Читать книгу Infektion - Ly Fabian - Страница 5
Katja
Оглавление»Wir sind da, bitte aussteigen!«
Lisa schüttelte Marie, die irritiert die Augen öffnete.
Sie saß immer noch auf der Rückbank des alten Fords ihrer Mutter.
»Wo ist deine Kollegin?«
»Katja ist in ihrer Wohnung. Ich bin weitergefahren. Du hast anscheinend gar nichts mitbekommen? Wir sind zu Hause, du kannst oben weiterschlafen.«
Marie kroch aus dem Auto. Ihr Hals tat weh und der rechte Arm war eingeschlafen.
Lisa drückte ihrer Tochter einen Rucksack in die Hand und nahm selbst zwei Koffer aus dem Auto.
»Wem ist das?«
»Das sind Sachen von Katja. Die kann sie mit dem Moped schlecht transportieren. Kannst du noch den Laptop aus dem Kofferraum nehmen?«
»Wieso haben wir Katjas Sachen?«
»Katja wird in den nächsten Tagen bei uns schlafen. In der Stadt wird es zu gefährlich.« Lisas Stimme klang rau.
Irene kam ihnen entgegen, um zu helfen. Im Erdgeschoss bewegten sich die Gardinen. Frau Maier spionierte. Marie überlegte, wie lange es dauern würde, bis sie, wie zufällig herauskam, um nachzufragen, was die Koffer bedeuteten.
Lisa stellte das Gepäck in die Abstellkammer.
»Soll sie hier schlafen?« Marie schaute in den Raum, in dem außer einem Schrank und einer alten Couch, nur das Bügelbrett stand.
Als Irenes Schwester noch lebte, hatte sie bei ihren seltenen Besuchen auf diesem Sofa übernachtet.
»Dein Zimmer ist zu klein, um ein weiteres Bett hineinzustellen und Oma braucht ihr Zimmer. Wir könnten natürlich eine Matratze in das Wohnzimmer legen, aber ich denke, Katja hat sicher gern etwas Privatsphäre, auch wenn der Raum nicht groß ist. Hilf mir bitte, ein Fach im Schrank für sie freizumachen. Das Sofa können wir ausklappen, dann ist die Bettfläche breiter.«
Lisa öffnete die Schranktür und nahm die Sommerkleidung heraus. Sie sortierte sie in große Plastiksäcke und deponierte diese auf dem Schrankdach.
Marie baute mit Irenes Hilfe das Sofa um, dann legten sie eine Tagesdecke darüber. Der Raum war jetzt ganz gemütlich. Schade nur, dass er kein Fenster besaß.
Lisa holte die Stehlampe aus dem Wohnzimmer und stellte sie hinter das Sofa.
»So, jetzt kann sie auch vom Bett aus Licht machen.«
Im Wohnzimmer war der Tisch gedeckt. Marie merkte jetzt erst, wie hungrig sie war. Der Tag war anstrengend gewesen.
Der Fernseher lief, doch diesmal sagte Irene nichts dagegen. Es wurde eine Kaltfront angekündigt.
»Zum Glück ist der Tank voll. Frieren werden wir nicht.« Irene seufzte.
Die Nachrichten zeigten neu errichtete Quarantäneeinrichtungen. Zwei Moderatoren diskutierten über die Einreisebestimmungen in Amerika.
»Die spinnen total!«, regte sich Lisa auf. »Sie haben eine neue Form von Polio, dazu die Lungenpest in ihren Ballungsgebieten, und stecken jetzt Einreisende in diese Baracken, damit sich auch noch der Letzte ansteckt.«
»Polio? Aber es gibt doch Impfungen dagegen.«
»Nicht gegen die neue Form, Marie. Aber die gibt es bis jetzt nur in den USA. Gefährliche Krankheiten gab es schon immer. Pandemien sind nichts Ungewöhnliches. Bis jetzt hatten wir, dank der modernen Medizin, Glück. Die Lungenpest ist äußerst aggressiv und hoch ansteckend. Die Immunisierung ist teuer und es gibt bis jetzt noch nicht genug Impfstoff, um alle Gefährdeten zu versorgen. Wirksame Medikamente haben wir nicht, dazu dauert es fast zwei Wochen, bis die Krankheit ausbricht. Das macht sie so gefährlich. Die Hälfte der Angesteckten überlebt die Infektion nicht. Von den Überlebenden tragen viele irreversible Schäden davon. Lähmungen, Sehstörungen und was weiß ich noch alles. Dazu kommt dann noch diese neue Seuche. Menschen verhalten sich irrational, verfallen in eine Art Wahnsinn und greifen andere an. Du siehst ja, was mit deiner Freundin Hannah passiert ist. Es kann sein, dass Kevin an dieser neuen Infektion leidet. Wir wissen nicht, ob er sie angesteckt hat. Deshalb musst du vorsichtig sein, wenn du bei ihr bist. Diese Krankheit breitet sich aus. Glücklicherweise ist sie nicht so ansteckend. Trotzdem wird im Netz Panik verbreitet, indem diese Infektion als Zombieseuche bezeichnet wird. Ich kann dir aber versichern, dass sie das nicht ist. Wenn es das Problem mit der Lungenpest, der Influenza-Epidemie und der Zunahme der multiresistenten Keime nicht gäbe, hätten wir diese Krankheit schon längst im Griff.«
Lisa hatte sich verausgabt. Rote Flecken überzogen ihr bleiches Gesicht.
»Mama, du siehst krank aus.«
»Ich bin kaputt Marie, einfach fertig. Du warst heute mit in der Klinik. Nur einen Tag. Ich mache das Theater seit Wochen mit. Wir waren noch nie gut besetzt und jetzt ist noch die Hälfte vom Personal krank. Grippe. Sie haben den medizinischen Notstand ausgerufen. Das bedeutet Urlaubssperre.«
Marie schaute betreten auf dem Tisch. Es stimmte. Was ihre Mutter die letzten Wochen leisten musste, war einfach zu viel.
»Wir sollten essen.« Irene schöpfte den dampfenden Bohneneintopf auf die Teller.
Der Moderator im Fernsehen beschwor die Zuschauer, sich an die Ausgangssperren zu halten. In Berlin wurde damit begonnen, Schulkinder zu evakuieren. In den Großstädten gab es Plünderungen. Auf dem Frankfurter Flughafen war es zu Tumulten gekommen, als Passagiere über andere herfielen.
»Hast du gehört Mama, er hat gesagt, sie benähmen sich wie Zombies! Und die Polizei hat auf sie geschossen, trotzdem sind sie weitergelaufen!«
»Das sind Menschen, keine Untoten. Sie leiden unter Wahnvorstellungen, haben ein vermindertes Schmerzempfinden, aber sie leben. Sie sind nicht tot. Man kann sie vielleicht sogar heilen. Einer unserer Ärzte glaubt, es sei eine Krankheit aus einem Labor.«
»Wer entwickelt denn so etwas?« Irene blickte irritiert auf dem Bildschirm, wo immer wieder die Aufnahmen aus dem Flughafen abgespielt wurden.
»Forschungen. Ähnlich denen, mit denen man versucht das Altern aufzuhalten, indem man Zellen dazu bringt, sich selbst zu erneuern. Stellt euch vor, was für einen Gewinn ein Medikament bringen würde, das bewirkt, dass ein Mensch nicht altert!«
Inzwischen wurde ein Wissenschaftler interviewt, der die Lungenpest als Weiterentwicklung des Ebola Virus bezeichnete und die Schuld am Ausbruch der Erkrankung Terroristen zuschob, die eine medizinische Einrichtung überfallen und diesen Virus absichtlich in Umlauf gebracht hätten. Bei der sogenannten Zombieseuche vermutete er eine gezielt hervorgerufene Mutation von Parasiten. Erst die Lungenpest und die darauffolgende Destabilisierung des Gesundheitssystems hätten die unkontrollierte Verbreitung ermöglicht.
»Hat er recht?«, fragte Marie ihre Mutter. Lisa überlegte.
»Hm, in der Natur gibt es Beispiele. Nematoden und Trematoden. Winzige parasitäre Würmer, die ihre Wirte kontrollieren und zu willenlosen Zombies machen. Schnecken als Zwischenwirte sind davon betroffen. Sie verhalten sich wie fremdkontrolliert. Klettern auf Gräser um sich fressen zu lassen. Säugetiere und Menschen sind ein Endwirt. Doch nur da, wo Hygienemängel vorherrschen. Was der Wissenschaftler andeutet, ist, dass diese Nematoden direkt, ohne Zwischenwirte, Menschen befallen und deren Handeln kontrollieren. Doch wer sollte so etwas entwickeln?«
»Wahrscheinlich fand es irgendein Forscher interessant. Einfach mal sehen, was alles so möglich ist?«, meinte Marie sarkastisch.
»Was sollte das für einen Sinn machen?« Irene schöpfte sich einen Nachschlag aus dem Topf.
»Nun, wenn man den Wurm kontrolliert, könnte man mit ihm Menschen kontrollieren. Perfekte Arbeitssklaven oder Soldaten, keine Ahnung.«
»Du siehst zu viele Horrorfilme, Kind«, rügte Irene.
»Mehr Horror ist doch kaum möglich!« Marie wies auf den Fernseher, der endlose Wagenkolonnen und verzweifelte Menschen, die den Fahrzeugen hilflos hinterherrannten, zeigte.
»Momentan haben die Behörden die Situation unter Kontrolle. Trotz Lungenpest und angeblicher Zombies. Der Flugverkehr wurde eingeschränkt, es wurde ein Versammlungsverbot ausgerufen und die medizinischen Zentren werden konzentriert. Mehr kann nicht gemacht werden. Sobald die Lungenpest besiegt ist, bekommen wir alles andere auch in Griff.«
»Und was ist bis dahin mit Hannah?«
»Die Notoperation ist gut verlaufen. Ob der Arm gerettet werden kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Hauptsache, Kevin hat sie nicht mit was weiß auch immer infiziert.«
Marie stellte sich winzige Würmer vor, die in Hannahs Gehirn krochen, und unterdrückte ein Schaudern.
»Kann man ihr nicht vorbeugend ein Antiwurmmittel geben?«
»Sie werden alles was möglich ist, für sie tun. Nur die Schulterprothesen-Operation werden sie erst im Militärkrankenhaus durchführen können. Danach braucht sie eine gute Reha. Wir müssen hoffen, dass der Gipfel dieser verfluchten Pandemie erreicht ist. Die Lungenpest ist viel gefährlicher und ansteckender als die Zombieseuche, von der kein Mensch die Übertragungswege und die wirkliche Ursache kennt.«
Irene stand auf, um die Teller abzuräumen, als es klingelte.
»Endlich, das ist Katja.« Lisa eilte zur Tür.
»Sorry, dass es etwas länger gedauert hat. Ich musste tanken und überall waren so lange Schlangen. Ich bin dann zu einem Freund gefahren, der auf dem Bauhof arbeitet. Er hat mir Benzin gegeben. Die haben eine Tanksäule für städtische Fahrzeuge. Das Gelände ist zwar geschlossen, aber er als Hausmeister ...«, Katja lachte. »Beziehungen sind heute mehr wert als Geld. Ich habe mein Moped hinter dem Haus abgestellt. Ist das okay so?«
»Wo genau?«
»Neben dem Schuppen.«
»Das geht. Willst du dein Zimmer sehen?«
Lisa führte Katja zu der Abstellkammer.
»Super, ein Bett, ein Schrank und Ruhe. Ich hatte schon Angst, ich müsste auf einer Luftmatratze im Wohnzimmer pennen.«
»Ehe ich es vergesse«, wandte sich Irene an Marie, »Sascha hat ein paar Mal angerufen. Du sollst dich bei ihm melden.«
»Ich rufe ihn an.«
Marie ging in ihr Zimmer. Draußen war es inzwischen dunkel. Sie startete den PC. Facebook. Unzählige neue Nachrichten. Sascha hatte eine Grafik gepostet. Der Link dazu war auf Englisch und kündigte die Apokalypse an.
Das war zu erwarten gewesen. Die Kommentare waren eindeutig, entweder Zustimmung oder Ablehnung. Es gab auch viele, die sich über die allgemeine Panik lustig machten. Krankheiten gab es immer schon, und wenn man ein paar Regeln einhielt, war eine Ansteckung, selbst mit Lungenpest, unwahrscheinlich.
Jeder der hustete, bildete sich heute ein, todsterbenskrank zu sein.
Die WHO hatte den Notstand ausgerufen, 70% aller Flüge waren gecancelt. In den Feriengebieten saßen die Urlauber fest. Kliniken waren überfüllt. Personal fehlte und es wurde an Freiwillige appelliert, sich dem Roten Kreuz anzuschließen.
Marie schrieb Sascha eine Nachricht. Kurz darauf klingelte ihr Handy.
»Verdammt Marie, wo warst du?«
»Ich war in der Klinik. Ich wollte Hannah sehen, sie wurde notoperiert. Sie muss noch ein zweites Mal operiert werden, sonst verliert sie ihren Arm.« Marie schluckte.
»Du weißt schon, wer sie angegriffen hat? Ihre Chancen stehen gut, dass sie infiziert ist. Ich hab es dir gesagt. Bald ist es zu spät!«
»Sie ist sehr schwer verletzt, aber sie hat keine Zombieseuche oder Tollwut, wie du es auch nennen magst. Und Lungenpest hat sie auch nicht. Ich gehe morgen wieder zu ihr.«
»In den Nachrichten kam, dass sie die Klinik evakuieren.«
»Ja, die haben heute angefangen, aber Hannah wird frühestens Montag verlegt.«
»Fragst du dich gar nicht, wieso ein funktionierendes Krankenhaus geschlossen wird, wo doch ein medizinischer Notstand ausgerufen wurde?«
»Es ist eine Privatklinik, die sind für eine Pandemie nicht ausgerüstet. Es ist billiger alle Kräfte zu konzentrieren, sagt meine Mutter.«
»Du solltest da besser nicht hin.«
»Ich muss, schon wegen Hannah. Ich stelle ihr jetzt Musik zusammen, damit sie ein bisschen Ablenkung hat.«
»Du weißt, wo du mich findest, wenn du es dir anders überlegst.« Er unterbrach die Verbindung.
Marie surfte noch ein bisschen im Netz. Auf der Seite ihrer Schule stand, dass der Unterricht in der kommenden Woche ausfallen würde.
»Oh, verlängerte Ferien?« Hinter ihr stand Katja.
»Ja.«
»Hat eure Schule einen Evakuierungsplan?«
»Wieso, was meinst du?«
»Teilen sie die Schüler ein?«
»Nach welchen Kriterien?«
»War nur ein Gedanke. Vergiss es einfach.«
Katja wandte sich abrupt um und verließ das Zimmer. Marie schaute ihr nachdenklich hinterher und googelte dann. Wie es aussah, wurden landesweit gezielt Schüler evakuiert.
Bei Facebook wurde eifrig diskutiert. Es gab Stimmen, die behaupteten, dass die gegenwärtige Situation von den Medien hochgepuscht worden sei. Dazu Aufnahmen von Menschen, die in Parkanlagen herumschlenderten, Kindern, die auf Spielplätzen spielten. Andere zeigten Vermummte bei Plünderungen und endlose Schlangen vor Geschäften. In einigen Foren stritten sich Leute bis aufs Blut. Dass es Versorgungsengpässe gab, läge nur an den Hamsterkäufen der Verbraucher.
Ist so ein Verhalten etwa normal?, fragte jemand, der einen Film gepostet hatte, in dem ein Junge, eine Straße entlang schlurfte und plötzlich einen Passanten anfiel. Die Aufnahme war verwackelt, sah jedoch ziemlich echt aus. In der Klinik hatte keiner der Patienten diesen abwesenden leeren Blick gehabt. Sie hatte auch keine Kranken gesehen, die an Lungenpest litten. Es gab einen Impfstoff gegen die Lungenpest, die Produktion lief auf Hochtouren. In den nächsten Wochen sollten, nach dem medizinischen Personal, auch gefährdete Personengruppen geimpft werden.
Irene saß im Wohnzimmer und schaute einen Liebesfilm. In ihren Händen hielt sie Stricknadeln. Dem Anfang nach würde es einen Pullover geben. Als es klingelte, schaute sie nur kurz auf.
Marie ging zur Tür.
»Guten Abend entschuldigt bitte die Störung. Wir fahren morgen ganz früh weg. Zu unserem Sohn, in den Allgäu. Hier ist der Schlüssel, gib ihn bitte deiner Oma, sie weiß schon Bescheid. Wir gießen heute Abend, es langt, wenn sie nächste Woche nach den Blumen schaut. Und habt bitte ein Auge auf die Wohnung, ja?«
Frau Schneider lächelte und gab ihr ein Schlüsselbund, bevor sie, ohne eine Antwort abzuwarten, zurück in das Obergeschoss eilte.
Marie brachte den Schlüssel zu Irene, dann ging sie in die Küche.
»Fahren wir morgen in die Klinik?«, fragte sie Lisa, die mit Katja Kaffee trank.
»Ja, aber erst gegen Mittag. Bist du sicher, dass du mitkommen möchtest?«
»Ja.«
»Gut, wir fahren gegen elf.«
Marie nickte und zog sich in ihr Zimmer zurück.