Читать книгу Zuchthäuslerin Nr. 5553 - Ly van Brackel - Страница 5

II Das siegestrunkene Paris — Bittere Reflexionen — Fatum — Eine teure Flasche Rüdesheimer — Die Sans-chaussures — Frankreichs Schande — Ein tapferes Dämchen — Das Medical-Hotel

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Als ich am 1. August an der Oper aus der Metro stieg, umgab mich auf einmal eine so unheimliche Stille, ein so glatter Abbruch jeglichen Verkehrs, als ob Paris im Dornröschenschlaf versunken wäre. Kein Wagen war zu sehen — kaum ein Fußgänger.

Doch ich dachte mir gleich, wohin das Leben geflutet sein mochte, und machte mich schleunigst nach Montmartre auf. Da flammte nun alles im hellsten Jubel. Wie durch Zauber hatten sich die Häuser mit Fahnen bedeckt, bunte Lampions hingen in den Fenstern, und in den Straßen drängte sich die aufs höchste erregte Menge. Zum Glück fand ich nach ein Eckchen, in das ich mich hineinquetschen konnte, und ein Glas Kaffee, um einen Vorwand zum Sitzen zu haben.

Rings um das Häuserkarree vom „Matin“ zum Café Springer, das bereits hermetisch verschlossen war, zog in breitem Zug die hoffnungsvolle, immer schrei- und sensationslustige Jugend von Montmartre. Über den Boulevard durften sie nicht, da hielten die Berittenen mit grimmigen Gesichtern; aber in den Seitenstraßen konnten sie ihrem übervollen Herzen Luft machen.

Und das taten sie! „A Berlin — — A Berlin!“ — — Geschrei . . ., Gejohle . . ., Reden wurden gehalten! . . Wir wollen uns die Samtsessel des Guillaume II. holen“ . . .

An den Straßenecken tauchten Studenten auf, die eiligst angefertigte Lieder fangen. Sie waren auch danach! Sowohl die Lieder wie die Sänger. Als die Musikkapellen die Marseillaise anstimmten, da erreichte der Jubel den Höhepunkt. Menschen, die sich nie zuvor gesehen, umarmten und küssten sich, Fahnen wurden geschwenkt, aus den Häusern heraus wehten weiße Tücher . . . Es war einer von den Augenblicken, die man bis zur Todesstunde nicht vergisst, seien sie in Freundes- oder Feindesland erlebt.

Ich ließ mich von allem Gerede, von allem Enthusiasmus, aller Furcht und aller Hoffnung tragen. Nie im Leben hatte ich eine derartige Unentschlossenheit in mir gefunden, mein Heimatgefühl zog mich in mein Land zurück, nur die Mutter in mir verwahrte sich dagegen. Ich sah die Gefahren klar vor mir, denen ich mich aussetzte, wenn ich in Paris bleiben würde. Gab es aber etwas anderes für mich? . . . .

Immerhin fasste ich den Entschluss, noch einmal nach England zu fahren, um meine Kinder zu sehen und mündliche Rücksprache mit den Freunden zu halten. Ein ermüdendes Hin und Her, ein Suchen in allen Bureous nach einer Fahrtgelegenheit begann, aber es war vergebens. Die Abfahrenden unterlagen einer Kontrolle, der ich mich nicht unterwerfen konnte, da ich im Augenblick über kein genügendes Legitimationspapier verfügte. Das einzige, was ich erreichte, war, dass mir im Roten Kreuz Mlle. de M., Rue de Cirque 5, ein Empfehlungsschreiben für die Pension des Philanthropischen Vereins mitgab. Ich beugte mich dem Fatum und blieb.

Was mich weniger freute, war, in den Leiterinnen der Pension zwei Deutsch-Elsässerinnen, die Fräulein Kreutzer zu finden, deren Vater Postbeamter in Altkirch gewesen war, die aber nun ihr sogenanntes neues Vaterland glühend verteidigten. Was sie nicht hinderte, schlecht und recht Elfässer-Dütsch zu sprechen.

Seltsam, seltsam, als ich mein Gepäck halte, um die neue Wohnung zu beziehen, da erfasste mich auf einmal ein so unbeschreiblicher Schmerz, eine so unverkennbare Ahnung kommenden Unheils, dass mein Mund willenlos die Worte formte: „Warum bin ich geblieben?“ Und dieses Gefühl war derart scharf ausgeprägt, dass ich einen Augenblick schwankte: „Soll ich zum Bahnhof?“ . . . Noch war es Zeit. Doch dann schalt ich mich nervös, überreizt und . . . blieb!

Wäre ich nur geflohen! — —

Die nächste Zeit verging wie im Wirbel. Am dritten Tag bekam ich auf Grund meiner englischen Korrespondenz, der Wohnungsbescheinigung:

Philanthropische Gesellschaft 4. August 1914.

Ich bezeuge hierdurch, dass Frau I. Booth seit dem 3. August 1914 die Pension für Damen und junge Mädchen, Straße der Feuillantiner-Nonnen Nr. 12, bewohnt.

M. Kreuzer, Geschäftsführerin.

und der Empfehlungskarte des Roten Kreuzes meinen „Permis de séjour“. (Aufenthaltsschein.) Damit war ich vorläufig mit einem genügenden Ausweis versehen und fühlte mich so ziemlich sicher, zumal auf dem Papier vermerkt war, dass ich jederzeit die Stadt verlassen könnte.

Die Zeitungen überboten sich in prophetischen, jubelnden, siegesgewissen Prognosen und . . . gemeinen Lügen, die natürlich das Volk in jenen Zustand der Erregung brachten, die nötig ist, um — alles zu ertragen. Zuerst hieß es: „Eine deutsche Patrouille hat die französische Grenze überschritten und den französischen Posten erschossen.“ Dann: „Deutsche Patrouillen haben einen siebenjährigen Jungen, der im Scherz mit einem kleinen Holzgewehr auf sie anlegte, glatt vor den Mutteraugen erschossen.“ „Deutsche Truppen sind in Belgien eingebrochen.“

Dann kam der Hohn! Gedichte auf den Kaiser, die man auch nur andeutungsweise nicht wiederzusehen wagt; nicht weil es Majestätsbeleidigung wäre, sondern weil die Sprache darin eine so niedrige, so unsagbar gemeine war. Es tauchten die Schweinsköpfe auf mit dem deutschen Helm: „Guillaume II“!

Kreuzbombendonnerwetter — Schockschwerenot noch mal! — Ah — das tut gut — kann man auch nur ganz im geheimen dem Herzen Luft machen, es ist immerhin eine Erleichterung.

Vor der Welt war Mrs. Booth die leidenschaftslose Engländerin. die ganz in ihrer Arbeit aufging; in ihrem Stübchen aber, da durfte sie ruhig ja ein Schandblatt zu Boden werfen, darauf herumtreten und fluchen wie ein Unteroffizier.

Von einem jungen französischen Offizier bekam ich einen stolzen Brief: „Wir werden bald mit den Barbaren fertig sein — diese Hasen haben ja eine Heidenfurcht vor der blanken Waffe. Sobald sie die Bajonette sehen, heben sie die Hände hoch, mit hundert solchen Feiglingen wird doch ein Franzose fertig.

Ich komme bald zurück und bring Ihnen eine Flasche Rüdesheimer mit. Die flammende, aufrichtige Begeisterung unseres Volkes wird Ihnen eine große Freude sein!“

Hm, hm! Wenn dir diese Flasche Rüdesheimer nur nicht etwas teuer zu stehen kommt, mein Junge — musste ich unwillkürlich denken. — Und flammende — aufrichtige Begeisterung? Flammend, ja! Aber von Anbeginn an machte sie auf mich den Eindruck der Freude von Andern, die durch Versprechungen und Zukunftsbilder in eine jubelnde Erwartung hineingetrieben werden, die keine Enttäuschung erträgt.

Wir standen doch erst im Beginn des Kampfes, und schon sickerten langsam aber unaufhaltsam Gerüchte durch, die bald als böse Gewissheit Nachhall fanden; wie wenn schwere Tropfen in ein klingendes Becken fallen — das dröhnt und schwingt und will nicht verstummen. So dröhnte es in die Ohren derjenigen, die zu hören verstanden. Was half die flammende Begeisterung, was die suggestive Kraft sprühender, hochreißender Worte? Es blieb bestehen!

„Es“

Dies furchtbarste Schandmal volksmordender Korruption. „Es“! Dieses nie zu leugnende, dass diejenigen, die vom allzu vertrauenden Volk auserlesen waren, dem Lande zum Heil zu dienen, für ihre eigenen Taschen arbeiteten!


Wohnungs-Ausweis der Elsässerinnen Kreutzer in Paris (Übersetzung im Text)



Regiments-Abzeichen der “Queen Mary Own”, von Frau Brackel als Erkennungszeichen für die englischen Soldaten getragen.

Seit Mitte Juli bereiteten sich die Behörden auf den Krieg vor. Und als die Stunde schlug, da war nichts da, aber auch gar nichts, die Heere auszustatten. ganze Regimenter wurden zurückgestellt, weil die Magazine leer waren. Jeder eingezogen Soldat war verpflichtet, für zwei Paar Schuhe zu sorgen. Mit diesem selbstverschafften Schuhzeug sind sie hinausgezogen, und ich — ich habe sie wiederkommen sehen — mit absatzlosen, sohlenfreien Schuhresten, aus denen die armen, geschwollenen, wunden Füße blutend hervordrängten. „Wo waren die 54 Milliarden geblieben, die Frankreich zur kriegsfähigen Unterhaltung des Heeres hinausgeworfen hatte? Im wahren Sinne hinausgeworfen; denn da standen die Minister mit offenen Händen und hatten nur gerafft . . ., gerafft . . ., gerafft! Und ihre Taschen waren prall und voll geworden — die Magazine aber immer leerer.“

So murmelte man im Volk und sah mit schiefem Seitenblick die heimkehrenden Einberufenen an. Die fühlten die Schande!

Da halfen auch die Räubergeschichten nicht mehr: Dass der Salonwagen, den die Regierung dem deutschen Botschafter zur Verfügung gefreut hatte, nach langem, spurlosem Verschwinden beschmutzt und zerfetzt zurückgekommen sei — dass der französische Botschafter in Berlin sich nur mit Lebensgefahr nach Dänemark habe retten können — in der Friedrichstraße mit Steinen und Pferdeschmutz beworfen worden sei . . . . die angeblichen Misshandlungen fremder Fürstlichkeiten in Deutschland, das alles war zu so rührenden, wahrscheinlichen Mitleidsmärchen ausgearbeitet, dass natürlich die augenblickliche Stimmung umschlug. Aber es kam die Kehrseite der Medaille! Der französische Botschafter aus Wien kehrte zurück. Nun, und bei dem Botschaftspersonal befand sich eine kleine Dame, die durchaus kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte. „Was“ — sagte sie – „Misshandlungen? Ist ja alles nicht wahr! . . . Ist ja alles Humbug . . . ich bin überzeugt, die sind in Berlin nicht anders behandelt worden wie wir in Wien. Na, und wir hatten Zeit zu allen Vorbereitungen. Niemand drängte uns, niemand beleidigte uns . . . wir fuhren im kaiserlichen Sonderzug, sorgsam geleitet, und sind vergnügt und wohl angekommen.“

Die kleine Dame war überhaupt ein Unikum! Ganz offen um Tisch unserer gallischen galligen Pension vertrat sie tapfer ihre Meinung: „Wir sind verloren, wenn uns England nicht hilft. . . Seid doch nicht so dumm. . . was tun denn unsere Minister? Flirten, spielen und Diners geben . . . aber von wegen Vaterland retten . . . is nich. . . Ihr seht es ja . . . kein Geld ist da, keine Munition, keine Waffen, nichts . . . ich danke für die „Patrie“!“

Bums!!

Natürlich „flog“ die kleine Dame, zwar mit Eleganz, aber fliegen tat sie doch. Schade, sie machte mir großen Spaß. Und die Verleumdungen gingen weiter. Nur Hervè blieb klar. Er versuchte in seinem Blatt, wahr zu bleiben, doch vergebens. Wenn je, so passte damals auf die französischen Zeitungen das Wort: „Was drin steht, ist nicht wahr, und was wahr ist, steht nicht drin!“

Der Ton war im Allgemeinen der: „Diese Barbaren wollen uns vernichten, mit allen Mitteln, die Milde nur kennen, Bleiben wir das Voll reifster Zivilisation . . . höchster Kultur!' Diese ganzen schönen Reden hinderten nicht, dass die höchste Kultur und reifste Zivilisation acht Tage nach Kriegsausbruch seltsame Blüten zeitigte.

Die Pflegerinnen mussten mit besonderen Abzeichen herumgehen, weil ihre schmucke Tracht von einer ganz besonderen Sorte Damen ganz besonderen Zwecken dienlich gemacht worden war. Das Rote Kreuz musste sich auf den Betelgang machen nach Fünffrankstücken. Es war kein Geld da, und bei der Auswahl der Pflegerinnen ging es in der ersten Zeit nicht nach Verdienst und Fähigkeit, sondern nach . . . dem Portemonnaie. Eine jede hatte für sich selbst zu sorgen, und wer nicht imstande war, 250 Frank monatlich für eigene Verpflegung zu verbürgen, der wurde gar nicht erst angenommen. Die Maitresse des bekannten Bankiers St., die nie in ihrem Leben die Nase in einen Operationssaal hineingesteckt hatte, wurde am 10. August Oberschwester einer Klinik. Die armen Patienten bedauerte ich. Mir selbst sagte die Tochter der Gräfin H.: „Doktoresse. . . um Gottes willen, wir müssen Geld haben . . . können Sie nicht eine Sammlung in England für uns veranstalten?!!“

Mir wurde der Posten als Präsidentin des Pflegerinnen-Ausbildungshauses des „Comité des Dames“, Rue Fauburg St. Jacques 36, übertragen. Das war ja nun höherer Schwindel. Die sogenannten Kurse wurden vom weitaus größten Teil der Schüler und Schülerinnen zu ziemlich eindeutigem Flirten benutzt. Mehr als einmal war ich gezwungen, allzu Schamlose einfach hinauswerfen zu lassen.

Die Vorträge bestanden aus Abhandlungen über Geschlechtskrankheiten mit Demonstrationen an lebenden Versuchsobjekten . . . kleineren, für die neugierigen Französinnen äußerst interessanten operativen Eingriffen . . . Solovorträgen eines bekannten Pariser Humoristen, der besonders den Stotterer vorzüglich nachmachen konnte . . . Vorträgen aus Dumas und Victor Hugo sowie zum Zeitvertreib einigen Anlernungen zu Verbänden, Schröpfköpfe-Setzen usw.

Man könnte die Sache ungefähr so beschreiben:

„Medical-Hotel“.

Lustspiel in verschiedenen Akten.

Extrakt aus Sudermann, Zola und Schnitzler.

Von der Zensur verboten!

Personen:

Ein Abbé!!!

Drei Doktoren!

Einige hübsche Schauspielerinnen.

Es war skandalös. Meine Andeutungen nützten nichts, meine Deutlichkeiten auch nicht. Als nun an einem glühenden Augusttage den Schülerinnen zur Anlernung von Einspritzungen ein toter Hund übergeben wurde, der bereits seit zwei Tagen unbedeckt auf dem Seziertisch allen Angriffen von Fliegen und anderen verwesungsfördernden Insekten ausgesetzt war, riss mir die Geduld. Nach Verständigung mit Frau Jacques de Buffier, meiner ersten Sekretärin, legten wir beide unser Amt nieder.

Inzwischen waren so allerlei Gerüchte umhergeflattert von Verstimmungen zwischen der französischen und englischen Regierung. Man sprach von der völligen Schließung des Ärmelkanals für privaten Verkehr, und ich hielt es für ratsamer, mir meine Kleinen nach Paris zu holen. So fuhr ich denn am nächsten Morgen nach England und kam am folgenden Tage mit meinen Kindern zurück in der festen Absicht, die erste Gelegenheit zu benutzen, nach der Schweiz abzudampfen. In England war alles ruhig gewesen, nur hatten sie durchaus keine Zuversicht, es schwante ihnen wohl schon, dass sie von einer etwaigen Hilfeleistung für Frankreich Unangenehmes ernten möchten. Mein Permis de séjour war mir vom französischen Konsul ordnungsmäßig gestempelt worden, und die Polizeibehörde, der natürlich meine gesetzeswidrige Anwesenheit in England bekannt war, hatte beide Augen zugedrückt und mich ruhig kommen und gehen lassen — sie durften mich nicht dort lassen, denn da war ich als Deutsche bekannt, aber sie legten mir durchaus kein Hindernis in den Weg, mich in Frankreich als Engländerin aufzuspielen nach dem alten Inselspruch: „Kümmere dich nicht um deines Nachbarn Kochtopf, solange er dir nicht deine Wohnung verdirbt.“ Ich fand den Konsul in drängenden Nöten. Die Regierung hatte ihm sein Gehalt nicht geschickt, er war ganz außer sich und bat mich, doch dem Ministerium Nachricht zukommen zu lassen. Davor hütete ich mich aber sehr! Denn in diesen löblichen Instituten gibt es immer herzlich neugierige Leute, und Neugier war mir besonders unangenehm. Ich bin nun mal so schüchterner Natur. . . Ach ja!

Zuchthäuslerin Nr. 5553

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