtete die Nachtwache Infusionen.

»Hast du alles ins Auto bekommen?«, raunte sie Lisa zu. Die nickte und warf ihr den Autoschlüssel zu.

»Du bist Marie? Wir kennen uns doch vom Telefon. Ich bin Katja. Aber das Steffi-Schild geht ja gar nicht.«

Sie tippte etwas in den PC ein,druckte es aus, dann schnitt sie den Zettel zurecht und klebte ihn über den Namen auf dem Anstecker.

»So, jetzt bist du Schülerin Marie. Für heute hält es. Wenn sie deinen Personalausweis sehen wollen, muss der Name stimmen. Schwester Emma hat sich eben krank gemeldet. Ich helfe euch beim Bettenmachen, dann muss ich weg. Später kommt eine Aushilfe, zum Frühstück.«

»Was ist mit Hannah, wann kann ich zu ihr?«, fragte Marie.

»Vor elf Uhr geht es nicht. Da ist oben zu viel los, es fällt auf, wenn ein Unbekannter kommt. Du hilfst mir jetzt und später sorge ich dafür, dass du deine Freundin besuchen kannst.«

Marie ging mit der Katja durch die Zimmer. Sie zogen Bettlaken glatt, wechselten Unterlagen und setzten Patienten in den Rollstuhl, die von Lisa in das Bad oder vor das Waschbecken geschoben wurden. Sie half, indem sie die Leute zurück zu ihrem Bett brachte, während ihre Mutter die medizinische Betreuung übernahm. Kurz nachdem die Nachtschwester sich verabschiedet hatte, kam die Aushilfe und verteilte das Frühstück. Marie lief durch die Zimmer und half denjenigen, die nicht alleine essen konnten. Ihre Mutter wuselte durch die Gänge. Marie wunderte sich nicht mehr, dass sie ständig so kaputt war.

»Wo ist die Frau, die dich gekratzt hat?«

»Die wurde verlegt. Sie ist komplett durchgedreht, kam auf die Psychiatrie.«

Die Aushilfe setzte sich ab, um eine Zigarette zu rauchen. Ein Arzt wechselte ein paar Worte mit Lisa und ging dann allein durch die Zimmer.

»Es gibt heute keine Visite. Dr. Beuer schaut nur nach ein paar Patienten, er hat die Anweisung, so viele wie möglich zu entlassen. Die Station wird aufgelöst. Ich denke, jetzt kannst du Hannah besuchen. Deine Freundin liegt einen Stock höher. Intensiv-Station. Schwester Betty erwartet dich. Und vielen Dank für deine Hilfe.« Lisa lächelte.

Da der Aufzug nicht gleich kam, nahm sie die Treppen. Eine Schwester machte sich vor der Tür zur Intensivstation an einem Bettenwagen zu schaffen. Unsicher ging Marie auf sie zu. Die Frau wandte sich um. Auf ihrem Namensschild stand Betty Mayer. »Da bist du ja endlich«, lächelte sie und führte sie an zwei Ärzten vorbei auf die Station. Am letzten Überwachungszimmer machten sie halt. Hannahs Gesicht war weiß wie das Laken. Über ihr hing ein roter Beutel. »Sie bekommt Transfusionen, das arme Ding. Deine Mutter meinte, du hast hier schon gearbeitet und möchtest helfen. Du kannst sie waschen, ich bin noch nicht dazu gekommen.« Betty brachte eine Waschschüssel und Einmallappen. »Zieh dir Handschuhe an. Und sei vorsichtig.« Marie schluckte. Ein Arm ihrer Freundin war eingegipst, die Schulter verbunden, die Finger der Hand blau. »Hannah? Wie geht es dir? Ich werde dich jetzt waschen, erschrecke bitte nicht.« Vorsichtig wischte sie mit dem feuchtwarmen Lappen über das Gesicht ihrer Freundin, die träge die Augen öffnete. »Du?« »Wie geht es dir?« »Scheiße, wenn ich dich sehen muss, du Bitch. Seit wann arbeitest du hier?« Hannah lächelte gequält. »Was ist mit Kevin los, er soll unter Drogen gestanden haben?« »Nein, er … er war es nicht. Es war …« Hannah stöhnte. Marie streichelte Hannahs Wange. »Vorsicht, ich könnte beißen.« »Und wenn schon.« Marie lachte. »Ich hab so verdammte Kopfschmerzen ...« »Soll ich jemanden rufen?« »Nein, bleib hier, leg mir einen kalten Lappen auf den Kopf.« Marie ging zum Waschbecken und ließ das Wasser eine Weile laufen. Hannah entspannte sich etwas, als sie ihr den Lappen auf die glühend heiße Stirn legte. Betty kam und gab Hannah eine Injektion. »Das sollte ihr gegen die Schmerzen helfen. Du kannst die Waschschüssel hinten beim Becken ausleeren. Hast du noch etwas Zeit?« Marie nickte und schaute zu Hannah, die ihre Augen geschlossen hielt. »Bleib einfach bei ihr sitzen und rufe mich, wenn die Transfusion durchgelaufen ist.« Marie nickte. Zwei Ärzte betraten das Zimmer. Betty grüßte knapp, bevor sie verschwand. Marie überlegte, was sie den Ärzten sagen sollte, doch die beachteten sie nicht. Sie redeten über Hannah. »Venenruptur nach einem Angriff. Schlüsselbein gebrochen, Schultergelenk links abgerissen. Wir mussten sie volumenmäßig stabilisieren. Das Mädchen hat unglaubliches Glück gehabt. Sobald sie stabil ist, braucht sie eine Schulterprothese. Es wird schwierig, den Arm zu retten.« Er zeigte auf die verfärbte Hand. Der jüngere Arzt nahm einen silbernen Stift und klopfte auf die blauen Finger. »Spüren Sie das?« Hannah, die die Ärzte aus halb geschlossenen Lidern beobachtet hatte, krächzte ein Nein. »Die Nerven sind verletzt. Das kann dauern«, erklärte der Arzt. Beide nickten Hannah zum Abschied zu und verließen den Raum. Marie beachteten sie nicht. Betty kam, bevor die Transfusion ganz durchgelaufen war. »Du musst jetzt gehen, deine Freundin braucht Schlaf.« »Wird sie wieder gesund, mit der Schulter und ihrem Arm?«, fragte Marie, als auf dem Gang vor dem Zimmer standen. »Sie hat verdammtes Glück gehabt, dass sie überhaupt noch lebt, bei dem Blutverlust. Wenn sie sich stabilisiert hat, muss sie noch einmal operiert werden. Ob die Beweglichkeit wieder voll hergestellt werden kann, kann man jetzt noch nicht sagen.«

Auf der Station ihrer Mutter standen fast alle Türen offen.

»Wie geht es Hannah?«

»Betty meint, sie hätte wahnsinnig viel Glück gehabt, bei dem Blutverlust. Sie versuchen den Arm zu retten und dann braucht sie eine Schulterprothese. Was denkst du, wie lange muss sie im Krankenhaus bleiben?«

»Das kann man nicht sagen. Es wird alles getan, was man für sie tun kann. Nach der zweiten Operation wird sie eine Reha brauchen. Ich rede später mal mit ihrem Arzt.«

»Danke.«

»Kannst du bitte den Patienten, die wir entlassen haben, helfen?«

Lisa schob sie in ein Dreibettzimmer. Die Stimmung darin war gereizt. Eine Patientin weinte, eine andere schimpfte.

»Diese Frau hat keine Angehörigen, wie soll sie sich versorgen? Es ist eine Schande was hier passiert. Ich sollte eine Herzkatheteruntersuchung bekommen und jetzt behauptet der Arzt es wäre nicht nötig!«

Die Patientin, die ihre Katheteruntersuchung nun doch nicht bekam, warf einen grimmigen Blick auf Marie und holte einen Koffer aus dem Schrank. »Der ist von Frau Müller. Ihre Sachen sind im rechten Schrank. Die Frau ist völlig hilflos. Sie sollten sich schämen, so mit Patienten umzugehen, Schwester!«

Sie nahm ihre eigene Tasche und rauschte aus dem Zimmer. Marie setzte Frau Müller, nachdem sie diese angezogen hatte, in den Rollstuhl und wandte sich der jammernden Frau im hinteren Bett zu. Sollte sie die auch anziehen?

»Leg ihre Sachen neben den Nachtschrank, sie wird gleich abgeholt. Alle Patienten, die weder entlassen noch transportiert werden können, werden auf die Station im Erdgeschoss neben der Ambulanz verlegt. Sie werden dann von dort aus in das nächste Kreiskrankenhaus oder Altenheim gebracht. Diese Station wird jetzt komplett geschlossen.«

Lisa schaute müde auf die jammernde Frau, bevor sie ihr eine Beruhigungsspritze gab. Marie half das Bett zum Aufzug zu fahren, wo es von einer älteren Schwester entgegengenommen wurde. Dann schob sie Frau Müller im Rollstuhl an einen Tisch, an dem diese ihre Papiere ausfüllen konnte.

»Sie werden gleich nach Hause gefahren. Haben Sie zu dort jemanden, der nach Ihnen sehen kann?«

Die alte Frau nickte. »Meine Nachbarin, sie kauft für mich ein und kocht.«

Mühsam versuchte sie aufzustehen. Lisa half ihr.

»Bring sie zum Eingang und setze sie in ein Taxi. Sag dem Fahrer, er soll sie bis in die Wohnung bringen.«

Marie nickte. Die Frau nahm ihren Arm und stützte sich auf sie. Als Marie sich nach dem Rollstuhl umsah, hatte Lisa ihn schon in das nächste Zimmer geschoben. Am Haupteingang standen Helfer vom Roten Kreuz, die ihr die Frau und deren Gepäck abnahmen. Als sie wieder auf Station kam, schloss ihre Mutter die Tür zum Personalraum ab. Marie schaute auf die Uhr. Der Frühdienst war seit drei Stunden beendet.

»Was ist mit Hannah, kann ich noch einmal zu ihr?«

»Deine Freundin schläft, sie soll am Montag verlegt werden. Betty war gerade da, sie hat Rufbereitschaft. Wenn etwas mit Hannah sein sollte, ruft sie uns an. Wir gehen jetzt heim.«

Zu Maries Überraschung gingen sie durch den Haupteingang aus dem Gebäude. Ein Bundeswehroffizier gab ihnen zwei Passierscheine.

»Pass gut auf deinen auf. Er weist dich als medizinisches Personal aus«, raunte Lisa.

»Ich bin doch gar keine Schwester.«

»Das interessiert jetzt keinen. Der Notstand ist vor einer Stunde ausgerufen worden. Dieser Schein erlaubt es uns, uns frei zu bewegen.«

»Notstand?«

»Es gab Tumulte. Plünderungen. Die Lungenpest breitet sich rasend schnell aus, die Grippewelle bindet Ressourcen, aber das ist nicht das Schlimmste. Es gibt noch einen anderen Virus. Ähnlich der Tollwut. Sie vermuten, dass der Angreifer von Hannah damit infiziert ist. Die Menschen haben Angst.«

»Ich denke, er hätte Drogen genommen?«

Ihre Mutter antwortete nicht, inzwischen waren sie auf dem Klinikparkplatz. Überall standen Krankenwagen und Armeefahrzeuge. Patienten wurden auf die verschiedenen Wagen verteilt. Es ging erstaunlich ruhig ab. Hinter der Schranke, die zum Parkplatz führte, stand ein Auto im Halteverbot. Lisas. In ihm saß Katja, die Nachtschwester. Marie setzte sich nach hinten. Die Kisten vom Morgen waren nicht mehr im Auto.

»Ich bin bei deiner Mutter gewesen, es ist alles okay, wir waren sogar noch einkaufen.«

»Hast du geschlafen?«

»Deine Mutter hat darauf bestanden. Fast fünf Stunden. Als du angerufen hast, bin ich grade wach geworden.« Sie lachte freudlos und fuhr an. Marie lehnte sich zurück und schloss ihre Augen.

Infektion

Подняться наверх