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Leben und Sterben
ОглавлениеDas letzte Zimmer. Endlich.
»Gülcin, in Zukunft will ich nur noch mit dir arbeiten.«
Lisa wischte sich über die Stirn.
»Ich habe in einem Hotel gearbeitet, bevor ich hier angefangen habe. Ich fülle nur noch die Spender in den Zimmern auf. Du kannst ruhig schon duschen, wenn du willst.« Gülcin warf Lisa ein Handtuch zu.
»Danke, ich beeile mich. Wenn Marie kommt, sage ihr bitte, sie soll in der Küche warten.«
Lisa ging zu ihrem Spind, um sich frische Wäsche zu nehmen. Ihre Kleidung klebte unangenehm am Körper. Sie legte die Sachen auf die Untersuchungsliege, bevor sie die Duschkabine betrat. Warmes Wasser entspannte ihren Körper. Das teure Duschgel gehörte der Stationsärztin. sie nahm eine großzügige Dosis.
»Geht es dir besser?« Gülcin musterte Lisa besorgt, als diese frisch umgezogen das Dienstzimmer betrat.
»Du musst deine Haare föhnen.«
Lisa trat zum Spiegel. »Ja. Weißt du, wo ein Föhn ist?«
Gülcin öffnete den Schrank und reichte Lisa einen weißen Reiseföhn. »Hier. Setz dich hin, ich föhne dich.«
Lisa setzte sich in den weichen Sessel vor den Schreibtisch und schloss die Augen, als die Ältere ihr gekonnt das Haar frisierte.
»Du hast jede Menge Talente. Bist du auch Friseuse?«
Gülcin gluckste. »Ich habe zwei Töchter. Ich kann dir auch die Haare schneiden, wenn du möchtest.«
»Nene, lass mal. Ist Marie schon da?«
»Bis jetzt noch nicht.«
Lisa schaute auf die Uhr. Fünf Minuten nach sieben.
»Ich habe sie extra gebeten, rechtzeitig zurückzukommen. Sie braucht ja nicht zu duschen, aber sie muss sich noch umziehen. Ich wollte endlich einmal pünktlich weg.«
»Vielleicht muss sie oben helfen? Die haben noch Patienten. Unten ist auch ziemlich viel los.« Gülcin schaute aus dem Fenster. »Jetzt sind noch mehr Soldaten da.«
»Was ist denn da los?«
»Sie evakuieren die restlichen Patienten vom Erdgeschoss. Aber es stehen immer noch Krankenwagen herum.«
»Nein, das meine ich nicht. Da hinten, schau mal. Es brennt!«
»Das muss irgendwo in der Innenstadt sein.« Gülcin biss sich auf die Lippen.
»Ich hole jetzt Marie, wenn du möchtest, bringen wir dich nach Hause.«
»Ich kann mit dem Bus fahren.«
»Nein, lass mal. Ist kein Umweg.«
Lisa bezweifelte, dass der Bus den Fahrplan einhalten würde. Die letzten Tage hatte es auch schon Störungen gegeben. Gülcin war deswegen später als sonst eingetroffen.
»Lisa, glaubst du ich kann mir ein paar Medikamente mitnehmen? Schmerztabletten?«
»Hier sind sicher noch Musterpackungen, ich schau mal.«
Lisa öffnete den Schreibtisch des Stationsarztes. Nachdem hier sowieso alles den Bach runter ging, war Gülcins Wunsch mehr als verständlich. Sie durchsuchte die Schubladen.
»So, das ist zur Beruhigung, da sind Schmerztabletten und hier haben wir auch noch Antibiotika. Das muss aber unter uns bleiben. Der hat die Packungen zwar auch nur von Pharma-Vertretern geschenkt bekommen, aber wir dürfen sie nicht einfach nehmen.«
»Ist okay. Danke. Ich sage nichts!«
Lisa schloss den Schreibtisch wieder ab. Praktisch, dass der Schlüssel vom Stationszimmerschrank auch hier hier passte. Sie beobachtete, wie Gülcin die Medizin in ihrer großen Tasche, neben zwei Desinfektionsflaschen und einer Handschuhpackung, verstaute. Sie sollte vielleicht auch noch eine Packung Einmalhandschuhe mitnehmen. Gut, dass Marie den Rucksack dabei hatte.
»Ich warte hier.« Gülcin setzte sich auf einen der Sessel im Flur, vor der Station, die sie sorgsam abgeschlossen hatten. »Lass dir Zeit.« Sie nahm eines der Magazine vom Tisch und begann zu lesen.
Lisa drückte auf den Aufzugknopf, entschied sich aber dann doch für die Treppe, statt zu warten. Die Tür zur Intensivstation stand offen. Die Aufzugtür war blockiert. Lisa half dem Sanitäter eine sperrige Liege, auf der ein Mann festgeschnallt war, in den Aufzug zu schieben, danach betrat sie die Station. Ein Arzt rannte, ohne sie zu beachten, in ein Patientenzimmer. Im Verbandsraum standen Soldaten und stritten sich mit einer Pflegerin, die Lisa nur vom Sehen kannte.
Betty kam mit einem Tablett aus der Küche.
»Lisa, was machst du denn hier?«
»Ich möchte meine Tochter abholen.«
»Sie ist bei ihrer Freundin. Letztes Zimmer, komm ich zeige es dir.« Betty stellte das Tablett in das Stationszimmer und begleitete Lisa.
Marie beugte sich gerade zu Hannah hinunter, um sie besser zu verstehen, als Lisa sie zurückriss.
»Kind, du musst Abstand halten!«
Lisa war schockiert, Hannah sah entsetzlich aus.
»Sie wollte mir gerade etwas sagen!«, empört wandte sich Marie ihrer Mutter zu. Hannah stöhnte, ihre Lippen waren geschwollen, die Augen weit aufgerissen.
»Oh mein Gott! Geht mal beiseite!« Betty nahm das Ohrthermometer.
»Das Fieber ist etwas heruntergegangen, aber die Augen gefallen mir gar nicht.«
Sie schlug die Decke beiseite.
»Der Arm wird nekrotisch. Sie hätten ihn besser gleich amputiert.«
Lisa war schockiert.
»Ich dachte sie soll operiert werden!« Marie biss sich auf die Lippen.
»Unter normalen Umständen hätte man vielleicht etwas machen können. Aber deine Freundin hat einen schlechten Zeitpunkt erwischt«, flüsterte Betty. »Ich bezweifle, dass wir ihr noch helfen können.«
»Wir brauchen einen Arzt!« Marie rannte aus dem Zimmer.
Lisa und Betty schauten bekümmert auf Hannah.
»Deswegen holen Sie mich? Die ist doch so gut wie tot, hier kann keiner mehr etwas machen!«
Der Arzt hatte nur einen Blick auf das Mädchen geworfen, bevor er fluchend aus dem Zimmer eilte. Fassungslos schaute Marie ihm hinterher.
»Was für ein Arsch. Hab keine Angst, ich bleibe bei dir!«, versprach sie der stöhnenden Freundin und streichelte ihre heiße Hand.
Lisa schluckte. »Marie, das geht beim besten Willen nicht. Wir müssen jetzt fahren.«
»Bitte Mama, Hannah ist meine beste Freundin. Ich kann sie jetzt nicht allein lassen! Stell dir vor, ich würde an ihrer Stelle hier liegen!«
Marie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie umklammerte Hannahs Hand.
»Lass sie bei ihrer Freundin. Sie kann in einem Dienstzimmer übernachten«, flüsterte Betty. »Du bist ja morgen wieder da und kannst sie dann mitnehmen. Ich bleibe auch hier. Habe Rufbereitschaft.«
Hannahs Augen schauten in eine unbestimmte Ferne. Die riesigen schwarzen Pupillen, die gelbe Sclera und das porzellanweiße Gesicht mit der durchscheinenden Haut ließen sie fremdartig aussehen. Ihr langes blondes Haar lag, in einem Zopf gebändigt, auf der rechten Seite.
»Gut, dann bleibe bei ihr. Oma wird nicht glücklich sein, wenn ich allein nach Hause komme. Pass auf dich auf.«
Lisa umarmte Marie zum Abschied. »Hier ist der Schlüssel von meinem Spind. Den anderen Schlüssel hast du ja noch.«
»Sag Oma, dass es mir leidtut. Aber ich kann Hannah jetzt nicht allein lassen.«
Lisa nickte unglücklich. Sie kannte das Mädchen auch schon sehr lange. Ihre Eltern lebten erst seit kurzem getrennt.
»Schade um die Kleine«, meinte Betty, als sie mit Lisa die Station verließ. »Sie wird es nicht mehr lange machen.«
»Gestern sah es noch so aus, als ob sie eine Chance hätte. Wenn sie nur besser gleich amputiert hätten.«
»Ich weiß es nicht. Das Mädchen liegt im Sterben. Ich werde ihr Morphin spritzen, dann quält sie sich nicht so lange. Ich habe vorhin schon versucht, die Mutter zu erreichen. Leider vergeblich.«
»Sie wohnt nicht weit von mir, ich fahre auf dem Heimweg bei ihr vorbei. Kümmerst du dich bitte um Marie?«
»Ja, keine Sorge. Wir verlegen gerade noch zwei Patienten, dann ist es ruhiger und ich habe Zeit für sie.«
Lisa verabschiedete sich von Betty und eilte nach unten.
Gülcin saß immer noch auf ihrem Sessel und blätterte in einer Zeitschrift.
»So, sorry, hat etwas länger gedauert. Meine Tochter bleibt hier bei ihrer Freundin, es sieht schlecht aus für das arme Mädchen.« Lisa wischte sich eine Träne von der Wange.
»Oh nein, wie furchtbar!«
»Die arme Mutter. Sie war am Morgen noch hier. Die Stationsleitung hat versucht anzurufen und sie bis jetzt nicht erreicht.«
»Sie hätte bei ihrer Tochter bleiben müssen!«
»Gülcin, das geht nicht immer. Die Frau arbeitet. Dazu hat sie noch einen kleinen Jungen, um den sie sich auch kümmern muss. Heute früh sah es auch noch nicht so schlimm aus. Erst in den letzten Stunden muss es rapide bergab gegangen sein. Es ist so schlimm!«
Lisa strich sich das Haar aus der Stirn, dann zog sie sich eine Cola aus dem Automaten. »Ich habe auch schon wieder so verdammte Kopfschmerzen.«
»Da, willst du?« Gülcin zog eine Packung Ibuprofen aus ihrer Manteltasche.
»Danke, das ist meine Zweite heute. Ist fast schon ein Grundnahrungsmittel für mich.« Lisa steckte die Tablette in den Mund und spülte mit einem Schluck Cola nach.
»Also los, gehen wir. Hoffentlich leben meine Reifen noch.«
Gülcin schulterte ihre Tasche. Sie nahmen die Treppe. Im Erdgeschoss standen jede Menge leerer Betten auf dem Gang. Lisa schluckte, als sie daran dachte, dass ihnen morgen wahrscheinlich dieses Geschoss bevorstand. Außer der Ambulanz und den Funktionsräumen, Röntgen und Physiotherapie gab es allerdings hier unten nur eine Station.
Im Empfangsbereich lümmelten mehrere Soldaten herum. In dem dahinterliegenden Café wurden die Tische gedeckt. Es roch nach Eintopf. Ein Offizier kam auf sie zu.
»Was machen Sie hier?«
»Wir arbeiten hier. Im ersten Geschoss.«
»Das wurde geräumt.«
»Stimmt und wir haben die Stationen für ihre neue Bestimmung als Auffanglager vorbereitet.«
»Nein, das wird ein Militärstützpunkt. Letzte Anweisung. Bin auch nicht begeistert. Seit drei Stunden machen wir das Gebäude dicht.«
Er begleitete Lisa und Gülcin zum Ausgang.
»Der Garten ist schon gesichert. Beim Eingangsbereich werden noch mehrere Lagen Stacheldraht verlegt.«
Er zeigte auf ein paar Männer, die riesige Rollen aus einem Fahrzeug hoben und Zäune aufstellten.
Schockiert schaute Lisa sich um. Der Parkplatz war fast nicht wiederzuerkennen. In der Ferne qualmte es.
»Sehen Sie? In der Stadt gab es Plünderungen. Diese Schweine haben brennende Barrikaden aufgestellt. Ich bin froh, dass unser Nachschub noch durchgekommen ist.« Er wies auf zwei Lastwagen, die gerade entladen wurden.
»Wo wollen Sie hin?«
»Nach Hause«, krächzte Lisa.
»Die öffentlichen Verkehrsmittel haben vor Stunden den Dienst eingestellt. Vielleicht sollten Sie lieber bleiben?«, schlug der Offizier vor. Er war schon älter. Seine Haare waren grau, das Gesicht voller Falten, doch er sah sympathisch aus.
»Ich muss nach Hause!« Gülcins Stimme überschlug sich fast.
»Ich auch«, murmelte Lisa. »Meine Mutter dreht durch, wenn ich nicht komme. Mein Auto steht vor der Klinik.«
»Müssen Sie in Richtung Innenstadt?«
»Nein, wir wohnen außerhalb.«
»Wir fahren später auch zurück zur Kaserne.«
»Bleiben Sie nicht hier?«
»Nein, nur eine Notbesetzung. Wir haben zu wenig Leute. Einer unserer Wagen bringt jetzt diese Zivilisten in ihr Altenheim zurück.« Er wies auf ein Fahrzeug, das einige, in Rollstühlen sitzende Personen, einlud. »Sobald die zurück sind, fahren wir.«
Eine Schwester, von der Lisa wusste, dass sie in der Ambulanz beschäftigt war, eilte zu ihnen.
»Hallo Lisa, du bist ja auch noch hier. Ich begleite die Patienten in ihr Heim. Obwohl zwei davon eigentlich hier bleiben müssten.« Sie schaute böse auf den Offizier. »Bist du noch da, wenn ich zurück bin? In einer Stunde sind wir wieder hier.«
Lisa schaute zu dem Fahrzeug, in das zwei Soldaten gerade den letzten Rollstuhl hineinhoben.
»Nein, wir fahren jetzt.« Der Offizier ging zu dem Wagen und verriegelte die Tür.
»Passt auf, die haben mich zwangsverpflichtet, ich hätte eigentlich schon seit Stunden frei!«, raunte ihr die Kollegin leise zu, bevor sie dem Soldaten hinterherlief und in das Auto einstieg.
»Verdammte Scheiße. Hätte ich mich nur krankgemeldet.« Gülcin stöhnte. Bevor Lisa etwas erwidern konnte, kam der Offizier zurück.
»Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich begleite Sie zu ihrem Auto.«
Sie umrundeten vorsichtig die halb entwirrten Stacheldrahtrollen, die überall herumlagen. Am Ausgang des Parkplatzes salutierten zwei Soldaten.
»Mein Auto steht gleich hinter der Ecke.« Lisa lief voraus. Das Fahrzeug stand genauso da, wie sie es abgestellt hatte. Nur war es leider völlig zugeparkt. Neben ihr standen zwei Lastwagen auf der Straße.
»Oh mein Gott, wer stellt sich denn so bescheuert hin!«
»Hm, tut mir leid, es sieht so aus, als ob diese Wagen zu uns gehören. Keine Sorge, die fahren gleich weg. Begleiten Sie mich zurück, dann können Sie so lange noch etwas essen.«
»Wir können auch hier warten.«
»Ich denke, es ist besser, Sie kommen mit. Ich sorge dafür, dass Sie schnellstmöglich fahren können.«
Notgedrungen folgten ihm die beiden Frauen. Auf dem Parkplatz waren die Soldaten inzwischen damit beschäftigt, Sperrzäune aufzustellen.
Würde mich nicht wundern, wenn sie den Weg noch verminen, dachte Lisa und überlegte, noch einmal hochzugehen, um Marie zu zwingen, sie doch zu begleiten. Wenn sie nur nicht so kaputt wäre!
Sie ließ sich neben Gülcin auf einen Stuhl fallen. Ein junger Gefreiter brachte ihnen einen Teller Suppe, in dem Wurststücke schwammen.
»Kann ich noch einen Kaffee haben?«, bat Lisa.
»Ich bitte auch«, rief Gülcin, die die Wurst misstrauisch beäugte.
»Keine Sorge, ist Rindswurst«, beruhigte sie der Offizier lächelnd, der sich mit einem vollen Teller zu ihnen setzte.
»Ich habe mit den Fahrern gesprochen. Sie fahren gleich weg. Nach dem Essen begleite ich Sie zu Ihrem Wagen.«
Lisa nickte. Inzwischen war es schon kurz nach 20 Uhr. Sie sollte vielleicht Irene anrufen. Die würde jetzt schon wie auf heißen Kohlen sitzen. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche.
Katja nahm ab. »Hallo, es wird etwas später, keine Sorge, uns geht es gut, wir wurden hier nur etwas aufgehalten ... Ist bei euch alles ok? ... Marie bleibt bei Hannah, ihrer Freundin geht es sehr schlecht. Vielleicht kannst du Irene schonend vorbereiten? ... Gut, bis gleich.«
Sie steckte das Handy wieder ein. Der Offizier reichte ihr eine Karte. »Hier, wenn irgendetwas ist. Sie können mich jederzeit anrufen.«
Lisa lächelte. »Das ist sehr freundlich. Danke.«
Der Offizier wandte sich ab, um mit einem Gefreiten zu diskutieren. Gülcin brachte die leeren Teller in die Küche, Lisa trank den restlichen Kaffee und erhob sich.
»So, die Wagen wurden rangiert. Ich bringe sie zu ihrem Fahrzeug.«
»Gefällt er dir?«, raunte Gülcin. Lisas Wangen verfärbten sich. Sie schüttelte den Kopf und folgte dem Mann.
»Sieht fast so aus, als wollten die hier ein Gefängnis errichten.« Gülcin beäugte die Sicherheitszäune misstrauisch, während sie sich durch den Gang quetschten.
Lisas Wagen war frei. Der Offizier blieb stehen und schaute zu, wie sie einstiegen.
»Ich hatte die ganze Zeit Angst, er lässt uns doch nicht fahren«, flüsterte Gülcin, nachdem sie losgefahren waren.
Da bist du nicht die Einzige, dachte Lisa. »Wann musst du morgen in die Klinik, soll ich dich abholen?« »Zwischen zehn und elf. Aber ich werde mich krank melden.« »Kann ich verstehen, würde ich auch. Doch meine Tochter ist dort, ich kann sie da nicht allein lassen.« Lisa seufzte. »Bleibt mir also nichts übrig, als noch einmal hinzufahren.«
Die Straßen waren weitgehend frei. Auf der Autobahn fuhren nur in der Gegenrichtung vereinzelte Fahrzeuge.
Lisa setzte Gülcin, die im Nachbarort wohnte, direkt vor deren Haustür ab. Auf der Straße sah sie einen Hundebesitzer, der mit seinem Schäferhund spazieren ging. Gülcin schaute zu dem erleuchteten Fenster, hinter dem ihre Tochter mit einem Kind im Arm stand.
»Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.« Sie nahm ihren schweren Beutel vom Rücksitz. »Pass auf dich auf.«
Lisa fuhr an. Morgen würde wieder so ein verdammter Putztag werden. Marie müsste ihr dann eben helfen. Ob Hannah noch lebte? Manchmal zog es sich hin, mit dem Sterben. Aber Betty hatte ja versprochen, dem Mädchen Morphin zu spritzen. In diesem Zustand, reichte eine Dosis um das Leid schnell zu beenden.
In Gedanken versunken achtete Lisa einen Moment nicht auf die Straße. Ein entgegenkommendes Fahrzeug hupte. Sie verriss das Steuer und ihr Auto schleuderte gegen einen Bordstein. Ihr Hände zitterten, als sie hielt. Das andere Auto fuhr weiter. Es war nichts Schlimmes passiert, nur eine Delle im Kotflügel. Ärgerlich, aber nicht zu ändern. Sie setzte sich zurück in ihr Auto. Es dauerte eine Weile, bis sie sich so weit unter Kontrolle hatte, um weiterfahren zu können. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liefen zwei Betrunkene, die sich, als sie Lisa bemerkten, schwankend in ihre Richtung bewegten. Kurz überlegte sie, ob sie Hilfe anbieten sollte, bevor sie den Wagen startete und weiterfuhr.
Heute keine Probleme mehr, dachte sie, während sie ihr schlechtes Gewissen ignorierte. Irene stand schon am Fenster und eilte hinunter um sie zu empfangen.
»Marie hat angerufen. Hannah ist gestorben.«
Verdammt, dachte Lisa. Hannahs Mutter, die habe ich ganz vergessen.