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I Der Wolf in der Schafsherde — Wieso und warum ich in Paris blieb — Der polizeiliche Hammel

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Hageldicht fallen die Schläge . . . ich schreie, und die Schreie ersticken mir in der Kehle. . . . Im nächsten Augenblick werde ich wach . . . nein, es ist ja nur ein Traum gewesen, ich werde nicht geschlagen, das Zuchthaus liegt hinter mir. . . . Immer noch aber tönt es fort, wird zum Winseln, erstirbt langsam, und nur ein schmerzvolles Stöhnen bleibt. . . .

Krieg! In Paris war es gewesen, am 26. Juli 1914, als dies Wort in allen Tonarten und Varianten gerufen, gesungen, gepfiffen und geschrien wurde; als ich mir zum ersten Male seines ganzen furchtbaren Ernstes und seiner weittragenden Bedeutung bewusst zu werden begann. Wie ein Wolf brach es in meine Ahnungslosigkeit hinein und ließ meine Gedanken, die friedlich bürgerlich auf berufliche Auseinandersetzungen eingestellt waren, umherrennen wie eine Herde Schafe.

Wir hatten nichts, aber auch gar nichts davon gewusst auf unserem stillen Landsitz in Englands sonnigen Süden Wohl redeten die Zeitungen in leiser, vorsichtiger Sprache von Serbiens schwerer Lage. Aber die gleichen Blätter fanden freundliche Worte der Sympathie für Braunschweigs junges Fürstenglück.

Wohl waren auf einmal auffallend viele Truppenübungen in der Nähe Eastbournes zur Mode geworden.

Die weiten Sandflächen zwischen dem Bad und Haftings berühmten Normannentürmen waren dicht mit den kleinen Zelten bestanden. Doch blieb in allem das beim englischen Heer so beliebte Schaugepräge gewahrt. Man vermutete einen Werbetrick mehr darin, nichts weiter. Und die großen und kleinen Kinder sahen mit aufgerissenen Augen dem fidelen Lagerleben zu, das sich gemütlich in der allerbreitesten Öffentlichkeit abspielte. Wenn wir in unserem Cab an den lachenden Soldaten vorbeigefahren waren, hatte mein kleiner Sohn oft mit verlangenden Blicken den goldblitzenden, farbenfreudigen Uniformen nachgesehen und sie ganz entschieden schöner gefunden als die heimatlichen. Man denke — rote Röcke mit Goldstickerei, ein elegantes Spazierstöckchen, den studentenmützenartigen Kopfdeckel keck auf der Seite, darauf soll ein Junge nicht springen?

Natürlich brachte mein Sprössling meinen Jagdreitmantel angeschleppt und meinte in seiner Mannesarroganz:

„Ach weißt du, Mammy, den kannst du mir schenken, das gäbe eine feine Uniform für mich, so ganz indisch — knallrote Aufschläge und Goldknöpfe.“ Und mit beiden Armen zugleich fuhr der kleine Gernegroß hinein, dass der Rock in allen Nähten krachte.

Ernstere Schlussfolgerungen ergaben sich nicht aus des

Nähe des Lagers. Wir spielten Tennis und ritten Jagden, das übliche Frühlingsvergnügen Englands, dem auch ich alle die Zeit widmete, die mir meine klinische Tätigkeit übrig ließ, bis mich ein schwerer Sturz auf das Bett warf. Die notgedrungene Ruhe benutzte ich zur Abfassung der Arbeit, die mich nach Paris geführt hatte.

Und in dieser Zeit sollte die Vorgeschichte des Krieges gereift sein? Das schien mir unglaublich, unfassbar. Nun war allerdings, wie stets bei produktivem Schaffen, in den letzten Wochen kaum eine Zeitung in meine Hände gekommen, und meine Freunde, bei denen ich mit meinen Kindern lebte, standen in ihrer stillen vornehmen Zurückgezogenheit aller Politik weltenfern. Aber dennoch! Sicherlich würden sie mich beim leisesten Verdacht größerer Schwierigkeiten als einer serbisch-österreichischen Vermittlung aus meinem Phantasiedasein aufgeweckt haben. Sie wussten nichts, so wenig wie die anderen.

Und ich war so ruhig, so gänzlich von friedsamen Gedanken erfüllt über den Kanal gefahren.

Aber schon der nächste Tag, der 27. Juli, sollte mich herausreißen aus meiner Hoffnung, die alles Kriegsgeschrei der aufgeregten Franzosen für Auswüchse eines übertriebenen Fanatismus hielt. Ich bummelte so ganz gemütlich von der Rue Madelaine über die Boulevards hinauf zur Redaktion des „Matin“, die das kurz zuvor von mir fertiggestellte Werk übernommen und schon seit langem um eine Unterredung gebeten hatte. Aber am Café Springer stand jäh eine derartige Menschenmauer quer vor mir, dass mir nur der Trick, mich als englische Journalistin auszugeben, den Weg durch die Absperrung bahnte.

Eine enorme, aufgeregte Menge presste sich um das Redaktionsgebäude. Schutzleute zu Fuß und zu Pferd konnten nur mit Mühe die Ordnung aufrechterhalten.

Mit scheuen, blassen, mit aufgeregten, flammendroten Gesichtern, in denen der Fanatismus mit der Angst, die Erwartung mit der Brutalität kämpfte, warteten die Menschen auf die Neuigkeiten, die tropfenweise durchsickerten.

Der Chefredakteur selbst empfing mich in hellster Aufregung: „Aber Madame, warum sind Sie nicht eher gekommen. . . . Wir können ja von heut auf morgen keinerlei Entschluss mehr fassen. . . . Und nun kommen Sie und wollen Ihr Wert zurückziehen.“

Er wandte seine ganze Redekunst auf, mich von meinem Vorsatz abzubringen, aber ich blieb fest. Wusste ich doch, wenn dieses Manuskript, das für andere Zeiten bestimmt und dessen Zurückgabe ich nach den jüngsten Erlebnissen fordern zu müssen glaubte, nicht zu finden war. Was mir der Chefredakteur unter tausend Schwüren glaubhaft zu machen suchte, so geschah das einfach deshalb, weil den Herren Franzosen gerade der richtige Zeitpunkt zur Veröffentlichung gekommen zu sein schien und sie jetzt nicht damit herausrücken wollten. Für den Augenblick musste ich mich damit zufrieden geben, gegen die Drucklegung zu protestieren, es war weiter nichts zu machen. Mit unendlicher Höflichkeit hinauskomplimentiert, stand ich wütend und ratlos unter der Menge.

Hm! Was nun? . . . . Wenn wirklich Krieg drohte zwischen der Heimat und Frankreich, dann würde England bombensicher mitgeben, darüber war ich mir klar.

Was aber dann? Um einer Gerichtsverhandlung, die meine nächsten Verwandten bloßgestellt hätte, aus dem Wege zu gehen, war ich im Januar 1914 nach England gefahren, wo ich im Schutz meiner Freunde und der Behörden, die mir in der weitestgehenden Weise entgegenkamen, in friedvollster Sicherheit gelebt hatte. Nun war mit einem Schlage die Lage verändert. Ging England mit Frankreich gegen Deutschland, so musste auch ich das Land verlassen. Es blieb mir die Schweiz, doch mit den Kindern in das Ungewisse gehen? — Nein! — Die Kinder allein würden wohl unbehelligt in England bleiben dürfen, ich selbst wollte mich in Paris der Krankenpflege widmen und war sicher, dass ich Gelegenheit bekommen würde. den Unsrigen Dienste zu leisten. Aus diesem Entschluss heraus ging ich gleich am nächsten Morgen zur Rue Francois Premier 21, dem Hauptsitz des französischen Roten Kreuzes.

Gräfin H. die Vorsitzende, war mit ihrem ganzen Komitee in ernstester Beratung; sie empfing mich mit der typisch französischen Verve. „Liebe Doktoresse! Noch können mir von eigentlicher Organisation nicht sprechen. Bisher haben wir nur die Geheimordre, uns bereit zu machen, was ja eigentlich so gut wie eine Mobilisation ist, aber unsere Vorbereitungen sollen streng geheim bleiben.

Ich werde Sie jedoch schon auf unsere Listen setzen. Sobald ich Gewissheit habe, bitte ich Sie zu mir. . . . Mit Ihren Sprachkenntnissen werden Sie uns eine kräftige Stütze sein.“ Ich nahm eine Zeitlang an den Beratungen teil und fuhr dann von hier aus sofort zum Chef der Sicherheitspolizei, Monsieur Mouton.

Er gab mir für den Fall der Kriegserklärung formelle Erlaubnis, in Paris zu bleiben: auch dazu, dass ich zu dem Namen Booth zurückgreifen solle, den ich in England geführt hatte, um im selbstgewählten Unbekanntsein leben zu können.

Wie ist es nur möglich, dass ein Mensch so jäh zum vollendeten Schauspieler wird?

Und ich muss meine Rolle gut gespielt haben. Möglich, dass tatsächlich die Reinheit meiner Motive mir die Sicherheit des Auftretens gab. Und es war rein und dem Feinde gegenüber ehrlich gehandelt gewesen — abgesehen von der kleinen Lüge über meine Abkunft — bis zu dem Augenblick, wo ich, atemlos vom raschen Treppensteigen erschöpft, auf dem roten Rundsofa des Vorderzimmers niedergesunken war. Hier versammelten sich auch die zu wichtigen Rapporten befohlenen Geheimagenten; es war ein immerwährendes Kommen und Gehen! Hier nun hatte ich eine Nachricht aufgeschnappt, die, so kurz sie war, mich im tiefsten Innern erregte.

Von dieser Nachricht machte ich Mouton gegenüber Gebrauch, andeutungsweise gesagte Vermutung in bestimm ausgesprochene Behauptung verwandelnd und damit die gewünschte Wirkung auslösend: Vertrauen zu erwecken.

Der gute Chef bat mich sogar, wenn ich seiner oder seines Rates bedürfe, ihn nur aufzusuchen. Dadurch war ich bevollmächtigt, mich zu jeder Zeit im Vorzimmer einzufinden, ohne Verdacht zu erwecken.

Am Mittwochmorgen verließ ich das Hotel Mont-Tabor und vermachte zum Abschied dem immer ungenießbarer werdenden Inhaber meinen schönen Namen „van Brackel“.

Inzwischen waren die Unruhen auf den Boulevards immer größer geworden. Ganz offen wurde die Kriegsgefahr erörtert. Offen von den Vorbereitungen gesprochen. In den Zeitungsbureaus sah man jene lächelnd verschwiegenen Mienen, wie sie die Skribifaxen immer dann anlegen, wenn etwas verheimlicht werden soll und sie es doch so brennend gern sagen möchten.

Ich ging wieder nach dem Roten Kreuz, sah die Vorstandsdamen und erstattete Bericht von meinem Besuch bei der Polizei, was ersichtlich einen guten Eindruck hervorrief. Hier war die Lage bereits vollständig klar. Die einzelnen Kriegebureaus begannen zu funktionieren, besonders die Propaganda für Spenden arbeitete intensiv.

Und doch leugneten die Zeitungen offiziell noch jede Kriegsidee.

Donnerstag, den 30. Juli, schrieb sich im Hotel Star, Rue Galilei Art de Triumphe, eine Mrs. Booth ein. In diesem bescheidenen Hotel Star — Family Hotel — war ein kleiner deutscher Kellner, und in dem fürstlichen Hotel Adlon, dessen Hinterfenster in die gleiche Straße gingen wie die Frontfenster des Hotel Star, war ein kleiner deutscher Page, außerdem zwei deutsche Offiziere, die seit einigen Tagen von Geheimagenten beobachtet wurden und gänzlich ahnungslos waren, was einer der Agenten im Vorzimmer des Herrn Mouton in Gegenwart der Frau v. B. aus dem Hotel Mont-Tabor erzählt hatte.

Am 30. Juli in der Nacht verschwanden die beiden Offiziere, und die hohe Polizei war wütend, sie schäumte, dass ihr der Fang entgangen war. Keine Spur war zu entdecken. Aber wie zum Hohn hatten die beiden Geflüchteten Teile eines „drahtlosen Empfängers“ aus dem Balkon ihres Zimmers liegengelassen.

Das war böse! Wer hatte sie gewarnt? Natürlich bedauerte Mrs. Booth ganz besonders diesen Reinfall und fuhr Freitag, den 31. Juli, persönlich zu Herrn Mouton — zu Deutsch Hammel — der auch eine ziemlich belämmerte Miene machte. Sie konnte das tun, denn natürlich war ihr Gewissen rein. Wie sollte es auch anders! . . . Was wusste sie von der Geschichte? Gar nichts . . . sie hätte doch nie ihre Hände zu solchen Dingen hergegeben. Was konnte sie dafür, dass der kleine deutsche Kellner dem kleinen deutschen Pagen einen kleinen deutschen Zettel gab, auf dem stand: „Vorsicht — Gefahr — Sie werden beobachtet!“ Davon wusste diese schlanke, typisch blonde Engländerin natürlich nichts. Aber nachmittags gegen zwei, da glaubte sie vor der Gare du Nort einen ihr bekannten deutschen Offizier gesehen zu haben; hinter dieser Person jagte dann auf ihre Veranlassung bald ein Spitzel hinterdrein.

Wenn die Jagd vergeblich war und die eigentlich Gesuchten in der Zeit just nach der entgegengesetzten Seite entwischten, was konnte wiederum sie dazu?! Und die „Sûreté“ war von den patriotischen Gesinnungen durchaus überzeugt — beugte sich bis zur Erde und sagte: „Mes hommages, Madame!“ (Mein Kompliment, gnädige Frau)

„Prosit, Herr Hammel!“

Zuchthäuslerin Nr. 5553

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