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Kapitel 1

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Branndar

Im Winter nach der Flucht

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Alles bewegte sich unendlich langsam. Er rannte. Sein Atem keuchte, die eiskalte Luft zerriss fast seine Lungen, und doch kam er nicht vorwärts. Es war der Albtraum vieler Nächte, und er sollte ihn sein ganzes Leben verfolgen. Er hörte ihren Schrei, voller Verzweiflung, Schmerz, aber auch Wut, hörte seine eigenen knirschenden Schritte im Schnee. Ein langer Moment, und da lag sie auch schon vor ihm, ein dunkles Häuflein im gleißenden Weiß, den Körper schützend um etwas gekrümmt, das sie unter sich barg. Und er sah seinen ärgsten Feind, wie er durch die Menschenmenge brach, gefolgt von seinem Sohn und seiner Tochter, und wie er direkt auf sie zuhielt.

Siri wimmerte, als sie die Schritte neben sich hörte. Es war ein Laut, der Curranns Wut ins Unermessliche steigen ließ. Sie gewann die Oberhand. Es ging so schnell, dass sein bewusstes Ich, das zu allererst Siri helfen wollte, es nicht verhindern konnte. Siedlungsvorsteher Kedar sah einen dunklen Schatten auf sich zuspringen und wurde von einem gewaltigen Fausthieb zu Boden geschleudert. Er rutschte mehrere Schritte den Berg hinunter und blieb zu den Füßen der Leute liegen, die schreiend vor dem unheimlich gekleideten jungen Mann mit den stechenden schwarzen Augen und der blanken Waffe zurückwichen. Männer drängten ihre Frauen nach hinten, die Frauen ihre Kinder, es war ein heilloses Durcheinander. Goran und Mari wurden einfach mitgerissen, sodass Kedar allein zwischen der Menge und dem wutschnaubenden Currann liegen blieb.

Der Siedlungsvorsteher war betäubt. Er lag blinzelnd im Schnee und schien nicht begreifen zu können, was soeben geschehen war. Da kam Currann wieder zu sich. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sein Schwert gebraucht, dessen wurde er sich in diesem Moment bewusst. Er erschrak furchtbar vor sich selbst, doch das wollte er seinen Gegner auf keinen Fall sehen lassen. Seine Sorge galt jetzt allein Siri. Er ließ den Vorsteher einfach liegen.

Als er sich umdrehte, halfen Kiral und Sinan ihr gerade auf. Sie zitterte am ganzen Leib, blickte zu Boden und schien irgendwie kleiner zu sein als in seiner Erinnerung. Mit einem Kopfrucken schickte er seine Kameraden in Richtung Kedars, der nun wieder zu sich kam und sich laut fluchend aus dem Schnee aufrappelte.

Currann trat langsam auf Siri zu. Sie hob den Kopf, sah ihn an. »Keine Angst, wir sind da. Jetzt wird dir nichts mehr geschehen«, sagte er so leise, dass es niemand sonst hören konnte. Seine Stimme klang belegt. Es war das erste Mal seit fast einem Jahr, dass sie sich bei Tageslicht sahen. Er sog ihren Anblick förmlich in sich auf, die Form ihres Gesichts, die Farbe ihrer Augen, die hohen Wangenknochen, sah aber auch die Schatten, die Ringe unter ihren Augen, ihre Blässe.

»Siri, geht es dir gut?«, flüsterte Currann besorgt. Sie schüttelte abwehrend den Kopf und drehte sich zu ihrem Onkel um. Voller Verachtung sah sie zu ihm herunter. Kedar wischte sich mit dem Handrücken über die blutende Nase. Sie war gebrochen. Es bescherte ihr ein leises Triumphgefühl, das aber sofort schwand, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah.

Voller Abscheu und Häme sah er sie an. »Du wirst dieses kleine Scheusal nicht behalten! Ich dulde nicht, dass du derart Schande über deine Familie bringst!«

Durch Siri ging ein Ruck. »Nein, nicht!«, sagte sie zu den drei Kameraden, die sich schon wieder auf Kedar stürzen wollte. Hoch aufgerichtet trat sie zwischen sie, Curranns starke Präsenz hinter sich und Sinan und Kiral zu ihrer Seite. »Dieses kleine Scheusal ist mein Sohn, mein Kind! Und ich habe es bekommen, weil ich ein anderes beschützt habe, was eigentlich deine Aufgabe gewesen wäre, nicht wahr, Kedar?« Ihre Stimme war eisig, das Zittern verschwunden. Voller Verachtung spie sie seinen Namen aus, nannte ihn nicht Onkel, sah ihn nicht mehr als Teil ihrer Familie. Noch hatte sie die Kraft dazu, sich ihm zu widersetzen.

»Lass Siri in Ruhe, Vater!«, rief eine helle Stimme dazwischen. Mari hatte es endlich geschafft, sich durch die Menschen nach vorne zu arbeiten, dicht gefolgt von ihrem Bruder, der sie aufhalten wollte, aber nicht schnell genug war. Sie wollte zu ihrer Cousine, doch Kedar fing sie ab.

Er verpasste ihr eine harte Ohrfeige. Mari ging mit einem Schrei zu Boden. »Wer hat dir erlaubt, das Haus zu verlassen? Wenn du..«

»Vater!« Goran stand fassungslos vor ihm und wollte seiner Schwester aufhelfen.

»Du hältst dich da raus!«, brüllte Kedar. Er trat zwischen sie. Sein Sohn zog die Schultern ein und wehrte sich nicht. Niemand wagte, sich zu rühren. Kedar fuhr erneut zu Siri herum. »Niemand hier wird es wollen, dass ein Goi Bastard in unserer Mitte aufwächst. Glaub ja nicht, dass du ihn behalten kannst!«, drohte er mit der Faust in ihre Richtung.

»Das zu entscheiden steht dir nicht zu, Kedar! Ich werde mein Kind behalten, und wenn du an der angeblichen Schande krepierst, wird es nicht nur einen geben, der dann ein Dankgebet spricht!«, fauchte Siri. Currann war stolz auf sie, wie sie sich verteidigte, doch seine Sorge um sie stieg. Nur weil er hinter ihr stand, konnte er sehen, dass ihre Arme zitterten. Hatte sie Schmerzen? Unauffällig rückte er näher an sie heran.

Kedar war äußerst erbost darüber, dass sie sich ihm derart widersetzte, ja, sogar zum Gegenangriff überging. »Dann wird hier für dich kein Platz sein!«, bellte er. »Ist es nicht so?« Er drehte sich zu den Menschen um. Betretendes Schweigen war die Antwort. Niemand mochte Kedar oder Siri anblicken. Die Menschen schienen noch gar nicht begriffen zu haben, was hier vor sich ging.

Doch plötzlich entstand Bewegung zwischen ihnen. Siris Freundin Nuria drängte sich nach vorne. »All dies sagst du, obwohl du weißt, dass Siri für unseren Belan gelitten hat? Was bist du nur für ein Mensch?!« Sie stemmte wütend die Arme in die Hüften.

Kedar wich einen Schritt zurück, sodass er fast auf seine Tochter Mari trat, die immer noch im Schnee lag. Doch so leicht gab er sich nicht geschlagen. »Ja, da spricht die Richtige. Wenn es nach mir gegangen wäre, wärest du nicht wieder in unseren Tempel aufgenommen worden und mit der Mutter meiner Kinder fortgegangen! Aber eines ist sicher: Ich dulde keinen Goi Bastard in dieser Siedlung, und du..«, er drohte so plötzlich in Siris Richtung, dass sie sich gut sichtbar für Currann zusammenreißen musste, nicht zurückzuweichen, »dich werde ich aus dem Tempel verbannen lassen! Wie kannst du es wagen, dich dem Willen deiner Familie zu widersetzen?!« Siri zog unmerklich die Schultern ein. Sie stand völlig still.

»Der wesentliche Teil ihrer Familie ist praktischerweise nicht anwesend, Vorsteher, um dieser Ansicht zu widersprechen!«, rief da eine Stimme von der Seite. Alle fuhren herum. Tamas trat mit vor Wut bleichem Gesicht und gezücktem Schwert zwischen den Hütten hervor, gefolgt von Ouray und Yemon. Sie waren schweißüberströmt und schneebestäubt. Sofort kreisten sie Kedar ein und erreichten, dass er endlich ein paar Schritte Abstand von seiner Tochter nahm.

Tamas stellte sich zwischen sie und nahm ihn sich erneut vor: »Ich glaube nämlich, dass sie gänzlich anderer Meinung sind. Und Strahan ist es, der zu entscheiden hat, nicht Ihr!« Er mochte nicht hinter sich sehen, wo Mari immer noch im Schnee lag, weil er ahnte, dass er dann seine Beherrschung verlieren würde.

Currann wusste, was in ihm vorging, hatte er es doch eben selbst erst erlebt. Er hielt ihn mit einem unmerklichen Kopfschütteln zurück. ›Zeig Kedar nicht, wie es um dich steht‹, befahl er stumm. »Was hat er mit deinem Vater gemacht?«, raunte er stattdessen Siri zu.

»Eingesperrt. Vater Peadar und Karya auch. Damit sie mir nicht helfen können!«, rief sie laut. Erstickt fügte sie hinzu: »Er wollte meinen Kleinen im Schnee aussetzen, bis.. bis..«

»Siri, nicht!« Nuria trat zu ihr und nahm sie behutsam in die Arme. Dankbar lehnte Siri ihren Kopf an ihre Schulter.

›Sie sieht erschöpft aus‹, ging Currann auf, so kurz nach der Geburt kein Wunder. Die Kapuze des kleinen Schlafsackes rutschte ein wenig nach unten, und er erspähte einen dunklen, flaumigen Haarschopf. Was auch immer der Vater dieses Kindes war, der Kleine war gänzlich unschuldig. Mitleid überkam ihn, und der Beschützerinstinkt, der bisher Siri gegolten hatte, übertrug sich auch auf ihr Kind, das er nun zum ersten Mal als eigenständiges Wesen wahrnahm. Grimmig nahm er sich Kedar vor: »Wie kommt es nur, dass Ihr Euch stets an den Wehrlosen und Unschuldigen vergreift? Braucht Ihr das, um Eure Stärke zu beweisen? Erbärmlich, das ist es, was Ihr seid!«

Kedar gab sich nicht so leicht geschlagen. Er zückte eine andere Waffe, packte die Menschen bei ihren Ängsten. »Ich lasse nicht zu, dass unsere knappen Vorräte durch ein Kind der Schande geschmälert werden. Es ist mein Recht, das zu entscheiden, nicht Eures!«, rief er.

Er hatte sich verrechnet. Nun regte sich erstmals Protest in den Reihen. »Das kannst du doch nicht machen!«

»Sie hat den Jungen beschützt!«

»Es wird schon reichen.«

Kedars Miene verfinsterte sich. Er verschränkte die Arme. Currann hatte auf einmal den Eindruck eines bockigen Kindes. »Das zu entscheiden obliegt mir, und ich sage, dass ich niemanden dulde, der gegen die Regeln des Einen Tempels verstößt.«

»Danach hat er aber nicht gefragt, als er sich an Yorrans Tochter vergriffen hat«, brummte Kiral verächtlich neben ihnen und so laut, dass es nicht nur der Vorsteher hörte.

Von Siri kam ein gequälter Laut. »Mich hat auch niemand gefragt!«

Currann sah, dass ihr die Tränen herunterliefen. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Auch Kedar hatte es entdeckt, und sein Blick bekam etwas Triumphierendes. Curranns kaum unterdrückte Wut brach sich wieder Bahn, als er das sah. Er stellte sich zwischen sie, schützte Siri mit seinem breiten Rücken vor den hämischen Blicken. »Tut, was Ihr wollt. Siri und der Kleine unterstehen unserem Schutz, und wir werden sie auch versorgen. Und ihre Familie gleich mit!« ›Und im Frühjahr, da werden wir dafür sorgen, dass Ihr die längste Zeit Siedlungsvorsteher gewesen seid!‹, fügte er in Gedanken hinzu, während er Ouray beobachtete. Dieser hatte die Stirn gerunzelt ob seiner Behauptung. Currann ahnte, dass er rechnete, und er war mehr als erleichtert, als Ouray ihm schließlich kurz zunickte. Es würde schon reichen.

In Kedars Augen erschien ein bösartiges Glitzern. »Oh ja, tut das. Dann kann sie es Euch gleich mit dem Dienst als Hure vergelten!«

Alle zuckten zusammen. Für Siri war es zu viel. Ihre Knie knickten ein, sodass nicht nur Nuria, sondern auch Currann zupacken musste, damit sie nicht in den Schnee schlug. Im gleichen Moment trat Tamas dem Ortsvorsteher die Beine weg, sodass dieser schmerzhaft auf seinem Hinterteil landete. Als er aufsah, hatte er eine Schwertspitze vor seinem Gesicht. Sein Sohn stürzte vorwärts, um ihm zu helfen. Blitzschnell fing Ouray ihn ab und drängte ihn zurück in Richtung der Menge.

»Was sollen wir mit ihm machen?«, rief Tamas über die Schulter, ohne Kedar einen Moment aus den Augen zu lassen.

Currann presste seine freie Faust an die Stirn, so sehr musste er sich beherrschen, um nicht gleich jemanden umzubringen. Seine andere Hand spürte, dass Siri eiskalt war. Natürlich, sie trug ja keinen Mantel. Sie musste schleunigst ins Warme und sich hinlegen. Er selbst war zu überhaupt zu keinem klaren Gedanken fähig. Er brauchte einen Moment Ruhe, und er ahnte, dass Kedar es auch darauf anlegte, ihn die Beherrschung verlieren zu lassen.

»Lass meinen Vater in Ruhe!« Mit geballten Fäusten, das Gesicht verzerrt vor ohnmächtiger Wut, stand Goran vor den Kameraden, wagte jedoch nicht einzugreifen.

Zum ersten Mal nahm Currann ihn überhaupt bewusst wahr. Er sah, dass Goran ständig zu Siri hinaufstarrte. In seinem Blick lag weder die Wut, die er selbst fühlte, noch die Abscheu und Häme Kedars. Nein, es war etwas anderes. Bitterkeit. ›Er fühlt sich betrogen‹, ging Currann auf. Hintergangen. Und er wollte Siri noch immer. Plötzlich ahnte Currann, dass Goran nicht unbeteiligt an dem ganzen Geschehen war. ›Du wirst sie nicht bekommen!‹. Er schoss einen derart eisigen Blick in Gorans Richtung, dass dieser hastig zur Seite blickte.

»Haltet sie dort fest. Wir sind gleich wieder da.« Er bedeutete Nuria, Siri zwischen die Häuser zu führen, außer Sicht der anderen.

»Oh, was können wir nur tun?«, flüsterte Nuria verzweifelt. Currann zog seinen Fellumhang aus und reichte ihn Nuria, damit sie ihn Siri umhängte. Er entfernte sich ein wenig von den beiden, schloss die Augen und dachte nach. Nur die geballten Fäuste verrieten seine Anspannung.

Siri beobachtete es aus den Augenwinkeln, während sie sich von Nuria in den wärmenden Umhang helfen ließ. Dann lehnte sie sich erschöpft an eine Hüttenwand. Oh ja, ihr war kalt, aber diese Kälte kam von innen. Sie betäubte alles andere, ihre Schmerzen, ihre Angst, ihre Wut. Und dennoch, sie kannte Currann gut genug, um zu wissen, dass nur noch ein Funke genügte, um ihn die Beherrschung verlieren zu lassen. Sie beschloss einzugreifen. »Wir können nichts tun. Er hat alles Recht auf seiner Seite«, sagte sie leise.

»Aber das ist unmenschlich!«, protestierte Nuria. »Du konntest doch nichts dafür, genauso wenig wie ich!«

Mit geschlossen Augen hörte Currann zu. Siri hatte recht, das wusste er, und wenn er Kedar auch am liebsten umgebracht hätte für das, was er Siri antat, so wusste er auch, dass er ihr danach niemals wieder in die Augen würde sehen können.

»Nein!«, sagte er so plötzlich, dass die beiden Frauen zusammenzuckten. Er fuhr herum. »Nein, das werden wir uns nicht gefallen lassen! Wenn Kedar auf das Recht besteht, dann werden wir das auch! Wir schlagen ihn mit seinen eigenen Mitteln.« Er baute sich vor Siri auf. Sie hob langsam den Kopf. »Nuria, würdet Ihr wohl einen Augenblick das Kind nehmen und uns allein lassen?« Siris Augen weiteten sich. Instinktiv umschloss sie ihren Sohn fester. »Siri, bitte.. du willst dir das doch nicht gefallen lassen?«

Nuria sah sprachlos zwischen den beiden hin und her. So langsam kam ihr der Verdacht, dass sie alle über lange Zeit etwas nicht mitbekommen hatten. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass alles gut werden würde. »Gib ihn mir.« Sie streckte die Hände aus und nahm Siri das Kind sanft, aber bestimmt aus den Armen. Siri hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Als es fort war, schlang sie zitternd die Arme um sich.

»Himmel, dir ist wirklich kalt!« Currann wickelte den Umhang fest um sie. »Keine Angst. Er wird nicht mehr an euch herankommen, das verspreche ich.« Er ließ seine Hände auf ihren Schultern ruhen, war fast versucht, sie aus ihrer Benommenheit zu rütteln, aber er zügelte sich. Eindringlich sah er sie an. »Siri, schau mich an!« Ihre Augen waren tränenblind, als sie es schließlich tat, und sie wehrte sich nicht dagegen, dass er ihr eine Träne auf der Wange fortwischte. »Siri, willst du, dass Kedar gewinnt? Dass ihr eure Ehre verliert und du vertrieben wirst?«

Siri schrak auf. Sie fühlte sich von diesem Blick umfangen. Die Wut, sie war noch da, sie lauerte in den schwarzen Augen, aber sie betraf nicht sie. Ihr leuchtete etwas anderes entgegen, etwas, das sie nicht einordnen konnte. Es machte ihr Angst, es rührte Erinnerungen in ihr wach, ob gute oder schlechte, das vermochte sie nicht zu sagen. Es bedrohte sie irgendwie, und deshalb drängte sie dies rasch beiseite.

Er spürte, dass sie sich mit aller Macht zusammennahm. »Niemals! Ich werde mich seinem Willen nicht beugen!« Sie war wieder in der Lage zu denken, und ihr wurde warm, als ihre Wut zurückkehrte. Vielleicht war es sein eindringlicher, zwingender Blick, der ihr half, ganz sicher aber seine Stärke, die sie hinter jeder seiner Bewegungen, hinter jedem seiner Worte spürte. »Was hast du vor?«

»Siri, es gibt einen Weg, wie wir Kedar die Stirn bieten können. Ohne dass du und dein Vater das Gesicht verliert und ihr entehrt werdet.«

Sie runzelte die Stirn. »Das ginge nur, wenn er nicht mehr Vorsteher ist, aber das werden sie..«

Currann hob die Hand. Sie verstummte. »Lass Kedar mal außen vor, um den kümmere ich mich, wenn es soweit ist. Siri..« Seine Stimme wurde leise und sein Blick fürsorglich, ja beinahe zärtlich.

Sie fühlte sich unwohl darunter. »Was?«, flüsterte sie.

»Ich kann dich schützen.« Er hob die Hand, wollte sie berühren, und im selben Moment begriff sie.

Sie zuckte zurück. »Oh nein, das kann ich nicht! Ich kann nicht deine Frau werden!« Sie wurde bleich, versuchte von ihm fortzukommen, doch sie war gefangen zwischen ihm und der Hüttenwand.

Currann ließ getroffen die Hand sinken und trat einen Schritt zurück. »Ja, aber warum denn nicht? Ich dachte, wir sind Freunde und..«

»Oh Currann, das ist es nicht. Ich.. ich..« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und schüttelte heftig den Kopf.

Er stand mit hängenden Armen vor ihr. »Warum nicht?«

»Natürlich habe ich dich gern, aber.. aber..«

»Aber?«

»Ich kann nicht deine Frau sein! Nicht in dem Sinne.. verstehst du nicht? Du brauchst eine Frau, die hochgestellt ist, ehrbar, die dir Erben schenkt, Söhne.. das werde ich niemals können. Niemals, hörst du!« Sie weinte jetzt.

Currann hätte sie am liebsten an sich gezogen, getröstet, irgendwie ihren Schmerz fortgenommen, doch er durfte es nicht. Sie würde es nicht dulden. Es tat ihm weh zu sehen, wie sie sich quälte. »Siri, ist es das, was dich abhält? Das wird mich nicht abhalten, dich zu schützen, ganz im Gegenteil.« Sie nahm die Hände von ihrem Gesicht und blickte auf. Currann fühlte sich ermutigt. »Sieh mal, meine Mutter, sie war eine ehrbare Frau. Sie hat meinem Vater Söhne geschenkt, aber dennoch war ihre Ehe das Grauen. Ich will so etwas nicht selbst erleben.« Wie sehr das der Wahrheit entsprach, erkannte er selbst erst in diesem Moment. »Siri, ich will eine solche Ehe nicht. Ich will eine gleichgestellte Partnerin, eine Freundin, eine, mit der ich jeden Gedanken teilen kann. Dich will ich und keine andere! Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich es nicht fertigbringe, dich zu beschützen.«

Laute Rufe ließen sie herumfahren. Frauen schrien, es schallte zu ihnen in die Gasse. In Siri zog sich alles zusammen. Sie saß in der Falle.

»Siri..«

»Habe ich eine Wahl?«

Das klang so geschlagen, dass Currann sie am liebsten geschüttelt hätte. »Oh doch, die hast du.« Er stockte, weil sie krampfhaft die Augen schloss. »Wenn du willst, dann verspreche ich dir, dich nicht anzurühren.«

»Das sagst du jetzt!«, flüsterte sie. Eine plötzliche Bewegung ließ sie die Augen wieder aufreißen. Currann kniete vor ihr im Schnee. »Oh nein, tu das nicht!« Sie wusste, dass sie verloren hatte, wenn er das tat.

»Ich will dich nicht zwingen, ich will deine Freundschaft, und dafür biete ich dir meinen Schutz. Siri, bitte!«, flehte er. Es vernichtete ihre letzten Reserven. Sie schlug die Hände vors Gesicht, so nahe war er ihr plötzlich.

»Althan! Kommt schnell!« Plötzlich stand Nuria in der Gasse.

Currann sprang auf. »Siri, was sagst du? Bitte..«, flüsterte er eindringlich.

Siri wandte den Kopf in Nurias Richtung, sah die Angst in ihrem Gesicht, sah auf den Kleinen in ihrem Arm und nickte ergeben. »Also gut«, sagte sie tonlos, richtete sich auf und ging Nuria entgegen. Sie sah ihn nicht mehr an, während sie ihr Kind an sich nahm.

Currann starrte ihr hinterher. Warum kam er sich auf einmal vor wie ein mieser Schuft? Er verdrängte den Gedanken, denn jetzt hörte er Gebrüll. Schleunigst kehrte er zu den anderen zurück, während Nuria ihm mit Siri langsamer folgte. Als er um die Ecke kam, sah er gerade noch, wie Kiral Tamas von dem Siedlungsvorsteher fortzerrte, während dieser von Yemon mit dem Schwert zurückgehalten wurde.

»Lass mich los!«, brüllte Tamas.

»Ruhe!« Currann brauchte nicht die Stimme zu heben. Ihr Erscheinen genügte. Alle wandten sich zu ihnen um.

»Oh nein, was hat er mit Mari gemacht?«, flüsterte Siri, die zu ihm aufgeschlossen war. Goran kniete im Schnee und hielt seine bewusstlose Schwester in den Armen. Currann ahnte, dass Kedar sich auf Mari gestürzt hatte und dass Tamas sich nicht hatte beherrschen können. Besser sie sorgten dafür, dass schleunigst etwas anderes geschah, sonst wusste Kedar sofort bescheid. Wenn es dafür nicht schon zu spät war. Er wechselte einen fragenden Blick mit Siri, und sie nickte ergeben. Currann atmete tief durch. »Treibt sie in den Tempel, allesamt, und haltet sie dort fest! Ouray, sieh nach Siris Familie und Vater Peadar. Bitte sie dorthin.«

Er sah Kiral die Augen zusammenkneifen. Tamas stellte alle Gegenwehr ein. Sinan sah schnell zwischen ihm und Siri hin und her und begriff. Er starrte Currann offenen Mundes an. Currann nickte ihm zu. Sinan schluckte. »Also los, ihr habt ihn gehört!«

Die Bewohner wichen mit erschrockenen Ausrufen zurück, als die Kameraden mit gezückten Schwertern ausschwärmten. Tamas kümmerte sich höchstpersönlich um Kedar, stieß ihn grob vorwärts, fort von dessen Sohn und Tochter. Der Einzige, der zurückblieb, war Goran, der Mari gerade half, sich aufzusetzen, doch Currann wollte ihn nicht in Siris Nähe dulden. »Ihn auch!«, nickte er Kiral zu. Augenblicklich wurde Goran gepackt und von seiner Schwester fortgezerrt.

Im selben Moment kamen Nurias Mann Evan und der Schmied Yorran schwer atmend zwischen den Häusern hervor. Evans Atem rasselte regelrecht, wie sooft in letzter Zeit. Er ging sofort zu seiner Frau und stellte sich schützend neben sie. »Es tut mir leid«, sagte er an Siri gewandt. »Wir waren in der Schmiede und haben es zu spät mitbekommen.« Sie brachte keinen Ton heraus. »Siri, geht es dir gut?«

»Natürlich nicht, so kurz nach der Geburt«, rügte Nuria und nahm Siri beim Arm. »Komm, ich bringe dich schnellstens in Warme und dann..«

»Nein!« Siri machte sich los. »Nein, wir haben noch etwas zu erledigen. Jetzt gleich.« Hoch erhobenen Hauptes ließ sie alle stehen. Sie ging zu Mari, half ihr mit ihrer freien Hand auf und umarmte sie. Zitternd hielt sich das Mädchen an ihr fest.

Currann sah ihr betroffen hinterher. Er seufzte und holte tief Luft. »Gehen wir.«

Siris Vater Strahan und ihre Tante Karya kamen ihnen schon auf dem Tempelplatz entgegen. Etwas weiter hinten folgte Vater Peadar, der sich humpelnd auf Ouray stützte. Strahan hatte ein blaues Auge, das langsam zu schwoll. »Siri, Mari, bei allen Heiligen!« Karya stürzte zu ihren Mädchen. »Was hat er mit euch gemacht?!« Sie nahm besorgt die Verletzungen ihrer Tochter in Augenschein. »Hat er dich geschlagen, Mari?«

»Ist nicht schlimm, Mutter.« Mari ließ sich mit geschlossenen Augen in ihre Arme ziehen. Siri stand regungslos daneben. Sie reagierte nicht auf die besorgten Ausrufe ihres Vaters, wiegte nur ihr Kind.

»Wo sind sie nur alle hin?«, keuchte Peadar, als er es endlich zu ihnen geschafft hatte.

Currann überflog die Gruppe mit finsterem Blick. »In den Tempel«, erwiderte er knapp. »Was hat Kedar mit Euch gemacht?«

»Nicht nur Kedar, sondern auch mein Sohn. Sie haben uns von Siri getrennt und uns im Haus eingesperrt«, antwortete Karya bitter und bestätigte damit Curranns Verdacht.

Ihr Tonfall ließ Siri wieder zu sich kommen. Sie straffte sich. »Vater Peadar, würdet Ihr uns wohl einen Moment in Eurem Bekenntnisraum gewähren?«

Die drei starrten sie verwundert an. »Ja, aber warum..?«, brachte Strahan endlich hervor.

»Bitte«, sagte Currann und deutete zum Tempel.

»Was habt Ihr vor?!«, rief Karya.

»Das werdet Ihr gleich erfahren.« Er wartete, bis Siri nickte. Sie ging voraus, ohne eine weitere Antwort seitens des Mönches abzuwarten, und Currann folgte ihr. Den anderen blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen.

»Nuria, was soll das?«, zischte Karya ihr zu, unhörbar für die beiden.

»Keine Sorge. Lass sie nur machen«, beruhigte Nuria sie und unterdrückte ein Lächeln.

Im Tempel schallte ihnen aufgeregtes Stimmengewirr entgegen. Die von Kedar war am lautesten. Er beschimpfte die Kameraden, allen voran Kiral, die sich mit gezückten Schwertern im Raum verteilt hatten.

»Ruhe!«, donnerte Peadar, der dicht hinter Siri und Currann eintrat. Alle fuhren zu ihm herum. »In meinem Tempel hält nur einer Predigten, und das bin ich. Schweigt still, zurück mit Euch! Haltet Frieden. Und steckt sofort die Schwerter fort!« Er war äußerst erbost über ihr aller Verhalten. Die Leute verstummten betreten und taten, was er sagte, die Kameraden jedoch warteten auf das Nicken ihres Kommandanten.

Currann hielt sich dicht neben Siri, spürte er doch, wie sie sich unter den Blicken der Menschen zusammenkrümmte. Sie sah starr geradeaus, sodass sie gar nicht merkte, dass Entsetzen, gepaart mit Mitgefühl, in den meisten Augen zu sehen war. Selbst Goran sah sie nicht mehr so finster an. Currann beobachtete ihn verwundert, er wusste immer weniger, was er davon halten sollte. In Gorans Augen stand ein Ausdruck, als wäre er tief getroffen.

»Wollen wir?« Peadar sah sich zu ihm um.

»Ja, gehen wir«, nickte Currann und wandte sich an Strahan. »Darf ich Euch bitten, mit uns zu kommen?« Die Leute sahen nicht minder erstaunt drein wie der Schulmeister. Was hatte der Kommandant vor? Er nickte vorsichtig.

Siri hatte unterdessen, ohne es zu wollen, Kedar angeblickt. Hass stand in seinen Augen. Es machte sie vollends rebellisch, und sie fasste einen Entschluss. »Mari«, sie wandte sich zu ihrer Cousine um, »würdest du mein Kind halten? Bis ich wieder da bin?«

»Fass das Scheusal ja nicht an!« Kedar war vorgesprungen und wollte zu ihr, doch eine Hand packte ihn an der Schulter und drängte ihn zurück in die Menge.

»Vater Peadar sagte, gebt Ruhe«, grollte Kiral. Er wandte sich verächtlich ab und ging schnurstracks zu den Frauen hinüber. Mit verschränkten Armen pflanzte er sich hinter ihnen auf. Die Kameraden folgten seinem Beispiel und bildeten einen schützenden Ring um sie.

»Wir passen auf den Kleinen auf, hab keine Angst«, sagte Karya. Sie sah wohl, wie schwer es Siri fiel, ihr Kind zurückzulassen.

»Ich danke euch«, flüsterte Siri und ließ sich von dem Mönch die Gasse hinunterführen, welche die ungläubig dreinschauenden Bewohner ihnen freimachten. Currann folgte mit Strahan. Er behielt Kedar genau im Auge, besonders, als sie sich dicht an ihm vorbeibewegen mussten. Plötzlich beugte sich sein Sohn zu ihm herüber und flüsterte ihm etwas zu. Kedar riss die Augen auf. Sein Gesicht wurde rot, und er holte Luft, um etwas zu rufen.

»Nein, Ihr gebt jetzt Ruhe! Zurück mit Euch!«, donnerte der Mönch. Der Vorsteher klappte seinen Mund zu, und Currann beeilte sich, Siri sicher an ihm vorbeizubringen.

Siri sank auf einen der Stühle, kaum dass die Tür hinter ihnen zugefallen war. »Siri, mein Kind..« Ihr Vater umarmte sie. Sie ließ es erschöpft über sich ergehen, erwiderte es jedoch nicht. Currann lehnte sich an die geschlossene Tür. Seine Wut war so plötzlich verraucht, wie sie hierhergelangt waren. Was hatte er da eigentlich vor? Noch dazu gehen ihren Willen? Und auf immer und ewig? Schmerzhaft kehrte er auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie wollte das alles nicht! Was sollte er tun? Er brauchte einen Moment, um in sich zu gehen, und verharrte mit geschlossenen Augen.

»Althan, was habt Ihr?«, fragte Peadar besorgt.

Sobald Currann die Augen öffnete, fand er Siris von ganz allein. Es war, als erhielte er einen Faustschlag in den Magen, so gebeugt, wie sie dort saß. Wie konnte er nur zweifeln? Ihre Sicherheit stand an erster Stelle. Er wollte sie vor ihren gewalttätigen Verwandten schützen, körperlich wie geistig, koste es, was es wolle. Es blieb keine Alternative. Warum hatte er dann so ein schlechtes Gewissen? Sie schien es zu bestätigen, so mutlos und geschlagen, wie sie ihn von der Seite ansah. »Willst du immer noch?«, fragte er. Er brauchte ihre Zusicherung, so unsicher war er sich mit einem Mal.

Siri atmete schwer. »Mir bleibt keine Wahl, das weißt du.« Sie streckte ganz langsam die Hand nach ihm aus. Currann löste sich von der Tür und ergriff sie vorsichtig. Es war das erste Mal hier in Branndar, dass er ihre bloße Hand bewusst berührte. Unglaublich schmal und eiskalt fühlte sie sich an, und sie war rau von der vielen Arbeit. Gleichzeitig jedoch verhieß sie eine ganz eigene Kraft, die ihn wie magisch anzog. Er wollte sie nicht mehr loslassen, bis sie im Fort und in Sicherheit war.

»Was soll das heißen?!?« Strahan starrte ungläubig zwischen ihnen hin und her. »Ihr beide..«

»Ihr habt euch den ganzen Winter über getroffen, nicht wahr?« Ein Funkeln war in Peadars Augen getreten. Sie nickten schweigend. Currann war fast geneigt zu glauben, er amüsiere sich, doch er tat den Gedanken als Hirngespinst ab. Nicht in dieser Lage. Oder etwa doch?

»Peadar, wovon redet Ihr?« Verwirrt blickte Strahan um sich.

»Es ist wahr, Vater«, sagte Siri. Sie nickte Peadar zu. »Ihr beobachtetet nachts manchmal die Sterne vom Turm des Tempels. Ich habe Euch gesehen und Ihr uns auch, ist es nicht so?«

»Aber.. aber..« Dem Schulmeister hatte es völlig die Sprache verschlagen.

»Tut mir leid, Vater.« Siris Hand klammerte sich an Curranns.

»Ich kenne Eure Tochter schon sehr lange und sie mich.«

»Das.. das glaube ich einfach nicht!« Strahan war aufgesprungen. Er wirkte zornig. Und enttäuscht. »Da versuchen wir, dich zu verbergen, und du bringst dich leichtsinnig in Gefahr, weil du dich mit diesem.. diesem..«

»Diesem was?«, fragte Currann gefährlich leise.

»Strahan, bitte, setzt Euch und hört die beiden an«, versuchte Peadar zu beschwichtigen.

»Ihr habt sie in Gefahr gebracht! Warum hast du mir nichts gesagt? Sirial! Warum nicht?« Strahan setzte sich schwer auf seinen Stuhl und rieb sich über das Gesicht.

»Vater, bitte!« Plötzlich liefen ihr die Tränen herunter. »Ich war bestimmt nicht in Gefahr.«

»Wir haben sie vom Fort aus beschützt.«

»Wir sind Freunde, Vater. Ich brauchte jemanden, mit dem ich reden konnte. Immer nur eingesperrt zu sein und nicht zu wissen, warum sie hier sind, nicht zu wissen, was geschehen war, das habe ich nicht ausgehalten.« Sie ließ Curranns Hand los, sprang auf und kniete sich vor ihren Vater. Sie nahm seine beiden Hände zwischen ihre. »Bitte, sei mir nicht böse. Ich hatte das Gefühl, ich werde noch wahnsinnig.«

»So ging es mir auch«, fuhr Currann rasch fort, bevor Strahan weiter protestieren konnte. »Wir wussten die ganze Zeit, dass es eine Lüge von Euch war zu behaupten, Siri sei in Nador. Wir haben sie gehört. Kiral vor allem. Und nach dem ersten Angriff ist sie dann zu mir gekommen.«

»Es hat mir gut getan, Vater, du ahnst gar nicht, wie gut.«

Strahan schloss einen kurzen Moment die Augen. Schließlich seufzte er. »Ich hätte es wissen müssen. Du hast ja schon in Gilda deine eigene Entscheidung getroffen, warum sollte es hier anders sein? Hab Nachsicht mit deinem alten Vater. Es fällt mir schwer, mich daran zu gewöhnen, dass du erwachsen geworden bist.« Sanft wischte er ihr die Tränen ab. Siri schmiegte ihre Wange an seine Hände.

»Ihr habt uns doch aus einem bestimmten Grund hergebeten, nicht wahr?«, fragte Peadar.

Siri richtete sich abrupt auf. Strahan zuckte zusammen. »Was hast du vor, Kind?« Er warf Currann einen misstrauischen Seitenblick zu.

»Ich glaube, dass die beiden sich zu einem Entschluss durchgerungen haben, Strahan. Nun, dann, erzählt uns, was ihr euch ausgedacht habt.« Der Mönch wies auffordernd auf die Stühle.

Siri ging zurück an Curranns Seite, doch seine Hand nahm sie nicht mehr, und sie blieben beide stehen, zu aufgewühlt waren sie. Siri blickte zu Boden, sodass es an Currann war, zu beginnen. »Ich.. nun..« Himmel, er stotterte ja. Prompt schoss ihm die Röte ins Gesicht.

»Fangt am besten von vorne an«, beruhigte ihn Peadar.

Currann musste tief Luft holen. »Also gut. Ich habe Siri versprochen, ihr zu helfen, wenn so etwas wie heute geschieht. Ich habe damit gerechnet, dass Kedar ihr Kind bestimmt nicht tolerieren würde, und es hat sich als wahr herausgestellt. Nur dass..« Er runzelte die Stirn, versuchte, die richtigen Worte zu finden.

»Nur dass die Dinge weitaus komplizierter liegen, als wir es vorher ahnen konnten«, ergänzte Siri leise. Sie beschloss weiterzusprechen: »Vater, wir haben einen Weg gefunden, wie ich nicht entehrt werde. Entehrt und aus der Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen.«

»Was.. was für einen Weg?«, fragte der Schulmeister misstrauisch. Sofort legte ihm der Mönch beruhigend die Hand auf den Arm.

Currann geriet langsam in Panik. Er musste diesen Mann jetzt um die Hand seiner Tochter bitten. Wie sollte er das machen? Siedend heiß fielen ihm all die Hindernisse ein, die ihnen im Weg standen. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Er war nicht alt genug. Und dann war da noch dieses kleine Problem mit seiner Herkunft und seinem falschen Namen.

»Wir..« ›Oh Siri, hilf mir!‹, flehte er innerlich und griff ihre Hand.

Sie schien verstanden zu haben. »Vater, der beste Schutz für mich ist eine Ehe.« Sie zögerte. »Er hat mich um meine Hand gebeten«, sagte sie schließlich.

»Waas?!« Strahan machte einen Satz in die Höhe. Er riss seine Tochter von dem Fremden fort. »Ja, Siri, bist du denn wahnsinnig? Du kannst doch nicht allen Ernstes wollen, seine Frau zu werden. In deiner Lage? Mit dem, was du erlebt hast? Kind, werde doch vernünftig!« Er warf einen finsteren Blick zu Currann herüber, als hätte dieser seine Tochter verhext.

Peadar dagegen betrachtete sie nachdenklich. Warum hatte Siri gezögert, seinen Namen auszusprechen? Sein Verdacht, dass sie hier einiges noch nicht wussten, erhärtete sich. Er beschloss einzugreifen, denn Siri weinte schon wieder. »Strahan, bitte. Sie werden sich etwas dabei gedacht haben. Hört sie doch wenigstens an.« Er fand den Vorschlag sogar einleuchtend, wäre da nicht Siris Erlebnis mit den Goi gewesen.

Mittlerweile hatte sich Currann soweit wieder im Griff, dass er die ganze Sache strategisch angehen konnte. Er schob alle Gedanken an Ehe und Treue und dergleichen beiseite und dachte einfach an ein Gefecht. Es half. »Seht, Kedar hat Euch in der Hand. Er kann dafür sorgen, dass Ihr von der Verteilung der Essensrationen ausgeschlossen werdet. Sicherlich, wir und andere würden Euch versorgen, das ist es nicht. Ich habe es Siri versprochen. Aber Euer Ruf und die Ehre Siris wären unweigerlich dahin. Ihr müsstet fort von hier. Und wer weiß, wo Ihr jemals wieder eine Anstellung fändet. Wenn Siri aber meine Frau wird und ich ihr Kind als das meine annehme, dann hat Kedar keine Macht mehr über sie. Und damit nicht über Euch.«

»Es ist die einzige Möglichkeit, Vater«, flüsterte Siri, die Stirn an seiner Schulter.

Er schloss sie schützend in die Arme. »Ich muss gestehen, das Ganze entbehrt nicht einer gewissen Logik. Aber Siri, es geht hier um dich. Nicht meine Ehre, nicht meine Zukunft, sondern allein um dich. Ich mache mir Sorgen. Bist du wirklich sicher, dass du das willst? Die Bewohner werden uns doch nicht im Stich lassen!«

»Das weißt du nicht. Bisher haben sie es nicht gewagt, Kedar wirklich die Stirn zu bieten, zumindest nicht direkt. Ich möchte es nicht darauf ankommen lassen. Bitte, Vater! Ich will Schutz für mein Kind und für mich. Er kann mir das geben. Ja, ich will es. Ich muss.«

Currann fiel polternd ein Stein vom Herzen. Das hatte sie vorher noch nicht gesagt. Nur, dass ihr keine Wahl blieb. »Darf.. darf ich Euch also um die Hand Eurer Tochter bitten?«

»Könnt Ihr das denn?«, fragte Peadar dazwischen. Er hatte beschlossen, dass es Zeit war, ein paar Wahrheiten einzufordern.

»Ja, wie alt seid Ihr eigentlich?«, fiel nun auch Strahan ein.

Siri machte sich von ihm los. »Aber Vater..«

»Nein, Kind, das ist wichtig. Ihr könnt nicht heiraten, wenn er nicht großjährig ist, denn dann bräuchte er die Zustimmung seiner Eltern. Seid Ihr großjährig?«

Siris Kopf fuhr in Curranns Richtung. Angst stand in ihren Augen. Er streckte die Hand nach ihr aus, sah sie so ruhig, wie er konnte, an, obwohl er innerlich fluchte. Das war eine der Schwierigkeiten, die er hatte. »Nein, ich bin es nicht«, erwiderte er, sobald er Siris Hand in seiner spürte. Er legte sie vorsichtig in seine Armbeuge, so wie damals in Gilda.

»Wie alt seid Ihr?«, fragte Peadar.

Currann kam sich langsam vor wie bei einem Verhör. Und bei Strahans Gesichtsausdruck wusste er, dass es bis zum Ende gehen würde, und er spürte, dass auch Siris dies ahnte. »Sechzehn.«

»So jung noch?!«, brach es aus Strahan hervor. »Ihr seid ja kaum erwachsen, geschweige denn großjährig! Und Ihr wollt Ehemann meiner Tochter werden und Vater meines Enkelkindes?«

»Vater, bitte..«, flehte Siri.

»Glaubt mir, ich musste sehr viel schneller erwachsen werden als die meisten anderen!«, erwiderte Currann schneidender, als er es beabsichtigt hatte.

Peadar trat ausgleichend zwischen sie. »Das haben wir alle gemerkt. Ich habe Euch auch für noch nicht großjährig gehalten, aber so jung.. das hätte ich niemals gedacht. Strahan meinte damit wohl, dass Ihr noch reichlich jung für diese Verantwortung seid. Aber dennoch müssen Eure Eltern dem hier zustimmen.«

Bei diesen Worten verkrampfte sich Siris Hand in seiner Armbeuge. Er legte seine beruhigend darüber. So ruhig er konnte, antwortete er: »Meine Eltern sind nicht.. in der Lage, das zu tun. Ich habe die nadorianischen Rechte studiert. Ich bitte Euch um das Patronat, Vater Peadar. Ihr wisst, dass ich dies tun kann, sodass Ihr an meines Vaters statt zustimmen könnt.«

»Ich sehe schon, Ihr bereitet Euch vor«, nickte der Mönch, nicht im Mindesten erstaunt.

Currann hob abwehrend die Hand. »Ich habe es nur nebenbei gelesen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich das einmal brauchen würde. Wirklich nicht«, fügte er bekräftigend in Richtung des Schulmeisters hinzu, der ihn in steigendem Misstrauen ansah.

»Der Brautvater muss diesem natürlich zustimmen, das wisst Ihr. Strahan?« So langsam wurde sich Peadar der drängenden Zeit bewusst. Die Leute wurden sicherlich schon unruhig, und an Kedar mochte er nicht einmal denken.

»Siri..«

»Bitte, Vater..«

»Also gut.« Strahan sah, dass Althan kurz davor war, erleichtert die Augen zu schließen, und es gerade noch unterdrückte. Oh nein, so leicht wollte er es dem jungen Mann nicht machen. »Aber ich stelle drei Bedingungen.«

»Bedingungen?« Currann wurde heiß und kalt zugleich.

Siris Hand begann zu zittern. »Vater, bitte nicht!«

»Oh doch, das muss ich. Schließlich bin ich dein Vater. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob ihr zwei dies nicht tut, um es Kedar mit gleicher Münze heimzuzahlen.«

»Dem entbehrt nicht eine gewisse Logik«, stimmte Peadar zu.

»Daher verlange ich diese drei Bedingungen. Die Erste hat meine Tochter bereits erfüllt. Sie muss es wollen.«

»Ja, das tue ich. Aber Vater..«

»Nein, sei still!« Strahan redete sich langsam in Rage. Er fühlte sich übergangen und von den Ereignissen überrollt. Dies war etwas, was er wie fast jeder Mensch auf den Tod nicht leiden konnte. Mit schneidender Stimme fuhr er fort: »Die zweite Bedingung ist, dass Ihr sie nicht zwingt, diese Ehe zu vollziehen.« Peadar zog scharf die Luft ein. Strahan fuhr zu ihm herum. »Dies ist der Bekenntnisraum, mein Freund. Nichts, was wir hier sagen, wird nach außen dringen. Daher spreche ich offen.«

Verblüfft starrte Currann ihn an. So hatte er den sanften, manchmal etwas kauzigen Schulmeister noch nie erlebt. Ihm ging auf, von wem Siri ihre manchmal sehr scharfe Zunge geerbt hatte. Bisher hatte er vermutet, es wäre allein Karya, doch nun.. der Schulmeister stieg noch weiter in seiner Achtung. »Das Versprechen kann ich Euch geben. Ich habe es Siri bereits geschworen, als ich sie um ihre Hand gebeten habe. Ich schwöre auf das rote Buch, wenn Ihr wollt.«

»Ja, bitte. Jetzt gleich«, nickte Strahan, nicht gewillt, ihm auch nur den Hauch einer Gelegenheit zu geben, diesem Versprechen zu entkommen. Peadar sah kurz von einem zum anderen und stand dann auf, um es zu holen.

Currann zögerte nicht. Er legte seine Hand darauf. »Ich schwöre bei unserem Einen Herrn, dass ich Siri nicht zwingen werde, die Ehe mit mir zu vollziehen.. es sei denn, sie will es«, fügte er schnell hinzu, bevor Peadar das rote Buch fortziehen konnte. Er wagte nicht, Siri anzublicken.

»Nun denn..« Der Mönch blickte unruhig von einem zum anderen. Strahan schien gewillt zu sein, den Schwur nicht anzuerkennen, doch schließlich nickte er. »Ich erkenne den Schwur an, auch wenn mir diese kleine Abwandlung überhaupt nicht gefällt. Gebt Euch bloß keinen Illusionen hin!«

»Nichts liegt mir ferner«, erwiderte Currann und wagte einen vorsichtigen Blick auf Siri. Sie hatte die Lippen zusammengepresst. Wieder meldete sich das schlechte Gewissen. Warum nur? Er wusste es nicht und konnte es jetzt nicht ergründen, denn Strahan fixierte ihn mit einem derartigen Blick, dass er sofort alarmiert war.

»Meine dritte Bedingung ist, dass ich wissen will, wen meine Tochter zum Mann nimmt.«

»Nein!« Siri schrak auf. »Vater, das darfst du nicht!«

»Warum nicht? Erkläre mir, warum! Warum darf ich nicht wissen, in welche Familie mein Mädchen einheiratet, ob sie den Sohn eines Bauern, eines Hirten, eines Kaufmannes, eines Soldaten oder eines Adeligen heiratet? Oder gar einen Verbrecher, wie mein geschätzter Herr Schwager vermutet?«

»Vater, bitte!«, rief Siri gequält aus.

»Warum nennst du ihn in unserer Gegenwart nicht bei seinem Namen?«, drängte Strahan weiter. Siri schüttelte abwehrend den Kopf.

»Weil Althan nicht Euer richtiger Name ist, ist es nicht so?«, fiel der Mönch ein.

»Dann weißt du seinen Namen, Siri? Du weißt, wer er ist? Sirial, sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«

»Vater, bitte..« Sie konnte es nicht, sondern barg ihr Gesicht in den Händen.

Currann ging dazwischen: »Hört auf, sofort! Siri hat mit der ganzen Sache nichts zu tun. Quält sie nicht! Sie ist gänzlich unbeteiligt an den Ereignissen, die uns hergeführt haben. Sie hat mir lediglich versprochen, Stillschweigen zu bewahren.«

»Beim heiligen Urian, Ihr habt wirklich etwas mit dem Tod der Königskinder zu tun!« Peadar wich entsetzt zurück.

»Oh ja..«, setzte Currann an, doch Strahan rief dazwischen: »Ihr könnt nicht allen Ernstes von mir verlangen, dass ich Euch meine Tochter gebe! Einem..«

»Einem was?«, grollte Currann. Das war schon das zweite Mal, dass der Schulmeister ihn mit einem Schimpfnamen belegen wollte. Er richtete sich drohend auf, nicht gewillt, sich das bieten zu lassen.

»Bitte, nicht so laut!«, kam es erstickt von Siri. Sofort nahmen sich alle zusammen. »Sag es ihnen. Bitte!«, flehte sie Currann an. Er erkannte, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. Es führte kein Weg daran vorbei.

Er holte tief Luft und maß beide Männer mit einem Blick, der sie erstarrten ließ. »Ich stelle Euch hiermit unter den Schweigeschwur. Kein Wort wird diesen Raum verlassen, weder von Euch, Vater Peadar, noch von Euch, Strahan. Wir werden nicht zögern, jeden zu töten, der uns verrät. Das meine ich ernst, und Ihr werdet auch gleich erfahren, warum.« Currann hatte sich, ohne es zu merken, von Siri entfernt und vor den beiden Männern aufgebaut. Sie wichen vor ihm zurück, aber nur solange, bis Currann zu sprechen begann.

»Die Königskinder sind nicht tot. Sie wurden in Sicherheit gebracht. Jemand hat versucht, die Königsfamilie auszulöschen.«

»Was sagt Ihr da?« Peadar rutschte das rote Buch aus den Händen. Es fiel mit einem lauten Knall zu Boden. Er starrte Currann fassungslos an.

»Es ist wahr.«

Strahan mochte ihm nicht glauben, obwohl sein Bruder in seinem Brief bereits so etwas angedeutet hatte. »Was habt Ihr mit der ganzen Sache zu tun?«

Currann wandte den Kopf in seine Richtung. »Wir haben ihre Flucht gedeckt. Ihre Verfolger stammten aus den Reihen des Einen Tempels, und wir haben sie besiegt. Deshalb suchen sie nach uns.« Die beiden Männer wechselten einen schnellen Blick. Wieder hatte Currann das Gefühl, dass auch sie einiges zu verbergen hatten. »Ich sehe, das überrascht Euch nicht«, beschloss er, offen zu sein.

»Nun ja..«

»Ihr werdet mir alles berichten, was Ihr darüber wisst«, unterbrach Currann sie bestimmt.

»Das geht doch etwas zu weit, junger Mann! Wer denkt Ihr eigentlich, wer Ihr seid?«, rief Strahan.

»Ich bin Soldat«, entgegnete Currann schneidend, »und meine Kameraden haben einen Eid geschworen. Sie werden alles tun, um die Königskinder weiter zu beschützen.« Plötzlich spürte er Siris raue schmale Hand in seiner. Sie sah zu ihm auf, ihr Blick war ernst. ›Nun sag es ihnen schon‹, schien sie zu drängen.

»Und Ihr, Ihr habt keinen Eid geschworen?« Die Fragen von Strahan wurden immer schärfer.

»Nein, das habe ich nicht. Ich brauchte es nicht.«

»Ihr brauchtet es nicht?! Ja, warum das denn nicht? Habt Ihr es nicht nötig oder..«

Currann hörte nicht weiter zu. Eine Bewegung lenkte ihn ab. Der Mönch war plötzlich bis an die Wand zurückgewichen. Sein Gesicht war bleich wie ein Leintuch, seine Augen geweitet, und ihm standen förmlich die wenigen verbliebenen Haare zu Berge. Currann nickte knapp. Peadar hatte die Wahrheit lange vor dem Schulmeister erkannt, der sich immer weiter in Rage redete. Ihm entfuhr ein erstickter Laut. »Der Himmel stehe uns bei!«

»Peadar, geht es Euch gut?« Strahan unterbrach seinen Redeschwall, um seinem Freund zu helfen. Dieser holte keuchend Luft. Er brachte keinen Ton heraus. »Ihr seht aus, als hättet Ihr einen Geist gesehen.«

»D..das habe ich auch«, keuchte Peadar und rutschte an der Wand nach unten. Strahan war nun gänzlich verwirrt. Fragend drehte er sich zu seiner Tochter um.

»Currann, nun sag es ihm endlich«, flehte Siri.

Wie von einer Nadel gestochen fuhr Strahan auf. »Wie.. wie hast du ihn da gerade genannt?!«

»Sie haben den Eid mir geschworen, Strahan. Ich bin Currann. Und den Rest wisst Ihr.«

Strahan sagte nichts mehr. Er konnte nur noch starren. Dann verdrehte er die Augen und sank in sich zusammen. »Vater!« Siri schrie auf.

»Hol Karya!« Currann drehte den Schulmeister auf den Rücken. Siri riss die Tür auf und rief sie.

Das brachte den Mönch wieder zu sich. »Armer Strahan.« Er half ihm.

»Es tut mir leid. Ich wollte Euch gewiss nicht erschrecken, aber Ihr seht, wir hatten unsere Gründe zu schweigen«, flüsterte Currann eindringlich, denn hinter sich hörte er die erschrockenen Ausrufe der Leute und sah Karya mit wehenden Röcken den Gang heruntereilen. Er packte den Mönch am Arm. »Habe ich Euer Wort?«

»Selbstverständlich.. Hoheit.« Plötzlich schien Peadar vor unterdrückter Heiterkeit zu vibrieren. Er gluckste in sich hinein: »›Und da werden Bauern zu Königen und Könige zu Bauern, wenn das Ende der Welt naht und der Eine Herr Gericht hält über alle Sterblichen..‹ Heißt es nicht so im roten Buch?«

Currann überlief es kalt. »Was sagt Ihr da? Scherzt nicht darüber, Ihr wisst nicht, was geschehen ist.«

Peadars Heiterkeit verflog augenblicklich. Das Gesicht des jungen Mannes hatte sich zu einem Ausdruck verfinstert, der ihm einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Er hatte da an etwas gerührt, das er nicht deuten konnte. So gleichmütig wie möglich sagte er: »Verzeiht mir, das war äußerst taktlos. Ah, Karya, kommt und helft uns! Euer Bruder hat wohl doch etwas mehr abbekommen, als wir dachten.« Siri schloss augenblicklich die Tür hinter ihnen und sperrte die Blicke der übrigen Bewohner aus.

»Du meine Güte, Strahan!« Karya wollte ihn untersuchen, doch da rührte sich der Schulmeister schon wieder.

Er setzte sich stöhnend auf. »Was.. was ist geschehen?« Er sah verwirrt um sich. Dann fiel sein Blick auf seine Tochter und den jungen Mann neben ihr. Ihm entfuhr ein Laut des Schreckens, und er zuckte zurück. Keuchend schüttelte er den Kopf.

»Vater, bitte..« Siri kniete sich neben ihn und nahm seine Hand. Eindringlich sah sie ihn an. ›Verrate bloß nichts‹, flehte sie innerlich, laut sagte sie jedoch: »Was ist so schlimm daran?«

»Ich.. das..«

»Strahan, was geht hier vor?« Karya sah verständnislos von einem zum anderen.

»Althan hat um Siris Hand gebeten«, klärte Peadar sie auf, seinen Namen nachdrücklich betonend. Er half ihr, Strahan zu stützen, der keine Luft mehr zu bekommen schien.

Karya dagegen war nicht im Mindesten erstaunt. »Nuria hat so etwas schon geahnt. Ich halte es für klug, Kleines. Ihr seid doch Freunde, oder?«

»Ja, das sind wir.« Currann trat zu Siri, wagte sie aber nicht zu berühren. Sie sah ihn nicht an. »Es war für Strahan wohl etwas zu viel auf einmal.«

Strahan setzte zum Protest an, doch Karya schnitt ihm das Wort ab: »Vater Peadar, ein Schluck Eures kostbaren Weines wäre nicht schlecht, damit mein Bruder wieder zur Besinnung kommt. Hörst du, Strahan? Du willst doch nicht etwa ablehnen? Dies ist das Beste, was Siri passieren kann!«

»Ha, das Beste!«, keuchte Strahan, bekam einen Becher an die Lippen gesetzt und wurde gezwungen zu trinken. Er verschluckte sich, hustete, und dann war sein Blick plötzlich wieder klar. Er starrte Currann an, als hätte der sich soeben wirklich in einen Geist verwandelt.

»Es tut mir leid, Strahan. Ich wollte Euch gewiss nicht erschrecken, doch die Dinge sind nun einmal, wie sie sind. Bekomme ich nun Eure Erlaubnis, Siri zur Frau zu nehmen?«

Lange Zeit herrschte Stille. Niemand sagte etwas. Schließlich richtete sich Strahan auf. Er rieb sich über das Gesicht, warf Currann einen forschenden Blick zu, schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. Karya stieß ihn an. »Nun mach schon, Bruder!«

»Wie.. wie könnte ich ablehnen? Das bringt sie in Sicherheit. Aber dann..« Er sann kurz über etwas nach und nickte schließlich. »Dann möchte ich aber auch, dass mein Enkel gleich getauft wird und Ihr nicht, wie bei den anderen Kindern, bis zur großen Versammlung im Frühjahr wartet. Damit es keinerlei Zweifel daran gibt, dass er bleiben wird.«

Currann nickte. »Einverstanden. Karya, würdet Ihr wohl Mari und den Kleinen nach vorne holen? Passt aber auf, dass Kedar nicht an ihn herankommt.«

»Natürlich. Eure Kameraden weichen uns nicht von der Seite. Komm, Strahan, steh auf. Das sollen sie nicht sehen.« Sie half ihrem Bruder auf den nächsten Stuhl und eilte hinaus.

Peadar hob unterdessen das rote Buch auf. Auch wenn er noch völlig fassungslos war, er ging das Ganze pragmatisch an und beschloss zu handeln. »Siri, hast du schon einen Namen für dein Kind?«

Sie atmete schwer aus. Jetzt war es wirklich soweit. Ein ganz kleiner Teil von ihr hatte immer noch gehofft, dass ihr Vater ablehnen würde. Das war reines Wunschdenken, und ihr Verstand sagte ihr, dass es so gewiss besser war, doch sie hatte Angst. Angst davor, ihr Zuhause aufzugeben, in eine fremde Umgebung zu gehen, mit Currann und seinen Kameraden allein zu sein.. »Ich.. wenn du nichts dagegen hast«, sie sah ihn kurz an, dann floh ihr Blick wieder zu Boden, »dann soll er Nathan heißen. Das bedeutet ›Geschenk Gottes‹.«

Currann zog die Augenbrauen hoch. Wenn das keine deutliche Aussage an Kedar war! »Der Name passt. Ich finde ihn sehr schön«, sagte er leise und hoffte, sie dadurch etwas zu ermutigen, doch sie blickte ihn nicht an.

»Es gibt da noch eine Frage zu klären, wenn Ihr erlaubt«, sagte Peadar, der sich über das rote Buch beugte und die letzten Seiten aufschlug. Dort wurden alle Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle der Siedlung verzeichnet. »Wollt Ihr Siris Sohn als Ziehsohn annehmen oder gänzlich adoptieren?«

»Ja, ist denn das nicht dasselbe?«, fragte Siri verwirrt und setzte sich.

Currann tat es ihr nach. »Nein, ist es nicht. Wenn ich ihn adoptiere, wird er erbberechtigt. Die Vorform davon ist ein Ziehsohn. Was denkst du?« Das wollte er nicht allein entscheiden. Schließlich ging es hier um die Zukunft ihres Kindes.

Für Siri war es keine Frage: »Ich würde mich nicht wohlfühlen, wenn er etwas mit der Thronfolge zu tun hätte. Das würde danach aussehen, als hätten wir uns etwas erschlichen. Nein, bitte nimm ihn nur an, aber behandle ihn wie dein eigenes Kind. Willst du das tun?«

Currann schluckte. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was da auf ihn zukam, doch um Siris Willen wollte er es tun. »Wenn dies dein Wunsch ist, werde ich dem entsprechen. Wir machen es so«, nickte er dem Mönch zu und hoffte, dass er mit dieser gewaltigen Aufgabe fertig werden würde.

Peadar sah sie beide ernst an. »Ich muss in diesem Buch Euren richtigen Namen vermerken, sonst ist die Eheschließung nicht gültig.«

Er wurde von Currann unterbrochen. »Aber müsst Ihr dann nicht auch im Tempel meinen richtigen Namen nennen? Und was ist, wenn dies jemand liest?«

Der Mönch lächelte leicht. »Das werde ich schon zu vermeiden wissen. Lasst mich nur machen. Bereit, meine Tochter?« Er hielt Siri die Hand hin. Sie starrte darauf und nickte schließlich kaum merklich.

Danach ging alles ganz schnell. Vor den ungläubigen, völlig erstarrt da stehenden Bewohnern wurden Currann und Siri zu Mann und Frau erklärt und ihr Sohn getauft. Currann kam es vor wie in einem Traum, einem Albtraum. Er fühlte sich wie von einem Sturm geschüttelt und mit unglaublicher Schnelligkeit gegen einen Felsen geschleudert. Und wie mochte es erst Siri ergehen? Bis auf das obligatorische ›Ja‹ hatte sie keinerlei Regung mehr gezeigt, ja, ihn nicht einmal angesehen.

Kaum dass sie es sich versahen, standen sie draußen vor dem Tempel in der kalten Wintersonne. Siri verließen nun endgültig die Kräfte. Sie begann zu schwanken. »Karya, helft mir!« Currann stützte sie, und Nuria nahm ihr schnell den Kleinen ab. »Sie muss schnellstens ins Warme und sich ausruhen. Bringt sie in die Schule.«

»Nein!« Siri hatte tatsächlich noch Kraft für einen Protest. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich will, dass es alles endgültig ist. Bringt mich bitte ins Fort. Vater, würdest du meine Sachen holen?«

»Aber Kind, das hat doch keine Eile..«

»Bitte, Vater. Keine halben Sachen mehr.«

»Strahan, nun mach schon«, drängte Karya. Sie konnte verstehen, was Siri empfand. Ihre Nichte wollte einen endgültigen Bruch, sowohl für sich als auch für die anderen, allen voran für Kedar.

»Evan wird Euch helfen«, sagte Nuria und sah ihren Mann auffordernd an. Dieser nahm den Schulmeister einfach mit sich, ohne auf dessen Proteste zu achten.

Die Kameraden sahen sprachlos zu. Auch sie waren völlig überrumpelt worden. Jetzt schlug die Erkenntnis mit voller Wucht durch, dass sie ab sofort eine junge Frau und ein kleines Kind bei sich haben würden.

»Himmel, das Feuer ist bestimmt aus. Es muss eiskalt dort oben sein!« Yemon rannte los.

»Und der Weg ist noch nicht richtig frei!« Auch Tamas ergriff die Flucht, etwas langsamer gefolgt von Ouray, der irgendetwas in sich hineinbrummte.

Sinan setzte sich auch in Bewegung. »Etwas zu essen wäre nicht schlecht..«

Siri starrte ihnen gelähmt hinterher. »Sie laufen vor mir davon«, flüsterte sie erstickt.

Currann wollte ihr sofort widersprechen, doch Kiral kam ihm zuvor. Er trat vor sie. »Nein, das tun sie nicht. Sie brauchen nur einen Moment, um das alles zu verarbeiten, und wollen dafür keine Zeugen. Denke das niemals, hörst du? Du bist uns willkommen.« Er hielt ihr seine großen, schlanken Hände hin.

Siri ergriff sie zögernd. »Ich.. ich danke dir.«

»Dann lass uns gehen.« Currann wollte Siri an Karyas statt beim Arm nehmen, doch sie zuckte so sehr zusammen, dass er es lieber bleiben ließ. Also ging er voraus, völlig verwirrt. Es war, als hätte sich von selbst eine Mauer zwischen ihnen errichtet. Und wieder meldete sich das schlechte Gewissen. Warum bloß?

Sie führten Siri langsam durch die Siedlung nach oben. Keinen Blick warf Currann zurück. Er wusste, dass die Bewohner nun langsam, ungläubig, auf den Tempelplatz strömten. Ihr Flüstern war in der winterlichen Stille zu hören wie ein Windhauch, der leise und doch eindringlich hinter ihnen herwehte. Und obwohl er sich nicht umsah, spürte er, wie Siri hinter ihm um jeden Schritt kämpfte und dass Karya äußerst besorgt um sie war.

Siris Kraft hielt solange an, bis sie in dem geräumten Durchgang im Schnee angekommen waren. Sobald sie außer Sicht der Häuser waren, brach sie einfach zusammen. Karya und Nuria vermochten sie nicht zu halten.

Currann schob die Frauen kurzerhand beiseite und hob sie auf seine Arme. »Kiral, lauf voraus und sag Yemon, er soll meine Kammer freimachen«, raunte er seinem Kameraden leise zu. Das war der einzige Ort, an dem er Siri und das Kind unterbringen mochte, warm und einigermaßen ungestört.

Kiral rannte schon los, bevor er überhaupt geendet hatte. Die Frauen folgten Currann langsam den Berg hinauf.

Kaum traten sie durch das große Tor, da schallten ihnen auch schon die erhobenen Stimmen von Sinan und Tamas entgegen: »..äußerst unklug, jetzt weiß er, dass du..« Currann räusperte sich. Sinan hielt inne, sich Tamas vorzuknöpfen, der mit dem Kopf in beide Hände gestützt am Tisch saß. Sobald er Currann und die drei Frauen bemerkte, sprang er auf, und Currann war sich sicher, dass er rot wurde, obwohl man das im Halbdunkel der Diele nicht sehen konnte. Sein Gesichtsausdruck sagte ihm alles.

Rasch machten die Kameraden den Weg frei. Yemon winkte schon. »Ich habe deine Sachen in den Kommandantenraum geräumt und noch ein paar Felle besorgt. Bring sie rein.«

Karya folgte ihm, sodass Nuria allein mit den Kameraden in der Diele zurückblieb. Sie sah sich erschrocken um. »Dass Ihr Euch überhaupt aus dem Schnee befreien konntet«, meinte sie leise zu Ouray und drückte das Kind schützend an sich.

»Gerade noch rechtzeitig«, sagte Currann, der mit finsterer Miene in die Diele zurückkehrte. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und barg den Kopf in den Händen, so, wie Tamas es eben noch getan hatte. Schweigend sahen seine Kameraden ihn an.

»Oh Mann!«, brach es schließlich aus Sinan stellvertretend für sie alle hervor.

»Ich glaube, ich hole uns allen erst einmal etwas zu trinken«, sagte Yemon und floh vor der Stimmung in die Küche.

»Für mich nicht. Ich gehe schaufeln.« Tamas stürmte förmlich aus der Diele.

Currann beobachtete es durch seine gespreizten Finger. Egal, was dort unten geschehen war, Mari würde dafür bezahlen müssen. Er wusste es wie alle anderen auch. Was hatte Tamas nur getan? Er würde mit ihm reden müssen, und dann.. seine Überlegungen wurden von Karya unterbrochen, die plötzlich hinter ihm in der Dielentür stand.

»Nuria, ich brauche meinen Medizinkasten, schnell!«

Currann fuhr herum. »Was ist mit ihr?« Karya schüttelte den Kopf, ignorierte seine Frage.

»Wenn Ihr erlaubt, begleite ich Euch, Nuria, nur falls Kedar Euch über den Weg läuft«, sagte Ouray.

Nuria dankte ihm mit einem erleichterten Lächeln. Sie wollte Karya den Kleinen in die Arme legen, doch ein Blick auf Althans Gesicht ließ sie sich spontan anders entscheiden. Dieser sollte sich ruhig schon mal an seine neue Aufgabe gewöhnen, dachte sie und ging auf ihn zu. »Hier, nehmt ihn und haltet ihn schön warm.«

»Aber..« Currann bekam den Kleinen so plötzlich in den Arm gedrückt, dass er sich völlig überrannt fühlte. Unbeholfen hielt er das kleine Bündel fest. Karya bekamt Mitleid und zeigte ihm, wie er das Kind halten musste. Es wirkte in seinen großen Händen einfach winzig. Und es bewegte sich! Er hörte, er spürte es atmen. Eine kleine Faust zuckte gegen den weichen Pelz. Currann war mit einem Mal so fasziniert, dass er Siri und seine Sorgen für einen Augenblick vollkommen vergaß. Vorsichtig schob er mit seinen viel zu großen Fingern die winzige Kapuze herunter und zog überrascht die Luft ein.

›Aber, das kann doch nicht sein!‹, war seine erste Regung. Der Junge sah ja genauso aus wie seine kleinen Geschwister und alle anderen kleinen Kinder, die er bisher gesehen hatte! Ein verkniffenes Gesichtchen, dunkle, flaumige Haare, und er zog unentwegt Grimassen, als würde er heftig träumen. Currann sah auf, eine Frage auf den Lippen, und begegnete Karyas wissendem Blick.

»Sieht gar nicht aus wie ein Goi, nicht wahr?«, lächelte sie.

»Nein, er sieht eher aus wie einer von uns.« Ein Schreck durchfuhr ihn. Siri! »Karya, was ist mit ihr?«

Karya sah die Augen aller auf sich gerichtet, doch dies ging nur den frisch gebackenen Ehegemahl etwas an. Daher nahm sie ihn mit in den Kommandantenraum und schloss leise die Tür. »Sie blutet.«

Ihm wurde kalt vor Angst. »Blutet?! Aber Karya..« Was wusste er schon von Geburten? Er wollte hilflos die Arme heben und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an das Bündel darin. So schüttelte er nur den Kopf.

Karya erklärte es ihm geduldig. »Ihr müsst Euch vorstellen, dass sie nach der Geburt eine große offene Wunde in ihrem Bauch hat, die nur langsam verheilt.«

»Stirbt sie?!« Currann konnte nicht mehr an sich halten und unterbrach sie.

»Nein, nein, ich kann etwas dagegen tun. Die Anstrengung war einfach zu viel für sie.«

»Darf.. darf ich sie sehen?«

Karya maß ihn mit einem halb belustigten, halb besorgten Blick. Warum fragte er denn? »Das dürft Ihr wohl, schließlich ist sie jetzt Eure Frau. Geht nur hinein.«

Er schlich sich auf Zehenspitzen zu ihr, blieb jedoch in der Tür stehen. Von Siri konnte er bis auf die helle Fläche ihres Gesichts nicht viel erkennen, so sehr verschwand sie in seinen Fellen. Doch sie war wach, er sah es am Weiß ihrer Augen, die im Schein des kleinen Talglichts glänzten. Als sie ihn erkannte, zuckte sie zusammen, und bevor er auch nur etwas sagen konnte, schloss sie die Augen und drehte ihren Kopf zur Wand. Das war deutlicher als alle Worte. Zum Glück war Karya durch das Eintreffen Nurias abgelenkt. Die Frauen übernahmen das Kommando, sodass Currann sich unversehens allein mit seiner kostbaren Fracht in der Diele wiederfand.

Niemand war mehr dort. Stattdessen hörte er lautes Scharren von oben. »Was ist, stellen wir dich mal vor, Kleiner?«, raunte er dem Kleinen zu. Nathan war es herzlich egal. Er war warm eingepackt und schlief tief und fest, wie er auch schon die Heirat seiner Mutter und seine eigene Taufe verschlafen hatte. Vorsichtig sein kostbares Bündel haltend, stieg Currann die glatten Stufen zu den Türmen hinauf. Sobald sie ihrer ansichtig wurden, scharten sich die Kameraden auch schon um sie.

»Zeig mal her.«

»Hm, sieht gar nicht aus wie ein Goi.«

»Woher wollt ihr denn wissen, wie ein Goi Kind aussieht?!« Sinan verdrehte die Augen ob der Kommentare, die Tamas und Yemon von sich gaben.

»Cerinn Kinder sehen auch so aus, nur dass die Augen etwas schräger sind«, ließ Kiral vernehmen, und Ouray unterzog den Kleinen einer fachmännischen Untersuchung. »Er ist sehr groß für sein Alter. Nein, wirklich«, bekräftige er, als die Kameraden ungläubig die Köpfe schüttelten. »Seht her, Kraft hat er auch.« Er schnürte vorsichtig den Halsausschnitt auf. »Currann, halt ihn in die Sonne, sonst wird ihm kalt.« Ouray befreite sanft eine winzige Faust aus den Tiefen des Schlafsackes. »Streich ihm mit deinem kleinen Finger über die Handfläche.«

»Warum?«

»Versuchs einfach. Na los!«

Currann tat verwundert, was Ouray ihm aufgetragen hatte, und er wäre fast zusammengezuckt, als die kleinen Finger unvermittelt zupackten. »He, der hat ja Kraft!«

»Alle kleinen Kinder können das«, klärte Ouray sie auf. Jetzt wollten es alle ausprobieren, und sie lachten, das erste Mal an diesem Tag. Nur einer fand das Ganze überhaupt nicht komisch. Nathan wurde rüde aus seinem schönen Schlaf geholt. Der vertraute Duft seiner Mutter war fort, kalte Luft strömte in sein eben noch so warmes Fell, ständig kitzelte ihn jemand an der Hand und all diese tiefen, fremden Stimmen um ihn herum.. er verzog das Gesichtchen.

»Oh oh!«, machte Yemon und zog seinen Finger gerade noch rechtzeitig fort, da lief er auch schon rot an und brach in so lautes Gebrüll aus, dass alle einen erschrockenen Satz zurück machten. Nur Currann, er konnte es nicht und stand plötzlich allein mit dem schreienden und sich mit erstaunlicher Kraft windenden Bündel da. »He, und jetzt?«

»Bring ihn doch zu den Frauen.« Tamas griff wieder zu seiner Schaufel. Alle anderen grinsten.

»Na, ihr seid mir ja schöne Kameraden!« Currann musste seine Stimme erheben, um das Gebrüll zu übertönen. »Ouray, was kann mit ihm sein?«

Dieser zuckte mit den Schultern. »Was schon, entweder er hat Hunger oder die Windeln sind voll.«

»Weißt du, wie man sie wechselt?«

»Bäh!«, machte Yemon.

»Hau ab, wenn du mir nicht helfen willst!«, fauchte Currann, dem das Schreien des Kleinen langsam Unbehagen bereitete. »Also?«

Ouray kratzte sich verlegen am Kopf. »Naja, ich habe es wohl schon mal gesehen..«

»Dann zeig es mir, ja?« Currann ließ ihm keine Wahl. Eilends kehrten sie in die wärmere Diele zurück, gefolgt von den anderen, die das keinesfalls verpassen wollten. Nathans Gebrüll ließ sofort nach. »Ach, kalt war dir nur?«, raunte Currann ihm zu und legte ihn vorsichtig auf das Ende des Tisches, das dem Feuer am nächsten war. Nathan blinzelte verwirrt zu ihm auf. »Ob er mich sehen kann?«, fragte er Ouray fasziniert.

»Glaube ich nicht. Sie sind am Anfang so blind wie kleine Kätzchen«, meinte dieser. Ein kalter Luftzug wehte herein. Sofort verzog der Kleine wieder die Miene.

»Yemon, mach die Tür zu«, mahnte Currann. Er strich Nathan beruhigend über den Kopf. »Und nun?«, fragte er Ouray. Der ließ sich nicht lange bitten. Unter seiner Anleitung und vielen frechen Kommentaren seitens der anderen Kameraden gelang es Currann, dem Kleinen die Windeln zu wechseln. Abschließend betrachtete er stolz sein Werk.

»Also, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich würde es nicht glauben!« Sie fuhren herum. Karya stand mit in die Hüften gestemmten Armen in der Tür und musterte ihn anerkennend. Hinter ihr lächelte Nuria in sich hinein.

»Ähm..« Currann wurde rot. »Die.. die Beinlinge sind noch nass. Habt Ihr noch welche?«

»Mein Bruder wird sie hoffentlich bald bringen. Fürs Erste wird es genügen, wenn wir ihn einfach in sein Schlaffell stecken.« Karya zog den Kleinen mit zwei, drei Handgriffen, die in Curranns Augen fast brutal aussahen, wieder an. »Ihr seht, sie sind nicht zerbrechlich. Ganz besonders dieser hier nicht. Ich nehme ihn mit. Er wird sicherlich bald Hunger bekommen.« Wie auf das Stichwort begann Nathan zu krähen.

Currann folgte den beiden in den Kommandantenraum, doch weiter traute er sich nicht. Karya kehrte zu ihm zurück. »Was wollt Ihr jetzt tun?«, fragte Currann die Heilerin.

»Ich möchte gerne heute Nacht hierbleiben, um nach Siri zu sehen.«

»Selbstverständlich, wir richten Euch ein Lager her. Aber das meinte ich nicht. Was wollt Ihr wegen Eurer Tochter unternehmen?« Currann glaubte fast zu hören, wie Siri die Luft anhielt.

»Der Herr möge mir verzeihen, ich weiß es nicht. Sie will nicht zu ihrem Vater zurück. Er wird sie wieder einsperren und.. und Goran.. er wird nichts tun, wie jedes Mal. Ich verstehe meinen Sohn nicht mehr!«, brach es aus Karya heraus.

›Feigling‹! Das war das unausgesprochene Wort, das im Raum hing. Von Siris Seite konnte Currann es beinahe hören.

Aber auch jetzt nahm die Mutter in Karya ihn immer noch in Schutz. »Vielleicht weiß er nicht, wohin er gehört. Wisst Ihr, er hat immer zu seinem Vater aufgeschaut. Es tut ihm bestimmt weh zu erkennen, wie er wirklich ist.«

Von nebenan kam ein leises Schnauben. »Ha!« Currann konnte nicht glauben, was er da hörte.

»Er will sich nicht damit auseinandersetzen, weil er dann jemanden zurückstoßen müsste, den er liebt«, sagte jemand schwer atmend in der Diele. Peadar war mit Strahan und Nurias Mann gekommen, um Siris Sachen zu bringen. Letztere schleppten eine große Truhe und brachten sie in den Kommandantenraum. Evan bekam einen Hustenanfall von all der Anstrengung und begab sich in die Diele, wo die Kameraden ihn mit etwas zu trinken versorgten.

Peadar sah ernst in die Runde und ging dann auf Karya zu. »Kedar verlangt nach Mari. Sie hat sich in der Schule eingeschlossen.« Currann nahm hinter den Männern eine Bewegung wahr und sah Tamas, der näher an den Kommandantenraum herangerückt war.

»Dann werde ich gehen und ihr helfen.« Karya schluckte.

»Du kannst jetzt nicht allein zu ihm. Nimm jemanden als Begleitung mit«, rief Nuria entsetzt.

»Wir könnten Euch Geleitschutz geben«, wandte auch Currann ein, einen warnenden Blick in Tamas’ Richtung werfend, dem wohl derselbe Einwand auf den Lippen lag. ›Halt dich zurück!‹ Tamas funkelte ihn wütend an, und Currann wusste genau, warum. Hatte er sich nicht vor zwei Stunden in derselben Lage befunden und sich eben nicht zurückgehalten? »Ich gebe Euch Ouray als Begleitung mit, Vater Peadar. Evan, würdet Ihr auch..?«

»Selbstverständlich.«

»Ich komme auch mit.« Nuria hakte sich bei ihrem Mann ein.

Currann konnte sehen, wie schwer es Karya fiel, Siri allein zu lassen. Anders als ihr Bruder hatte sie keine Wahl. »Ich werde nach ihr sehen. Das kann er mir nicht verbieten«, sagte Karya entschlossen, obwohl sie alle wussten, dass dies unklug war.

Plötzlich stand Currann allein mit seinem neuen Schwiegervater im Kommandantenraum. Unbehaglich sahen sie sich an. »Ja.. ich..« Strahan sah sich verlegen um.

»Ich räume schnell meine Sachen fort.« Mit diesen Worten floh Currann aus dem Raum. Er hielt es einfach nicht mehr aus, er musste etwas zu tun haben, sonst würde er noch verrückt. Zusammen mit Yemon und Sinan räumte er die eh schon fast leere Vorratskammer neben der Küche aus, fegte sie sauber und richtete sich dort ein Quartier her. Dies würde seine Schlafkammer werden, bis Siri.. energisch verbat er sich den Gedanken. Das würde niemals geschehen.

Weiter! Nicht nachdenken! Er ließ Sinan und Yemon stehen und trat hinaus in den Innenhof. Kein guter Einfall, denn er lief Tamas direkt in die Arme. Dieser war wütend, auf Currann und auf sich selbst, weil er sich nicht gegen Curranns Willen zu stellen vermochte. Er wollte ihn packen, doch Currann schlug seine Hände mühelos beiseite. »Halt dich zurück!«

»Was fällt dir eigentlich ein, mir zu sagen, was ich zu tun habe!«

Currann schnitt ihm das Wort ab, denn ihm war ein guter Einfall gekommen, wohin sie beide jetzt gehen konnten, um sich abzulenken. »Ich gehe jetzt in die Schmiede, und du kommst mit mir«, grollte er. Tamas’ Gesicht verfinsterte sich, aber er kam nicht mehr dazu, ihm eine entsprechende Antwort zu geben.

»Das halte ich für eine gute Idee.« Sie fuhren beide herum. Yorran stand mit verschränkten Armen im Tor. Niemand hatte bemerkt, wie er gekommen war. »Ihr habt da ein kleines Problem. Euer schlampig gebautes Dach hat dem Schnee nicht standgehalten. Ich habe Euch gleich gesagt, dass es nicht halten wird!«

»Was sagt Ihr da?!« Tamas war genau in der richtigen Stimmung für solche Neuigkeiten. Er riss sich von Currann los und baute sich vor dem Schmied auf. Dieser grinste vor lauter Genugtuung.

Auch Currann ärgerte sich, aber mehr über die Tatsache, dass sie nicht auf ihn gehört hatten. »Wir hatten es eilig.« Er zuckte mit den Schultern, seinen Ärger hinter Gleichmut verbergend, und nahm sich zwei Schaufeln. »Sehen wir uns den Schaden einmal an. Komm schon!« Halb schob, halb zerrte er Tamas hinaus. Yorran kam langsam hinter ihnen her.

In der ersten Quergasse der Siedlung zerrte Currann seinen Kameraden in eine andere Richtung. »Oh nein, nicht über den Tempelplatz. Wir gehen jetzt hier lang!«

»Lass mich!«

»Tamas!«, zischte Currann leise genug, dass Yorran es nicht hören konnte. »Du wirst es nur schlimmer machen, wenn du dich einmischst. Du spielst Kedar damit in die Hände!«

»Das hat dich auch nicht davon abgehalten!«, fauchte Tamas zurück.

Currann erwiderte nichts, sondern zerrte ihn einfach weiter. Ihm war bisher gar nicht richtig bewusst, wie sehr seine Kraft zugenommen hatte, bis er merkte, dass Tamas sich kaum wehren konnte. Sicherlich, er war der Kleinste von ihnen.. oder wollte er gar, dass jemand ihm die Entscheidung abnahm, und wehrte sich nur halbherzig? Currann hielt inne und fand es im Gesichtsausdruck seines Freundes bestätigt. Er seufzte. »Das war etwas völlig anderes, und das weißt du auch!« Rasch blickte er hinter sich, doch von Yorran war keine Spur zu sehen. Er hatte wohl einen anderen Weg genommen. »Ich habe Siri meinen Schutz versprochen, sie war einverstanden und außerdem.. ihr Vater war nie gegen uns! Mari redet nicht einmal mit dir, geschweige denn..«

»Oh ja, wie sehr Siri mit dem Ganzen einverstanden war, hat man ja im Tempel gesehen! Denk mal darüber nach, was genau du getan hast!«, giftete Tamas und ließ Currann einfach stehen, den Finger an genau den wunden Punkt legend, über den er nicht nachdenken wollte.

Mit einem lautlosen Fluch auf den Lippen folgte Currann seinem Kameraden. Kurz darauf standen sie vor den Überresten dessen, was einmal ihre Schmiede gewesen war. »Verdammt!« Außer einem großen Haufen Schnee war nichts mehr zu sehen.

»Hm, ich kann von Glück sagen, dass meine Schmiede nicht in Mitleidenschaft gezogen worden ist bei der..«

»Ja doch!«, schnitt Tamas dem Schmied das Wort ab. Er begann, mit wütenden Hieben die Schneekruste auseinanderzubrechen. Currann tat es ihm gleich, den Schmied gänzlich ignorierend.

In den nächsten Stunden arbeiteten sie in verbissenem Schweigen. Als die Wintersonne hinter dem Berg verschwand und Branndar in den gewohnten nachmittäglichen Winterschatten tauchte, begannen sie gerade die Trümmer ihres Daches auf einen Haufen zu schichten. Darunter kamen die Werkbank und die Feuerstelle zum Vorschein.

»Oh nein, sieh nur!« Es waren die ersten Worte, die Tamas seit Stunden sagte. Er hielt die zerbrochenen Teile des Messers in der Hand, das sie mühevoll kurz vor dem Sturm gefertigt hatten. Ihr Erstes. Und jetzt war es nur noch Trümmer wie alles andere.

Currann hob die restlichen Stücke vorsichtig auf. Er betrachtete sie im schwindenden Licht des Tages. »Sieh mal, es hat irgendwie die Farbe verändert. Hier sind überall braune Flecken entstanden.« Interessiert hockte sich Tamas neben ihn.

»Das nennt man Rost«, sagte plötzlich Yorran hinter ihnen. Er brachte ihnen etwas Licht. »Es zerstört das Metall.« Im Laufe des Winters hatten sie erfahren, dass der Schmied sehr wohl schon einmal versucht hatte, dieses Metall zu verarbeiten, aber gescheitert war. Er vermochte es nicht zu schmelzen. Seine Erfahrungen aber hatte er an sie weitergegeben.

»So schnell? Das ist ja weniger haltbar als Bronze!«, meinte Tamas enttäuscht. Und dabei hatten sie gehofft.. sie sprachen ihre Gedanken nicht laut aus, sondern erhoben sich mit steifen Gliedern. Jetzt, wo die Sonne fort war, wurde es schneidend kalt, und der Wind frischte merklich auf.

Currann steckte vorsichtig die zerbrochenen Teile ein. »Verzeiht uns bitte unseren Auftritt vorhin. Wir waren wohl etwas angespannt«, entschuldigte sich er.

»Ach, lasst nur«, winkte der Schmied ab. Stattdessen deutete er auf das letzte Bruchstück, das Currann in der Hand hielt. »Ihr sollet es einölen, dann hält es länger.. was ist?«

Tamas und Currann waren zusammengezuckt. »Was habt Ihr da gerade gesagt?!«

»Wie?« Yorran wunderte sich. »Gegen den Rost hilft eine feine Schicht Öl.«

»Also doch!«, rief Currann aus. »Unsere Schwerter müssen wir auch ölen. Es muss einfach dasselbe Metall sein, es muss! Wir haben nur etwas falsch gemacht. Aber was?« Er wollte nicht glauben, dass die ganze Arbeit umsonst gewesen war. Das durfte nicht sein! Das Auftauchen der Goi Waffen aus Ferrium hatte sie unter Zugzwang gebracht. Sie musste Erfolg haben, wenn sie gegen die Goi bestehen wollten.

»Kommt, heute könnt Ihr hier nichts mehr ausrichten. Der Wind wird stärker. Ihr solltet zusehen, dass Ihr ins Fort zurückkehrt«, drängte Yorran. Es war gefährlich, bei starkem Wind draußen zu bleiben, das hatten sie in den letzten Tagen gelernt.

Tamas fuhr unvermittelt auf. »Yorran, was ist mit Mari? Habt Ihr etwas mitbekommen?« Er machte eine unmerkliche Bewegung, als wolle er losstürmen, doch Currann packte ihn ganz unauffällig an seinem Fellumhang und hielt ihn fest.

»Ich weiß es nicht. Als ich vorhin über den Tempelplatz gegangen bin, war er leer. Niemand war dort.« Der Schmied sah ihn bedauernd und irgendwie forschend an.

Wäre es nicht zu offensichtlich gewesen, Currann hätte Tamas angestoßen oder auf den Fuß getreten, so jedoch sagte er nur: »Ouray wird es uns sicherlich gleich erzählen. Bis Morgen, Yorran.« Er kannte kein Erbarmen und zog Tamas mit sich.

Im Innenhof des Forts brannte eine Fackel, ein Zeichen dafür, dass sie noch Besuch hatten. Waren sie allein, fanden sie sich nachts auch ohne Licht zurecht. Strahan und der Mönch saßen mit den Kameraden in der Diele und aßen. Alle blickten auf, als sie eintraten.

»Was ist mit..?«

»Wie geht es..?«, brach es gleichzeitig aus Tamas und Currann hervor.

Ouray hob die Hände. Er wirkte müde. »Sie ist bei ihrem Vater.«

»Siri schläft«, beantwortete Strahan die zweite Frage. Ein lautloser Fluch entfuhr Tamas. Er schluckte seinen Protest herunter, als er die ernsten Mienen der anderen sah.

»Wascht euch doch erst einmal und wärmt euch auf. Das Essen wird kalt.« Sinan versuchte wie immer, sie zu beschwichtigen. Das kalte Wasser in der Küche half. Kurze Zeit später waren sie in der Lage, sich ruhig zum Essen niederzulassen.

Es folgten ein paar Minuten unbehaglichen Schweigens, in denen sich Currann und Tamas ihre durchgefrorenen Finger an den warmen Bechern auftauten und hungrig den Eintopf in sich hineinschaufelten. Currann sah heimlich immer wieder zu Strahan herüber, der düster vor sich hinbrütete. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass dieser noch etwas für ihn bereithielt, und so war es dann auch.

Kaum ließen sie gestärkt ihre Löffel sinken, ergriff der Schulmeister das Wort: »Bevor ich nach unten zurückkehre, würde ich gerne noch ein paar Dinge mit Euch klären.« Er sah zwar in die Runde und mied auffallend Curranns Blick, doch alle spürten, dass diese Worte hauptsächlich für ihn bestimmt waren. »Da Karya aus guten Gründen nicht hier sein kann..«, Currann verpasste Tamas unter dem Tisch einen Fußtritt, als dieser mit einer Frage herausplatzen wollte, »hat sie mich gebeten, Euch ein paar Dinge in Bezug auf Siri zu sagen.« Er fixierte Currann so plötzlich, dass dieser sich sofort versteifte. »Was sie jetzt vor allem braucht, ist Ruhe. Sie soll sich nicht anstrengen und keine schweren Arbeiten übernehmen.«

»Natürlich nicht!«, fuhr Sinan auf, und auch unter den anderen erhob sich empörter Protest.

»Wie kann sie so etwas denken..«

»Wir würden nie von ihr verlangen..«

Currann, der sich die ganze Zeit schweigend mit Strahans Blick gemessen hatte, schüttelte den Kopf und unterbrach seine Kameraden. »Ihr vielleicht nicht, aber sie selbst wird sich dazu verpflichtet fühlen«, sagte er auch in der Absicht, Strahan zu zeigen, wie gut er sie kannte. »Keine Sorge, ich passe schon auf, auch wenn ihr das nicht gefallen wird.«

Der Schulmeister presste die Lippen zusammen. Diese Runde ging an den jungen Mann, doch so leicht wollte er nicht klein beigeben. »Noch eines: Ihr werdet sie nicht bedrängen! Meine Schwester und ich werden in den nächsten Tagen nach ihr sehen, und ich erwarte von Euch, dass Ihr diesen Raum dort nicht ohne unsere Erlaubnis betretet, und zwar solange, bis sie wiederhergestellt ist und von selbst herauskommt.«

Alle zogen hörbar die Luft ein. Currann war empört. »Sollen wir Euch gleich eine Liege quer vor die Tür stellen?« Er spürte, wie sich langsam wieder seine Wut regte. Was dachte der Schulmeister eigentlich von ihnen?

»Aber Strahan, sie muss doch etwas essen und trinken«, griff Sinan beschwichtigend ein. »Fragt sie doch, ob sie damit einverstanden ist, dass wir ihr etwas in den vorderen Raum stellen.«

Von Sinans Seite akzeptierte der Schulmeister diesen Einwand, schließlich arbeiteten sie jeden Tag eng zusammen. »Das ist ein guter Einfall. Ich werde es gleich tun«, sagte er etwas versöhnlicher.

»Vielleicht sollten wir Euch wirklich einen Schlafplatz herrichten, falls Euch das beruhigt«, machte Currann den Versuch, die Schärfe seiner vorherigen Worte etwas abzumildern.

Strahan wiegelte ab: »Nein, nein, das würde Siri nicht wollen, und außerdem möchte ich bei Karya bleiben. Ihr habt gehört, was sie gesagt hat.«

»Und dem wollt Ihr nicht widersprechen. Ich verstehe«, erwiderte Currann und rollte innerlich mit den Augen. Wie er es auch anpackte, mit dem Schulmeister hatte er es sich wohl fürs Erste verdorben.

Dies spürte auch der Mönch. »Es ist spät und wir haben alle einen langen Tag – und ich bin sicher, Ihr auch eine lange Nacht – hinter uns. Lasst uns schlafen gehen, und morgen können wir ausgeruht alles Weitere sehen«, sagte er als deutliches Zeichen in Richtung der beiden, endlich Ruhe zu geben. Alle nickten, zu müde für weitere Dinge.

Strahan sah noch kurz nach seiner Tochter. »Sie ist einverstanden«, teilte er Currann knapp mit, und dann ging er ohne ein weiteres Wort hinaus.

Peadar beeilte sich, hinter ihm herzukommen. »Wartet! Strahan, so wartet doch!« Aber der Schulmeister hielt erst an, als sie außer Sichtweite des Forts angekommen waren.

»Ich kann es nicht glauben!« Er fuhr zu dem schwer atmenden Mönch herum.

»Das geht uns allen so, mein Freund«, keuchte Peadar.

Strahan raufte sich die Haare in dem Versuch, eine Erklärung zu finden. »Da hat man eben noch ein kleines Mädchen auf dem Schoß, und plötzlich ist sie Mutter und verheiratet obendrein und auch noch mit.. der Himmel stehe uns bei!«

»Beruhigt Euch!« Peadar fasst ihn vorsichtshalber unter dem Arm. Sein Freund sah wirklich mitgenommen aus. Langsam gingen sie weiter, Strahan unverständliche Worte vor sich hinmurmelnd, Peadar dagegen gluckste vergnügt in sich hinein.

»Ihr scheint das Ganze wohl sehr komisch zu finden!«, schnappte Strahan empört.

»Nicht die Ereignisse, mein Freund, der Eine Herr bewahre! Nein, ich glaube, dass sich für Siri alles zum Guten wenden wird. Habt Ihr nicht gesehen, wie vertraut sie im Tempel miteinander umgegangen sind? Wie sie..«

»Warum habt Ihr mir nichts gesagt?!«, unterbrach Strahan ihn.

Peadar blieb stehen. »Ich weiß viele Dinge in dieser Siedlung, die sonst niemandem bekannt sind«, entgegnete er ernst. Strahan hob entschuldigend die Hände. Der Mönch fühlte sich dennoch genötigt, es zu erklären: »Ich sehe das als Teil meiner Berufung zur Vertrauensperson. Siri wird ihre Gründe gehabt haben, Euch nichts zu sagen, dessen bin ich sicher.«

»Was.. was wollt Ihr damit andeuten?« Die Entschuldigung, die Strahan schon auf der Zunge gelegen hatte, schluckte er herunter.

»Nichts, mein Freund, beruhigt Euch. Nur, dass es ihr Kraft gegeben hat, Kraft, dies alles durchzustehen, Kraft, ihr Kind zu behalten. Ich habe damals lange mit ihr und Karya gesprochen, und Siri hat sich durchgesetzt. Ich glaube, dass ihre Bindung zu unserem jungen Freund sehr viel tiefer liegt, als wir alle ahnen.«

»Sie hat Angst vor ihm, vor dem allen!«, rief Strahan.

»Natürlich hat sie das. Das hätte wohl jeder. Oder hattet Ihr keine Angst, als Ihr geheiratet habt?«

Strahan musste ihm kleinlaut recht geben. »Ja, schon, aber..«

Der Mönch nahm ihm beim Arm. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. »Sie wird sich überwinden, wenn Euer Schwiegersohn sich gedulden kann. Tut er es allerdings nicht, wird er alles zerstören. Das ist die Gefahr dabei. Ich glaube, dass er das längst erkannt hat. Lassen wir mal seine Abstammung beiseite, ich halte ihn für einen sehr verständigen und einfühlsamen jungen Mann, zwar manchmal etwas unbeherrscht, aber waren wir das in unserer Jugend nicht alle?« Er wartete, bis Strahan zögernd nickte. »Seht Ihr? Wenn er Geduld beweist und Eure Tochter die nächsten Schritte machen lässt, dann..« Erschrocken hielt er inne. »Strahan, geht es Euch gut?« Besorgt rüttelte er den Schulmeister an der Schulter. Dieser schien plötzlich keine Luft mehr bekommen zu können. Er war bleich und zitterte. »Strahan?!«

Keuchend holte der Schulmeister Luft. »Dann.. dann wird meine Tochter Königin werden!« Es traf ihn wie ein Faustschlag.

Peadar packte ihn fest, denn Strahan schienen tatsächlich die Kräfte zu verlassen. »Strahan, mein Freund, ich glaube, wir beide brauchen jetzt etwas zu trinken!«

Der Schulmeister brachte ein keuchendes Lachen zustande. »Das klingt gut..« Ihre Stimmen gingen in dem zunehmenden Wind unter.


Siri lag regungslos da und lauschte. Schmerzen hatte sie keine mehr. Was auch immer Karya ihr in den Tee gemischt hatte, es half. Sie fühlte sich ausgeruht, und dennoch, sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie wollte niemandem begegnen, also wartete sie, bis die Geräusche von nebenan langsam verstummten. Sie unterhielten sich leise, gedämpft, wegen ihr, dessen war sie sich sicher. Wegen ihr.. Siri zog ihren Sohn dichter an sich.

Sie fürchtete sich vor den Blicken, dass sie sich mit ihnen auseinandersetzen musste, besonders mit Currann.. Was hatte er getan? Was hatte sie nur getan? Sie beide! Er war dazu gezwungen gewesen. Dies und nichts anderes hatte er tun können oder sein Gewissen hätte ihn umgebracht. Und es war ihre Schuld. Ihre! Sie hätte es niemals soweit kommen lassen dürfen, hätte ihn zurückweisen müssen, von Anfang an, hätte.. einfach alles hatte sie falsch gemacht! Und jetzt stand er da, mit ihr und einem Bastardkind, einer Belastung, die ihn alles kosten konnte, wofür er kämpfte. Sie machte sich keine Illusionen. Die Reaktion seiner Kameraden sagte ihr alles, Kiral ausgenommen. Er war ja auch nicht aus Morann! Wie könnte sie ihnen jemals wieder unter die Augen treten?

Was hatte sie sich alles vorgestellt: Weggehen würde sie, fort aus Nador, irgendwohin, wo sie niemand behelligen konnte, vielleicht sogar nach Temora, zusammen mit ihrem Vater. Sie wollte fort von hier, fort aus dieser engen Welt, die sie dazu verdammte, ein eingepferchtes Leben zu führen. Davon wusste Currann nichts, sie hatte es ihm erst sagen wollen, wenn es soweit war. Dennoch musste er etwas geahnt haben, zu häufig hatte er ihr Fragen in diese Richtung gestellt. Es hatte sie beunruhigt, wie gut er sie kannte und sie ihn, wie man heute gesehen hatte.

Siri stöhnte leise und verzweifelt auf und weckte damit den Kleinen. Er begann zu weinen, ein dünnes, leises Wimmern. Nichts Ernstes. Sie setzte sich auf und nahm ihn in ihre Arme. Es erstaunte sie, wie sehr sie bereits ihre Stimmungen auf ihn übertrug. Vielleicht weil sie die ganze Zeit in Furcht gelebt hatte. »Das brauchst du jetzt nicht mehr«, flüsterte sie und drückte ihr Gesicht in das weiche Haar.

Er brauchte es wirklich nicht mehr, im Gegensatz zu ihr. Sie fürchtete sich. Einerseits wünschte sie sich Currann herbei, seine Stärke, seinen Schutz. Sie fühlte seine Anwesenheit im Fort, selbst wenn sie ihn nicht hörte. Es war wie eine unsichtbare Luftströmung, die alles durchdrang, so wie die Felle, auf denen sie lag, die immer noch nach ihm rochen und sie wünschen ließen.. Sie saß in der Falle und wusste nicht, was sie tun sollte. Deshalb rührte sie sich nicht und stand erst auf, als es nebenan still geworden war.

Im Kommandantenraum fand sie neben der Tür etwas zu essen und zu trinken vor. Die Schale mit etwas, das wohl einen Eintopf darstellen sollte, schob sie achtlos beiseite, doch das Brot und den verdünnten Saft nahm sie an sich. Den ganzen Tag hatte sie noch nichts gegessen und getrunken, und erst jetzt merkte sie, dass sie ganz schwach vor Hunger und Durst war. Sie schlang das Brot förmlich herunter, bis ihr Blick auf das kleine Töpfchen mit dem Honig fiel. Es stand auf ihrer Truhe und daneben.. Siri entfuhr ein Laut, halb Lachen, halb Schluchzen. Ein kleines Körbchen stand dort, ausgepolstert mit eben jenem Wolfsfell, auf dem sie immer gesessen hatte, als sie sich mit Currann getroffen hatte. Es war für Nathan.

»Sieh mal, du hast eine Wiege bekommen«, wisperte sie und legte ihn hinein. Für sie war es eine Erleichterung, einen sicheren Ort zu haben, wo sie ihn ablegen konnte. Es gab ihr Gelegenheit, die Truhe zu öffnen. Mit einer Hand Stück um Stück Brot in den Mund schiebend, sah sie mit der anderen ihre Sachen durch. Es fehlte nichts. Siri nahm ein winziges Hemdchen heraus, hielt es an ihr Gesicht und atmete den vertrauten Duft ein.

Gesättigt und die vertrauten Dinge um sich herum, ging es ihr schon viel besser. Das letzte Stück Brot tunkte sie mit einem leisen Lächeln in den Honig. Den Rest würde sie für eine besondere Gelegenheit aufheben. Mit halb geschlossenen Augen ließ sie die Süße auf ihrer Zunge zergehen und hatte plötzlich wieder die Kraft zu überlegen, wie es nun weitergehen sollte.

›Schritt für Schritt, Sirial‹, hörte sie die mahnende Stimme ihres Vaters im Hinterkopf. Erst einmal auspacken. Und sich waschen wäre auch nicht schlecht. Siri erhob sich langsam und ging zögernd zur Tür.

Die Hand an den Riegel legen.

›Wovor fürchtest du dich? Sie haben dich alle gesehen! Du brauchst dich nicht mehr verstecken.‹ Dennoch öffnete sie die Tür erst einmal einen Spalt und lauschte hinaus. Niemand war in der Diele. Siri atmete auf. So leise, wie sie konnte, holte sie sich die Dinge, die sie brauchte.

Sie täuschte sich. Jemand hörte sie. Currann lag wach. Die Ereignisse drehten sich in seinem Kopf, und ihn drückte immer noch das schlechte Gewissen. Doch nun vergaß er es. Er hielt den Atem an. Die Tür zum Kommandantenraum knarrte leise. Sie bewegte sich lautlos, trotzdem wusste er genau, wo sie gerade hinging und was sie dort tat. Er konnte jede Tür an ihren Geräuschen unterscheiden, so sehr hatten er und seine Kameraden es sich angewöhnt, selbst im Halbschlaf darauf zu achten, wo die anderen sich gerade befanden, falls die Goi angriffen.

Sie ging in die Küche. Currann hörte es leise plätschern, als sie sich Wasser aus dem Schacht holte. Erschrocken fuhr er hoch. ›Aber sie soll doch nicht..‹ Er war schon fast an der Tür seiner Kammer angekommen, da fielen ihm siedend heiß Strahans Worte ein. Es hatte wohl seinen Grund, weshalb sie allein sein wollte. Er lehnte seine Stirn an die Tür, seine Hand umfasste den Riegel, und er kämpfte mit sich, kämpfte den Wunsch herunter, ihr zu helfen. Stattdessen folgte er ihren Geräuschen durch die Räume, bis es wieder ruhig geworden war.

Currann ging langsam zu seiner Liege zurück und setzte sich. Er rieb sich über das müde Gesicht. Ein Teil von ihm war froh, dass sie aufgestanden war und es ihr besser zu gehen schien. Der andere Teil sorgte sich, weshalb sie sich ihnen nicht zeigte. Er beschloss, Ersteren die Oberhand gewinnen zu lassen, damit er wenigstens noch etwas Schlaf finden würde.


Siri kam auch in den nächsten Tagen nicht aus ihrer Kammer hervor. Nur an den verschwundenen Speisen, den Bemerkungen ihres Vaters und Karyas und an den nächtlichen Geräuschen merkten sie, dass noch jemand anderes unter ihnen weilte. Und natürlich an Nathan, der lautstark seine Anwesenheit kundtat.

Currann erlegte sich selbst strengste Disziplin auf und dehnte diese auch auf Tamas aus. Sie schufteten wieder von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und selbst im Schein der Fackeln in der Schmiede, doch diesmal hatte es etwas Wütendes. Zum einen, weil sie nicht wussten, was mit Siri und Mari war, zum anderen, weil ihr Werk in Trümmern lag. Currann wusste sich bald keinen Rat mehr und bat schließlich am dritten Abend Strahan um Hilfe. Dieser stand ihm seit der Heirat mit seiner Tochter mit deutlichem Misstrauen gegenüber, und es wurde noch verstärkt durch das, was sie dort im Geheimen taten.

Strahan wollte schon abwiegeln, als schließlich doch die Neugier siegte. Currann konnte er nichts vormachen, auch wenn er ihm gegenüber zu verstehen gab, er wolle nur um Siris willen wissen, was sie dort trieben.

Currann schilderte ihm offen, welche Entdeckung sie gemacht hatten. Er verschwieg und beschönigte nichts. Er erklärte dem zunehmend staunenden Schulmeister, wie und vor allem warum sie mit dem neuen Metall experimentierten. Die Augen seines Schwiegervaters starrten ihn an, als wäre seine Welt soeben auf den Kopf gestellt worden. Er verließ sie, ohne ein Wort zu sagen, und Currann drängte ihn auch nicht weiter. Er sah ein, dass es für den Schulmeister viel zu viel auf einmal gewesen war - seine Tochter verheiratet, noch dazu mit dem Thronfolger, sein Enkelkind, die Sorge um Karya und Mari - und jetzt offenbarte ihm auch noch sein neuer Schwiegersohn, dass all das Wissen, für das die Gildaer standen, plötzlich veraltet war und sie von neuen Waffen bedroht waren.

Currann hoffte nur, dass er es sich nicht gänzlich mit ihm verdorben hatte, denn eigentlich schätzte er Strahan sehr, seinen Scharfsinn und seinen Humor, die manchmal sehr treffenden Kommentare, die er abgab, und außerdem war er Siris Vater. Sein Schwiegervater.

Mit unruhigen Gedanken begaben sie sich am nächsten Tag in die Schmiede. Da sie mit dem Dach nicht weiterkamen, legten sie nach und nach ihre Vorräte an Brennstein und Ferrium Erzen sowie die Rennöfen frei. Currann half Tamas gerade, eine besonders feste Schneekruste aufzubrechen, da stand plötzlich der Schulmeister mitten in den Trümmern.

Sie staunten nicht schlecht. Hinter ihm drängten sich verschüchtert die Jungen und Sinan, der sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht zu Yorran in den Windschatten seiner Hütte gesellte. »Hier sind ein paar kleine Experten, die euch alles über den Bau eines Daches erzählen können«, rief er, während er es sich neben Yorran auf dessen Bank in der Sonne gemütlich machte. Strahan taxierte Currann denkbar finster, die Arme verschränkt, und sagte nichts.

»Oh, das finde ich aber nett von euch«, sagte Tamas freundlich.

Currann dagegen blieb misstrauisch, und das unterdrückte Kichern in den Reihen der Jungen bestärkte ihn darin. »Ach wirklich?«, wandte er sich an den Schulmeister.

Dieser kam nicht mehr dazu zu antworten. In den Reihen der Jungen entstand Bewegung, es gab ein ärgerliches Geschiebe und einen unterdrückten Aufschrei: »Au!« Endlich hatte es Belan geschafft, sich durch die älteren Jungen nach vorne zu drängen. »Ja, aber wir machen es nicht umsonst!«, triumphierte er.

Die Jungen wichen zurück, als Currann die Stirn runzelte. Scheinbar finster sah er auf Belan herab, doch der ließ sich nicht von ihm hinters Licht führen. Er begann zu grinsen. »Ha!« Currann packte ihn und kitzelte ihn durch. »Mir scheint, ihr werdet nicht nur im Dachbau, sondern auch in Handelsdingen unterrichtet«, schoss er in Sinans Richtung. Belan kicherte vergnügt, doch die anderen Jungen waren vor Schreck erstarrt. Currann sah gerade noch rechtzeitig Sinans warnendes Kopfschütteln. Sofort hielt er inne. »Und was sind eure Bedingungen, hm?«, fragte er schon viel freundlicher.

Die älteren Jungen, die nun sahen, dass er ihnen nicht wirklich böse war, hatten genug davon, sich von Belan die Aufmerksamkeit stehlen zu lassen. »Wir wollen wissen..«, setzte einer der älteren Jungen an.

»Wir möchten bitte wissen, Ramon!«, verbesserte Strahan sofort streng.

»Ähm, wir möchten bitte wissen, was Ihr hier macht.«

»Ihr möchtet wissen, was wir hier machen?«, fragte Tamas. Sie tauschten einen erstaunten Blick, und plötzlich ging Currann ein Licht auf. Offensichtlich hatten Sinan und der Schulmeister beschlossen, dass es Zeit war, das Misstrauen ihnen gegenüber auszuräumen. Wer war dafür besser geeignet als die Jungen, deren Blick noch nicht verstellt war durch die Ängste und Vorurteile der Erwachsenen?

»Tja, wenn das so ist..« Noch war er nicht ganz überzeugt und tauschte einen zweifelnden Blick mit Tamas. Sollten sie wirklich eines ihrer Geheimnisse lüften?

Sinan entging sein Zögern nicht. Er half ein wenig nach: »Sie fragen sich nämlich, was für merkwürdige Waffen wir da vor ein paar Tagen in der Hand hielten.«

»Warum das? Wir haben sie doch schon häufig in eurer Gegenwart benutzt?« Currann verstand es nicht.

»Bei den Kämpfen war es entweder zu dunkel oder die Klingen waren.. verschmutzt«, erklärte ihm Sinan.

»Oh. Tja, dann..«

»Sagst du es uns?« Belan zupfte Currann am Ärmel.

»Belan! Wie sollst du einen Erwachsenen anreden?«, mahnte sein Lehrer. Die übrigen Jungen lachten spöttisch. Currann tat er leid, schließlich war er der Jüngste von ihnen allen. Sie hatten gewiss ein besonderes Verhältnis zueinander, doch er wollte Belan nicht vor all den anderen Jungen bevorzugen und Strahans Autorität untergraben. Deshalb schwieg er und sah streng auf den Jungen herunter. Doch Belan wäre nicht Belan gewesen, wenn er einfach so hören würde. »Sagst du es uns?«, drängte er, den Einwand seines Lehrers ignorierend.

»Ich sehe schon, du hörst genauso wenig auf deinen Lehrer wie auf deine Mutter.« Currann trat von ihm zurück, um zu zeigen, dass er Strahans Tadel ernst nahm. Belan senkte den Kopf. »Ich halte euren Vorschlag für eine gute Sache. Also fangen wir am besten gleich an. Sinan, würdest du wohl..?«

»Natürlich. Ich brauche eine zweite Hand«, rief er den Jungen zu.

Sofort drängten sich alle vor. »Ich.. lasst mich.. nein ich!«

Sinan schüttelte den Kopf. »Halt, halt, so geht das nicht.« Er sah sich suchend um und winkte die beiden größten Jungen heran. »Yassin, Ramon, ihr kommt mit mir. Die Sachen werden schwer sein.«

»Och, warum immer sie.. das ist nicht gerecht!« Es erhob sich Protest. Da die Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt war, nutzte Currann die Gelegenheit, die Schärfe seines Tadels etwas abzumildern. Er zwinkerte Belan zu, und der Junge lächelte erleichtert. Sein großer Freund war ihm nicht wirklich böse. Die Warnung jedoch hatte er verstanden. Brav begab er sich in die Reihen der Jungen zurück, und nur die schelmisch verzogenen Mundwinkel verrieten, was er wirklich dachte.

»Nun, dann erzählt uns bitte, was Ihr hier eigentlich macht«, forderte Strahan sie auf, als Sinan fort war.

Currann kam sich zwar etwas ungewohnt in der Rolle des Lehrers vor, aber seine Bedenken schob er rasch beiseite. Er zeigte ihnen die Überreste ihres Daches und ihre aufgehäuften Brennstein- und Ferriumvorräte.

Große Enttäuschung machte sich breit. »Ach, das kennen wir doch alles!«

»Ja, den Brennstein nimmt Mama manchmal, wenn sie lange draußen ist und nicht will, dass das Feuer ausgeht. Er stinkt«, ekelte sich ein anderer Junge.

Ein Junge nahm einen Brocken Ferrium in die Hand. »Und dies hier findet man überall. Es taugt nicht, das hat Yorran schon lange herausgefunden«, meinte er beinahe vorwurfsvoll. »Und das ist alles?« Waren die Fremden wirklich so dumm?

Tamas musste sich ein Lachen verbeißen. »Ja und nein. Was habt ihr denn erwartet?!« Er machte seine Augen groß und rund und hob die Hände. »Dunkle Magie? Zauberei? Dass wir unbekleidet ums Feuer herumtanzen?«

Alle einschließlich der Erwachsenen lachten. Das Eis war gebrochen, und infolge dessen prasselten die Fragen nur so auf sie ein. »Warum seid Ihr denn immer so schwarz, wenn Ihr nach Hause geht?«

Currann wusste, dass dies die Leute beunruhigte, und beschloss daher, die Frage äußerst ernst zu nehmen und möglichst genau zu erklären. »Wisst ihr, für das, was wir vorhaben, brauchen wir ein unheimlich heißes Feuer. Wir mussten den Brennstein abbauen, der zum Sammeln reicht nicht aus, um uns einen Wintervorrat anzulegen. Wir haben einen richtigen Stollen gegraben. So wie eure Väter in Nador.«

Einer der älteren Jungen schüttelte den Kopf. »Unsere Väter mussten nur Lasten schleppen, alle bis auf Evan. Der durfte in die Minen. Er hat mehr Lohn bekommen, aber Mutter sagt, dass er deswegen so schlimm hustet.«

Currann merkte auf. Sie alle hatten inzwischen mitbekommen, dass es um Evans Gesundheit nicht zum Besten stand, und laut Siri gab es Gerüchte, dass er nur deswegen auch nach Hause gekommen war. »Das haben wir auch schon bemerkt«, sagte er möglichst gleichmütig. »Nun ja, auf jeden Fall ist es echte Drecksarbeit, wie auch das Feuer in Gang zu halten.«

»Ja, aber warum macht Ihr Euch nicht sauber, bevor Ihr geht? Mama sagt, dass Ihr..« Ein kleiner Naseweis wurde feuerrot und schlug sich die Hand vor den Mund.

»Was sagt deine Mama?«, hakte Currann sofort nach. Dem Jungen wurden die schwarzen Augen unheimlich. Er senkte den Kopf, und Belan, der neben ihm stand, begann zu grinsen. Currann zog die Augenbrauen hoch.

»Junge, wenn du schon davon anfängst, musst du auch so ehrlich sein, den Satz zu Ende zu führen. Halb angedeutete Wahrheiten führen nur allzu oft zu übler Nachrede, und die haben wir in Branndar wahrlich schon genug!«, tadelte der Schulmeister. »Belan, hör auf zu grinsen, Schadenfreude ist hier nicht angebracht! Also beantworte seine Frage.«

»Du kannst es uns ruhig sagen«, meinte Tamas aufmunternd. Wer wusste schließlich besser als er, welche Wirkung Curranns Blicke hatten?

»Äh.. sie meint, Ihr wascht euch nicht, überhaupt nicht, und dass es im Fort dreckig ist. Deswegen seid Ihr so schmutzig.«

Currann blieb der Mund offen stehen, und Tamas musste den Kopf abwenden, um nicht laut loszuprusten. Currann war gar nicht zum Lachen zumute, im Gegenteil, er war ehrlich erbost darüber, was über sie geredet wurde. Da steckte mit Sicherheit Kedar dahinter. Nur mit Mühe nahm er sich zusammen und ließ die Jungen nichts von seinem Zorn sehen.

Nun, dieses Vorurteil konnten sie ausräumen. Sie ließen die Jungen Brennstein zerkleinern und ein schönes, großes Feuer anblasen, bis sie allesamt schwarz bis über die Ohren waren. Als sie dann noch erkannten, dass man Ruß nicht mit einfachem Wasser abbekam, sondern nur mit Sand und Seife, war selbst dem Dümmsten klar, dass Currann und Tamas nicht aus Nachlässigkeit schmutzig waren.

»Hilfe, ich kann nicht mehr!« Tamas hielt sich die Seiten in einem unbeobachteten Moment, so sehr musste er lachen.

Selbst Strahan schmunzelte. Er wirkte derart zufrieden, dass Currann sofort ein Verdacht kam. »Ihr wusstet, was die Bewohner dachten?« Der Schulmeister zuckte nur mit den Schultern und gesellte sich zu seinen Schülern.

»Er will, dass sein Schwiegersohn anständig herumläuft«, stichelte Tamas und bedachte Currann mit einem frechen Grinsen.

Bald waren auch Sinan und seine Gehilfen wieder da, die keuchend mehrere längliche Gegenstände auf den Armen hielten. Sie waren schwer, das konnte man deutlich sehen, so erhitzt, wie ihre Gesichter waren. »Welche hast du mitgebracht?«, fragte Currann.

»Deines und das mit der großen Scharte, zwei unterschiedliche Streitäxte, unseres aus Bronze und das des Hauptmannes.«

Currann nickte zufrieden. Sie hatten alles, was sie brauchten. Er nahm den kürzesten Gegenstand an sich und hockte sich hin. Sofort kamen die Jungen herbei und bildeten einen Kreis um ihn. Es gab einiges an Gedränge und Geschiebe. »Wer rät, was das ist?«

»Ein Schwert!«, rief Belan. Er erhielt einen Stoß in die Seite.

»Du sollst dich melden und warten, bis du aufgerufen wirst, du Dummkopf! Ist das wirklich ein Schwert?«, fragte der Junge neben ihm fasziniert.

Sie hielten alle den Atem an, als Currann es auswickelte und aus der Scheide zog. »Oh ja, das ist es. Echte Bronze, wir haben es selbst hergestellt.«

»Waas, aus unseren Vorräten?!«, rief der Älteste empört aus, der eines der Pakete getragen hatte, wohl wissend, dass das Zinn in ihren Minen nicht mehr häufig zu finden war.

Currann nickte ihm zu. »Das stimmt, es war ein Versuch. Wir haben ausprobiert, ob die Gussform noch in Ordnung ist. Und außerdem.. jetzt ist es für euch.«

»Für uns?? Dürfen wir es anfassen?«

»Nein, das halte ich für keinen guten Einfall«, meldete sich Strahan zu Wort. »Das ist noch nichts für die Jungen.«

Es gab ein vielstimmiges enttäuschtes ›Oooch!‹, aber diesmal widersprach Currann. »Warum nicht? In drei oder vier Jahren sind manche alt genug, um gegen die Goi zu kämpfen. Sie können es gar nicht früh genug lernen.« Er wusste wohl, dass es sich eigentlich nicht vor versammelter Schülerschaft gehörte, dem Schulmeister zu widersprechen. Dementsprechend verstimmt runzelte Strahan die Stirn, sagte aber nichts mehr. Currann ignorierte es, schließlich hatten sie den Vätern versprochen, ihre Söhne zu unterrichten.

»Ihr dürft es anfassen, aber jeder einzeln. Wartet einmal.« Er griff sich eine Schaufel und zog einen weiten Kreis in den Schnee. »Stellt euch darum auf. Niemand überschreitet diese Grenze, es sei denn, ich erlaube es. Du da«, er zeigte auf einen der Jungen, die Sinan geholfen hatten, »wie heißt du noch?«

»Yassin.«

»In Ordnung, Yassin, du wirst mein Gegner. Komm rein.« Der Junge schluckte und trat zögerlich näher, schließlich war der Kommandant geachtet und gefürchtet zugleich. Currann reichte ihm das Schwert mit dem Heft zuerst. »Nimm es ruhig. Und, wie fühlt es sich an?«

Yassin riss überrascht die Augen auf. »Oh, das ist schwer. Das hätte ich nicht gedacht, nachdem ich alle auf einmal getragen habe.« Auf Curranns Nicken hin streckte er seinen Arm vorsichtig aus. Er konnte das Schwert, das etwa so lang war wie sein Arm, zwar halten, aber es ausgestreckt über längere Zeit zu halten, bereitete ihm einige Mühe.

»Also, Yassin, erzähl mir mal, wie kämpft man damit? Sinan hat euch doch sicherlich schon etwas darüber beigebracht?«, fragte Currann in die Runde.

Angesichts der drängenden Bereitschaft um ihn herum, seinen Platz einzunehmen, geriet Yassin ins Schwitzen. Currann nickte ernst. »Siehst du, deshalb müssen wir alle so viel üben. Im Falle eines Kampfes hast du für derartige Überlegungen keine Zeit, dann muss alles von selbst kommen. Du musst es beherrschen wie im Schlaf.«

Gemeinsam überlegten sie, wie man mit dem kurzen Bronzeschwert am besten an den Gegner herankam, ohne dass die Klinge Gefahr lief, allzu stark beschädigt zu werden, und er demonstrierte es mit Yassin auch gleich.

Die anderen Erwachsenen hatten mit gerunzelter Stirn zugesehen. Sinan wusste, Currann hatte gefährliches Terrain betreten. Schließlich sollten die Jungen nicht noch zum Kampf ermutigt werden. Belans Beispiel im Herbst war Mahnung genug. Deshalb warf er von der Bank aus ein: »Ihr müsst aber bedenken, es ist derjenige am schnellsten getötet, der seine Kräfte überschätzt. Also versucht nicht, das an unseren Feinden auszuprobieren. Sie sind selbst für uns starke, gefährliche Gegner. Merkt euch das!« Die Jungen schluckten und nickten.

»Ja, aber..«, meldete sich der zweite von Sinans Gehilfen zu Wort.

»Du sollst doch nicht dauernd widersprechen, Ramon!«, rügte Strahan.

Tapfer wiederholte der Junge: »Bitte, darf ich eine Frage stellen? Ich verstehe etwas nicht.« Currann nickte ihm auffordernd zu. »Das hier war doch nicht die Waffe, die Ihr vor einigen Tagen in der Hand hattet, oder?«

»Du hast gut aufgepasst, Ramon«, sagte Currann anerkennend. »Dazu kommen wir gleich. Gut gemacht, Yassin«, schickte er den Jungen aus dem Kreis. Sofort rückten alle nach vorne. »Halt! Was habe ich euch über die Linie gesagt?«, rief er scharf. Betreten wichen die Jungen zurück. Er sah finster in die Runde. »Dies hier sind scharfe Waffen. Ich will kein Gedränge und Geschiebe. Der Nächste, der ohne mein Einverständnis diese Linie übertritt, darf den restlichen Vormittag in der Schule verbringen. Verstanden?«

»Ja, Kommandant«, antworteten alle mit gesenkten Köpfen.

»Also gut, ihr dürft das Bronzeschwert nacheinander in die Hand nehmen. Nacheinander, sagte ich!«, wies er die Jungen streng zurecht, die sich schon wieder vordrängen wollten. »Merkt euch, wie es sich anfühlt. Schwingt es meinetwegen herum. Dafür ist der Kreis da. Damit ihr euch und die anderen nicht verletzt.«

Während die Jungen unter Strahans Aufsicht übten, ging Currann zu den Erwachsenen hinüber. »Willst du es zerstören?«, fragte Tamas leise mit vergnügt funkelnden Augen.

»Wie bitte?!«, entfuhr es Yorran.

Currann grinste. »Oh ja, das will ich. Die Vorführung der Saraner vor dem Rat in Gilda werde ich mein Lebtag nicht vergessen, und die Jungen werden es auch nicht.«

»Das will ich sehen!« Yorran war mehr als interessiert, schließlich hatte er auch noch nie gesehen, wie sich ein Bronzeschwert gegen ein Ferriumschwert verhielt.

»Seid ihr fertig?«, fragte Currann über die Schulter. Er gab Tamas das beschädigte Schwert, während er selbst sein eigenes nahm, aber noch ließen sie diese umwickelt. Die Jungen nickten eifrig. Strahan nahm sicherheitshalber das Bronzeschwert an sich und stellte sich zu ihnen außerhalb des Kreises. »Dann erzähle ich euch jetzt eine Geschichte. Vor..« ›Himmel, war das schon fast zwei Jahre her?‹, dachte er, »..vor nicht ganz zwei Jahren kam eine saranische Handelsdelegation nach Gilda. Wisst ihr, wo Saran liegt?«

»Na klar!« Sämtliche Finger zeigten auf die Berge. Die Augen jedoch hingen an den umwickelten Gegenständen in Curranns und Tamas’ Armen.

»Ich sehe schon, ihr kennt euch aus. Nun, sie wollten den Gildaern etwas vorführen. Wir durften dabei zusehen.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit.

Dementsprechend runzelte Strahan die Stirn, und die Jungen merkten instinktiv, dass etwas nicht stimmte. »Wirklich?«, getraute sich Yassin zu fragen.

Currann zwinkerte ihm zu und tat verlegen: »Naja, sagen wir mal so, unsere Anwesenheit wurde nicht direkt bemerkt.«

Die Jungen rissen die Augen auf. »Ihr habt gelauscht!«, riefen sie begeistert.

»Pst!« Currann legte die Finger an die Lippen und musste selbst lachen. »Auf jeden Fall gab es bald neue Waffen im Heer. Sie sind sehr kostbar, und wie das Schicksal so will, haben wir auf unserer Flucht welche erbeutet.« Schweigen machte sich breit. Currann erkannte, dass die Jungen nicht unwissend waren, was die Umstände ihrer Anwesenheit hier betraf. Sie wirkten nicht ängstlich, aber wachsam.

»Ist das..« Yassin nahm sich ein Herz und deutete auf den Gegenstand in Curranns Armen. Schließlich war er der Älteste von ihnen.

»Oh ja, das ist eine von den neuen Waffen. Und jetzt passt auf!« Gleichzeitig zogen Currann und Tamas ihre Schwerter. Die Jungen machten einen erschrockenen Satz zurück. »Yassin, du darfst es zuerst in die Hand nehmen«, nickte Currann ihm zu. Diesmal zögerte der Junge ernsthaft.

»Na komm schon, es ist nur ein Gegenstand aus Metall.« Tamas drehte sein Schwert herum und reichte es ihm mit dem Heft zuerst.

Die Neugier und sein Stolz siegten. Yassin griff zu, bevor Currann jemand anderen aufrufen konnte. »Oh, es ist.. länger, aber genauso schwer. Ist es dann nicht leichter?« Er schüttelte verwirrt den Kopf in dem Glauben, dass er soeben völligen Unsinn von sich gegeben hatte.

Strahan war neugierig nähergetreten und beantwortete seine Frage: »Das, was du da eben beschrieben hast, nennt man eine Relation und ist sehr gut beobachtet. Wie fühlt es sich an?« Gegen seinen Willen war auch er fasziniert.

»Es..« Yassin streckte den Arm aus. Currann musste plötzlich schlucken, so sehr erinnerte es ihn an Althea. Yassin war kräftiger als sie, er schaffte es, das Schwert mit einer Hand zu halten. »Es lässt sich gut bewegen. Irgendwie leichter. Ich weiß nicht..« Ratlos sah er seinen Lehrer an.

»Yorran, habt Ihr eine Erklärung?«, fragte Strahan über die Schulter.

»Hm..« Yorran schaute schlau in die Runde. »Nach ausgiebigen Untersuchungen«, Tamas schnaubte hörbar neben Currann, »bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Knauf und Heft ein Gegengewicht zu der viel längeren und dünneren Klinge bilden.«

Currann zog die Augenbrauen hoch. Was für ein Blender! Das hatte er ihm erzählt. Yorran zwinkerte ihm zu, aber Currann wurde durch ein Zupfen an seinem Ärmel abgelenkt.

»Was ist ein Heft?«, fragte Belan.

Diesmal tadelte Strahan nicht, er wollte es ebenfalls wissen. »Yassin?«

Dieser brauchte nicht lange überlegen. »Das kann nur der Teil sein, wo man anfasst, der Griff, der Knauf und.. wie heißt dieses komische Querding?«

»Oh.« Currann hob die Schultern. »Ich fürchte, dafür gibt es noch keinen Namen. Vielleicht denken wir uns bei Gelegenheit gemeinsam einen aus, was meint ihr?«

»Oh ja!«, riefen die Jungen begeistert.

Currann warf einen schnellen Blick auf die Sonne und stellte fest, dass der Vormittag schon weit fortgeschritten war. Er beschloss, die Dinge etwas voranzutreiben, und ließ die Jungen nacheinander das neue Schwert ausprobieren. Selbst Belan stemmte es tapfer in die Höhe. »In Ordnung«, rief Currann. »Hat jeder beide Waffen in der Hand gehabt und sich die Unterschiede gemerkt?« Alle nickten einhellig.

»Gut, dann aufgepasst. Alle bleiben außerhalb des Kreises. Jetzt wird es gefährlich«, wies Tamas die Jungen an. Er tat so geheimnisvoll, dass sie freiwillig noch einen Schritt mehr zurücktraten. Selbst die Erwachsenen erhoben sich und kamen näher. Das wollten sie nicht verpassen.

Currann nahm sich das beschädigte Ferrium Schwert, während Tamas mit dem Bronzeschwert ihm gegenüber Aufstellung nahm. Die Zuschauer hatten keine Zeit mehr, sich darauf vorzubereiten. Mit zwei, drei kräftigen Hieben hatte Currann das Bronzeschwert zertrümmert. Die Bruchstücke flogen nach allen Seiten davon, und eines traf Tamas sogar an der Hand. »Autsch! So ein Mist!« Er band sich ein Tuch um den tiefen Schnitt.

Currann trat besorgt hinzu. »Lass mich mal sehen.«

»Ist nicht schlimm«, winkte Tamas ab. Er hob den Kopf. Plötzlich ging ihnen auf, dass es absolut still um sie herum war. Kein Flüstern, kein Scharren von Füßen. Die Jungen starrten verängstigt auf die Trümmer. Niemand getraute sich, etwas zu sagen.

»Keine Sorge, es ist nur ein Kratzer«, beruhigte Tamas. Als seine Worte wirkungslos verhallten, erkannte auch er, was der wahre Grund war. Currann taten die Jungen leid. Wenn das Strahan schon derart entsetzt hatte, wie mochte es dann erst für sie sein?

»Und..«, Yassin schluckte und fand schließlich den Mut, seinen Gedanken laut auszusprechen, »und ich dachte, die Nadorianer haben das beste Metall und die Gildaer machen die besten Waffen der Welt.«

»Das war einmal.« Auch für Tamas war es bitter, obwohl er es gut verbarg. Er hatte schließlich lange Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen.

Currann sah sich genötigt einzugreifen, denn schließlich hatten sie etwas übertrieben. »Ganz so schlimm ist es nicht.« Er hob die Bruchstücke auf. »Dies hier ist minderwertige Bronze. Wir haben sie einfach schnell zusammengegossen, ohne diese ganzen speziellen Verfahren anzuwenden, welche die Schmiede in Nador und Gilda beherrschen.«

»Ihr meint das Härten?«, fragte Yassin.

»Gut erkannt«, lobte Tamas, »aber nicht nur das. Du kannst auch die Mischverhältnisse zwischen Kupfer und Zinn verändern, andere Metalle untermischen.. es gibt viele Geheimnisse darum. Auf jeden Fall hält ein echtes gildaisches Schwert weit mehr aus als unser Probestück hier.« Er trat zu dem Haufen und wickelte ein anderes Bronzeschwert aus. »Dies hier ist ein echtes gildaisches Heeresschwert. Es ist nicht zerbrochen, aber doch so beschädigt, dass es für den Kampf auf Dauer wertlos ist.«

»Ja, ich kann nicht mehr richtig damit zustoßen, und die Schneide ist kaputt. Das ist fast genauso schlimm, als wenn es zerbricht, richtig?«, fragte Yassin ohne vorherige Meldung.

»Das ist richtig«, antwortete Currann ohne Tadel. »Aber es kommt noch schlimmer. Yorran, würdet Ihr uns die beiden Streitäxte hinter Euch reichen?«

Belan wich kreidebleich zurück, als Yorran ihnen die ausgewickelten Waffen reichte. »Keine Angst, es geschieht nichts Schreckliches«, versuchte Currann den Jungen zu beruhigen. Ohne Erfolg. Belan drehte sich um und rannte davon. Keiner der Jungen lachte. Alle wussten, was Belan durchgemacht hatte, und Currann zollte ihnen für ihre Rücksichtnahme Anerkennung. »Wartet, Strahan, ich sehe gleich nach ihm«, hielt er den Schulmeister zurück, der dem Jungen nachgehen wollte. Dieser erklärte sich mit einem Nicken einverstanden.

»Bei den Kämpfen gegen die Goi waren wir nicht sehr erfolgreich«, fuhr Currann fort.

»Aber..« Ramon schlug sich die Hand vor den Mund. Currann zwinkerte ihm zu, sodass er wagte weiterzusprechen: »Ihr habt sie doch besiegt, oder nicht?«

»Mit viel Glück«, sagte Tamas und nahm die Streitaxt an sich, die von dem ersten Angriff stammte. »Althan hat gegen den Goi, der diese Axt trug, im Zweikampf gekämpft. Und jetzt passt mal auf!«

Currann hatte das beschädigte Ferrium Schwert gehoben. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Belan lugte hinter Yorrans Hütte hervor. Offensichtlich hatte die Neugier über seine Furcht gesiegt. »Greif mich an!«

Nicht nur ein Junge duckte sich in der Erwartung, dass ihm gleich die Trümmer um die Ohren fliegen würden. Doch nichts dergleichen geschah. Currann und Tamas standen sich gegenüber, die Waffen ineinander verkeilt.

»Die Axt hält??!« Yassin fand als Erstes seine Sprache wieder. Selbst Belan traute sich wieder näher heran.

»Ja, sie hält.« Currann und Tamas gingen auseinander. »Dies hier«, Tamas hielt seine Axt hoch, »ist eine saranische Waffe. Die Goi müssen sie auf der anderen Seite der Berge erbeutet haben.«

Yassin hob die Hand. »Warum ist das ein Problem? Ihr kommt doch gegen sie an?«

»Ich sehe schon, du denkst mit. Nun, dann sehen wir uns einmal die zweite Streitaxt an.« Statt sie selbst zu nehmen, drückte Currann sie Yassin in die Hand.

»Was.. Moment mal, der Stiel ist ja aus Holz! Nicht aus Metall wie bei der anderen.«

Currann klopfte ihm lobend auf die Schulter. »Sehr gut. Und was schließt ihr daraus? Wer es mir als Erster sagt, darf als Nächster in den Kreis.«

Das war eine schwere Aufgabe. Die Jungen überlegten eine ganze Weile. »Ha, ich weiß!«, rief Ramon, nur um sich gleich darauf kleinlaut zu entschuldigen. Er hob bittend die Hand.

»Ja, Ramon?«, fragte Currann geduldig.

»Den Saranern geht dieses.. wie heißt es eigentlich?«

»Ferrium.«

»F-e-r-r-i-u-m..« Er bewegte das ungewohnte Wort im Mund.

»Was wolltest du sagen, Ramon?«, mahnte Strahan.

Der Junge schrak auf. »Oh, es geht ihnen aus. Sie benutzen Holz, um zu sparen, denn das haben sie zur Genüge«, fügte er hinzu, weil er zeigen wollte, wie gut er im Unterricht aufgepasst hatte.

Strahan honorierte es mit einem Nicken. »Das ist sicherlich eine Möglichkeit, aber ich glaube nicht, dass Althan das gemeint hat..«

»..dennoch ist es eine Antwort«, unterbrach Currann ihn. »Ramon, du darfst reinkommen. Gib ihm die Axt, Yassin.« An Strahan gewandt fuhr er fort: »Die Saraner müssen das Ferrium von weit her beschaffen, da sparen sie sicherlich an Metall, wo sie nur können. Und, wie fühlt sie sich an, Ramon?«

»Puh, ist die schwer und lang.«

»Du darfst sie gerne mit beiden Händen fassen«, half ihm Tamas. Er sah in die Runde. »Fällt jemandem noch eine Möglichkeit ein?«

Ratloses Schweigen folgte. Schließlich meldete sich Yorran brav, indem er die Hand hob. »Wenn ich deren Schmied wäre, ich würde meinen Käufern nur das Beste anbieten. So wie die erste Axt. Alle anderen Äxte für den täglichen Gebrauch würde ich wie die zweite Axt fertigen.«

»Ja, aber.. äh, Verzeihung«, verbesserte sich Ramon rasch, »darf ich eine Frage stellen?«

»Nur zu. Du stehst im Kreis«, forderte Currann ihn auf.

»Geht das Holz denn nicht schneller kaputt? So wie das Bronzeschwert?«

»Nein, das tut es nicht«, antwortete Yassin. »Darf ich reinkommen? Ich zeige es.« Currann trat erstaunt zurück und winkte ihn herein. Die Jungen entwickelten ja ihre eigenen Theorien! Das hatten nicht einmal alle Schüler in der Heerschule gekonnt. Er war sicher, dass dies Strahans Verdienst war.

Yassin nahm Ramon die Axt aus der Hand. »Seht ihr die vielen Kerben im Stiel? Ich glaube, du musst schon sehr viele Male auf exakt dieselbe Stelle treffen, um es kaputt zu machen. Es ist sehr.. Yorran, weißt du, wie das heißt?« Hilfe suchend sah er den Schmied an.

»Weich und zäh. Es ist das Gegenteil von hart und spröde, zumindest bei den Metallen. Du hast absolut recht.«

Yassin wog stolz die Axt in den Händen. »Schwing sie ruhig mal«, erlaubte Currann ihm und trat mit Tamas und Ramon außerhalb des Kreises. »Fällt jemanden noch eine Möglichkeit ein?«, fragte er in die Runde, während sie Yassin beobachteten.

Dieser schwang die Axt und wurde immer schneller. »Ohhhho!«

»Vorsicht!« Tamas fing den Schwung der Axt mit der anderen ab. »Du musst aufpassen, dass sie dir nicht aus der Hand gleitet. Sie ist sehr kopflastig.«

»Puh, das war knapp! Vielleicht.. nun, ich finde, die Axt die Ihr da habt, ist sehr schön. Diese hier dagegen ist..« Yassin zuckte mit den Schultern und wurde rot, weil die anderen lachten.

»Was meinst du mit schön? Hört auf zu lachen!«, rief Tamas. »Ich glaube, dass Yassin dem Rätsel auf der Spur ist. Versuch’s noch einmal!«

Der Junge suchte nach einer Erklärung. »Wenn.. wenn ich etwas baue, dann versuche ich, es möglichst genau zu machen, auch wenn es lange dauert und alle anderen vor mir fertig sind. So wie die Dinge, die aus Nador oder Gilda kommen. Mein kleiner Bruder dagegen flickt einfach etwas zusammen.« Er streckte einem der kleineren Jungen die Zunge raus, was so schnell ging, dass sie von einem Tadel Strahans verschont blieben. »So sieht diese zweite Axt aus.«

»Und was schließt du daraus?«, fragte Currann aufmerksam.

Yassin überlegte kurz und wurde dann blass. Er hatte es schnell erkannt. »Dass die Goi selbst Waffen fertigen?«, brachte er mühsam hervor.

Alle Jungen zogen erschrocken die Luft ein. »Oh nein!«, entfuhr es Belan. Er sprach für sie alle.

»Ja, du sagst es, Belan. Oh nein.« Currann legte dem Kleinen beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Ihr seht also, wie man es dreht und wendet, wir haben ein Problem. Und jetzt kommen wir zum letzten Teil dessen, was wir hier machen. Eigentlich auch zum wichtigsten.« Er kramte in seinem Beutel und zog einen kleinen Stein hervor. »Belan, erkennst du den wieder?«

»Oh, das ist der Glitzerstein! Den hab’ ich in eurem Stall gefunden!« Verschwunden war die Angst aus Belans Augen. Sie begannen zu leuchten.

»Und weißt du auch, wie er aussieht?« Belan hob die Schultern, doch Yassin zog überrascht die Luft ein.

»Du hast es erraten, was?«, grinste Tamas. Der Junge brachte keinen Ton heraus, selbst als die anderen ihn drängten. Tamas führte ihre Erzählung fort: »Die Saraner haben über den Winter einen Schmied in Gilda gelassen, der für das Heer Probestücke angefertigt hat. Wir waren neugierig und haben ihn so oft besucht, wie wir konnten. Er hat uns das Ferrium gezeigt und..«

»Und es sah genauso aus wie dies hier!«, fand Yassin seine Sprache wieder. Aufgeregt drängten die Jungen nach vorne, sodass Belan einfach umgeworfen wurde. Currann packte ihn schnell und drückte ihn an seine Seite. Er griff hart durch. »Ruhe! Was habe ich euch über den Kreis gesagt?«

Betreten wichen die Jungen zurück. Strahan nahm sie sich mit aller Strenge vor. »Noch so ein Fehlverhalten, und ich beende diesen Exkurs sofort. Seht nur, ihr habt Belan umgeworfen. Er hätte sich an den Waffen verletzen können!«

Currann behielt Belan lieber bei sich. »Du darfst hierbleiben. Ich glaube es einfach nicht«, meinte er finster in die Runde. Er nickte Yassin zu zum Zeichen, dass er davon ausgenommen war. Der Junge atmete auf.

Sie waren so auf Currann fixiert, dass Tamas mit dem Stiel seiner Axt kräftig auf einen Stein klopfen musste, um ihre Aufmerksamkeit wieder zu erringen. »Das Ferrium des saranischen Schmiedes sah genauso aus wie dieser Stein. Du hast recht, Yassin. Doch das ist auch unser Problem. Ihr habt dieses Metall bisher für wertlos gehalten. Daran ist etwas Wahres. Wir wissen nicht, wie man es verarbeitet.«

Trägerin des Lichts - Erstarken

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