Читать книгу Trägerin des Lichts - Erstarken - Lydie Man - Страница 8
Оглавление»Aber..«
»Ramon! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht einfach dazwischenreden sollst?«, rief Strahan. Die Jungen spürten sofort, dass bei ihrem Lehrer die Grenze der Duldsamkeit erreicht war. Ramon biss sich auf die Lippen.
»Du hattest eine Frage?«
Diesmal wartete der Junge auf Strahans Zeichen, sprechen zu dürfen. »Aber Ihr sagtet doch, dass Ihr viel Zeit bei dem Schmied verbracht habt. Hast er es Euch denn nicht gezeigt?«
»Natürlich nicht, du Dummkopf!«, spottete Yassin, der sich, unbewusst Tamas’ Haltung nachahmend, lässig auf seine Streitaxt stützte. Bevor Strahan auch ihn tadeln konnte, fuhr er hastig fort: »Die Saraner nehmen bestimmt viel Gold dafür? Er wollte doch sicherlich nicht, dass Ihr Euch zu viel bei ihm abschaut, nicht wahr?«
Tamas war wirklich beeindruckt. »Sag mal, woher weißt du so viel über diese Dinge? Das hast du doch nicht hier gelernt. Verzeihung, Strahan, das soll Euren Unterricht nicht abwerten.«
»Nein, nein«, der Schulmeister hob die Hände, »das würde mich auch interessieren. Yassin, woher weißt du das?«
Alle Überlegenheit war verflogen. Yassin wurde rot. »Äh.. in Nador.. nach der Arbeit habe ich viel gelauscht. Während ihr euch mit den Stadtjungen geprügelt habt«, grinste er in die Richtung der anderen älteren Jungen. Sie starrten ihn offenen Mundes an.
»Wen hast du belauscht?«, fragte Tamas.
»Oh, die Händler, den Minenmeister und seine Vorarbeiter.. außerdem war da ein anderer Junge, der hat unheimlich viele Fragen gestellt, und ich habe mich manchmal dazu gesetzt. Oh.« Seine Augen wurden groß. Er starrte Tamas an.
»Was ist?« Auf einmal wirkte Tamas beunruhigt, und Currann wurde sehr, sehr wachsam.
»Der trug sogar denselben Namen wie Ihr. Tajaeh. Und er sah Euch sehr ähnlich.«
»Ach wirklich?« Tamas mühte sich um eine gleichmütige Miene, aber sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er glaubte zu wissen, wem der Junge da begegnet war. »Nun, diesen Namen tragen in Nador viele. Du weißt doch sicherlich, dass wir alle denselben Vater haben.«
Yassin wurde noch röter. »Ja, den Bruder des Fürsten. Ihr seid seine Bastarde.«
»Yassin! Das geht nun wirklich zu weit!«, rief Strahan empört.
»Lasst nur«, winkte Tamas ab, »es ist doch allgemein bekannt, was der Bruder des Fürsten treibt. Warum sollen es die Jungen nicht wissen?«
»Althan, was ist ein Bastard? Kedar sagt das dauernd über Siris Kind«, flüsterte Belan.
»Das erkläre ich dir, wenn wir alleine sind, einverstanden?«, antwortete Currann genauso leise. Etwas lauter fuhr er fort: »Jetzt aber.. seht her!« Er griff in seinen Beutel und holte ein Bruchstück ihres Messers hervor. »Dies hier ist unser erster Versuch, etwas aus dem Ferrium zu machen.«
Diesmal hob Ramon die Hand, bevor er sprach: »Aber Ihr macht das doch schon den ganzen Winter. Was habt Ihr denn die ganze Zeit über getrieben?«
»Yassin?« Currann wollte dem Jungen helfen, denn er war immer noch wie gelähmt von Strahans Tadel.
Er schrak auf. »Ihr habt bestimmt Vorräte angelegt. Und außerdem.. aus dem Gestein schmelzen musstet Ihr es doch auch?« Er mied auffallend Strahans Blick und deutete zu den großen Haufen hinüber.
»Du hast absolut recht, so ist es. Yorran sagte uns, dass wir über den Winter nicht zu den Minen können, und wie ihr seht, das ist nur allzu wahr. Also haben wir erst einmal Vorräte angelegt«, erklärte Tamas. Er winkte die Jungen mit sich hinüber zu den Rennöfen und ihren Vorratshaufen. »Aber das war erst der Anfang. Die nächste Schwierigkeit besteht darin, es aus dem Gestein zu schmelzen. Zum Glück hatte Yorran es schon einmal probiert. So konnten wir es mit seiner Hilfe aus dem Gestein schmelzen und dann weiter verarbeiten und dieses Messer daraus machen.«
»Warum ist es denn kaputtgegangen?«, fragte Belan.
»Tja, wenn wir das wüssten«, erwiderte Tamas. »Wir haben erst einmal das getan, was wir auch bei Kupfer und Zinn machen. Wer weiß es? Na?« Er sah auffordernd in die Runde. Alle Hände hoben sich. »Du da.« Er wählte einen der Jüngeren aus.
»Man smilzt es aus dem Gestein und dann gießt man es in eine Form«, lispelte der Junge stolz durch seine vielen Zahnlücken.
»Gut, aber nicht ganz richtig. Ferrium kann man nicht gießen, wir bekommen es nicht flüssig. Aber wir haben die Schlacke heruntergeschlagen und versucht, es in Form zu bringen, und seht, was geschehen ist. Es ist noch zerbrechlicher als Bronze, so spröde, wie Yorran sagt, dass man es nur auf den Boden fallen lassen braucht, und es ist zerbrochen.«
»Da..dann..« Belan schluckte und drängte sich dichter an Currann. »Dann könnt ihr keine Waffen gegen die Goi machen? Und sie werden irgendwann stärker sein?«, wisperte er ängstlich.
Currann sah sich um. Nicht nur ein Gesicht hatte sich ängstlich verzogen. »Ach nein, keine Sorge. Wir stehen doch erst am Anfang. Es war nur der erste Versuch. Wir finden schon noch heraus, wie es gemacht wird«, beruhigte er ihn.
Yassin überlegte schon wieder: »Ihr habt etwas falsch gemacht. Aber was?«
»Nun, das kann vieles sein«, erwiderte Tamas. »Der saranische Schmied hat uns erklärt, dass sie das Metall hämmern, erhitzen und abkühlen. So viel hat er dann doch preisgegeben. Wir müssen es einfach ausprobieren.« Er drehte sich in die Runde.
»Jetzt?«, riefen die Jungen erwartungsvoll.
»Oh nein!«, grinste er. »Schließlich haben wir einen Handel geschlossen. Wir erzählen euch, was wir machen, und ihr helft uns bei unserem Dach. Jetzt seid ihr dran.«
Den ganzen Nachmittag, selbst als es schon dunkel wurde, halfen die Jungen mit Feuereifer dabei, ihr Dach wieder aufzubauen. Currann und Tamas lernten eine Menge, vor allem aber, dass sie wirklich nicht genau genug gebaut hatten.
»So lässt sich der Unterricht verbringen, was?«, meinte Currann abschließend zu den Männern, die es sich vor Yorrans Hütte hatten gut gehen lassen. Er selbst wischte sich den Schweiß und Dreck aus dem Gesicht. Der Schulmeister sah zum ersten Mal seit Tagen nicht mehr ganz so finster drein, wenn Currann das Wort an ihn richtete. Er antwortete nicht, sondern erhob sich und schickte die Jungen nach Hause. Nur Belan blieb zurück. Der Junge war den ganzen Nachmittag auffallend still gewesen. Currann ahnte, was ihn bedrückte, denn er hatte bemerkt, dass Belan ihn mit den Augen kaum losließ.
Er hockte sich hin. »Komm her.« Er streckte die Arme aus.
Belan flüchtete sich hinein. Er begann, am ganzen Leib zu zittern. »Wirst du es schaffen?«, flüsterte er so leise, dass die anderen es nicht hören konnten.
Currann hob ihn hoch. »Wir werden es zusammen schaffen, und wenn ich sie mit nackten Händen und Füßen bekämpfen muss. Das verspreche ich dir.«
»Dann ist ja gut..«, seufzte der Kleine an seiner Schulter.
»Komm, ich bringe dich nach Hause.«
Strahan sah ihnen mit unbewegtem Gesicht hinterher. Sinan verabschiedete sich mit Handschlag von Yorran und ging leise in sich hineinlächelnd seiner Wege. Er glaubte, dass Strahans Entschlossenheit, in Currann den bösen Räuber seiner Tochter zu sehen, heute tiefe Risse bekommen hatte. Wenn jetzt alles gut ging, war binnen des Abends in der ganzen Siedlung bekannt, was in der Schmiede vor sich ging, und damit endgültig das Misstrauen ihnen gegenüber ausgeräumt. Kedar würde dann hoffentlich auf verlorenem Posten stehen.
Ganz im Gegensatz zu ihm war Currann überhaupt nicht mit sich zufrieden. Über ihn brach das Donnerwetter Nurias herein, sobald sie den Gesichtsausdruck ihres Sohnes sah und erfuhr, was die Jungen heute gelernt hatten. Evan war zum Glück nicht anwesend, sodass ihm weitere Vorhaltungen erspart blieben. Er hoffte nur, dass Belan deswegen keine Albträume bekommen und Nuria eine ruhige Nacht haben würde.
Im Fort angekommen, ließ er sich durch die gute Laune seiner Kameraden nicht anstecken, sondern er brütete vor sich hin, während er lustlos in seinem Essen herumstocherte.
»Wenn es dir nicht schmeckt, ich esse es gerne!« Tamas langte ordentlich zu. Currann antwortete nicht, sondern bedachte ihn nur mit einem finsteren Seitenblick. »Also, das war wirklich geschickt, wie Sinan das angestellt hat«, fuhr Tamas unverdrossen fort, die Unterhaltung in Gang zu halten. Er berichtete, was sie den Tag über getrieben hatten.
Currann hörte gar nicht mehr hin. Er war in Gedanken immer noch bei Belan und ob er ihm und den anderen jüngeren Kindern nicht zu viel zugemutet hatte.
Jemand anderes hörte dafür umso genauer hin. Siri war, beunruhigt über das Ausbleiben ihres Vaters, bis an die Tür getreten, um ja kein Wort zu verpassen. Im Stillen schalt sie ihren Vater. Er behandelte Currann nicht gerecht, und sie war Sinan sehr dankbar, dass er den Anstoß zu einer Annäherung gegeben hatte.
In der Diele wurde die Unterhaltung stetig fröhlicher, als Sinan und Tamas zum Besten gaben, was die Jungen von sich gegeben hatten.
Abschließend sagte Tamas jedoch mit einem traurigen Unterton in der Stimme, der sie alle verstummen ließ: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Yassin meinem Bruder in Nador begegnet ist. Ihm muss schrecklich langweilig gewesen sein, nachdem ich fort war.«
»Wie alt ist denn dein Bruder?«, fragte Sinan mitfühlend.
Tamas musste tatsächlich rechnen. Er überlegte. »Er wird vierzehn, er ist etwa im selben Alter wie dein Bruder, Currann, vielleicht ein wenig jünger. Sie wären wohl zusammen zur Heerschule gekommen.« Es folgte gedrücktes Schweigen. Sie sprachen nicht gerne über ihre Familien. Tamas hatte seinen Bruder bisher so gut wie nie erwähnt.
Schließlich stand Yemon schweigend auf und begann, die überzählige Schale auf ihrem Tisch zu füllen. »Ich bringe ihr schnell etwas.«
Erschrocken floh Siri in die angrenzende Kammer. Es blieb ihr keine Zeit, sich richtig hinzulegen, sie konnte sich nur mit dem Rücken an die angrenzende Wand pressen. Keinen Moment später klopfte es schon und die Tür ging auf.
Siris Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Als sie sich halbwegs wieder beruhigt hatte, war es nebenan still. Sie glitt an der Wand nach unten. So konnte es nicht weitergehen! Wollte sie sich jedes Mal verkriechen wie ein verängstigtes Tier? Sie glaubte zu wissen, dass es auch dies war, was ihr Vater Currann zum Vorwurf machte. Nein, das durfte nicht sein! Es war ihre eigene Schuld, nicht Curranns. Sie musste etwas tun, sie musste Currann vor den Vorwürfen ihres Vaters schützen, so, wie er sie beschützt hatte. Das war sie ihm schuldig, selbst wenn es bedeutete, dass sie sich der Blicke der Kameraden aussetzen musste. Und Curranns. Das war es, was sie am meisten fürchtete.
»Was willst du, Siri?«, fragte ihre Tante Karya eine Weile später.
Siri ließ sich von ihrem Instinkt leiten, wie immer, wenn sie sich vollkommen entspannte. »Ich will einen Raum für mich, wo ich nicht gestört werde.« Was so einfach klang, war in Wahrheit unendlich schwierig.
Karya verstand es denn auch nicht. »Aber den hast du doch hier?« Sie wusch ihr mit kräftigen Bewegungen den Rücken. Es hatte etwas Tröstliches.
»Ich weiß nicht. Nein, eigentlich nicht. Ständig besteht die Gefahr, dass jemand hier hereinkommt und..« Sie hob die Schultern.
»Natürlich. Sie machen sich Sorgen um dich, Kleines, und schließlich wurde dieser Raum vorher von ihnen allen benutzt.« Karya klopfte an den Zuber.
Siri seufzte. »Ich werde morgen früh mit ihnen reden. Kein Verstecken mehr.«
»Tapferes Mädchen.« Sie erhielt einen Kuss auf die Stirn.
»Hör auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln«, wehrte Siri ab, aber sie lachte dabei.
Karya nahm es ihr nicht übel. Sie sah noch kurz nach dem Kleinen und machte sich dann auf den Weg zurück in die Siedlung.
Weit kam sie nicht. Kaum hatte sie das Tor durchschritten, wurde sie auch schon angerufen. »Karya!«
Erschrocken fuhr sie herum. »Bei allen Heiligen.. Tajaeh! Müsst Ihr mich so erschrecken!?«
»Tut mir leid.« Tamas lehnte im Schatten der Mauer. Nur seine Silhouette war zu erahnen. »Habt Ihr.. habt Ihr etwas von Mari gehört? Wie geht es ihr?«
›Was geht Euch das an?‹, hätte Karya fast gefragt, doch sie beherrschte sich. Aus den Berichten der anderen wusste sie, dass Tajaeh sich schützend vor Mari gestellt hatte. »Das fragen wir uns alle«, seufzte sie, und als Tamas sich nicht rührte, fügte sie hinzu: »Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen.«
»Wie konntet Ihr sie nur zu ihm zurückgehen lassen?« Es war heraus, bevor Tamas es verhindern konnte. Es war ein Fehler, er merkte es sofort.
Karya verschränkte die Arme. »Und was geht Euch das Wohl meiner Tochter an? Und was fällt Euch eigentlich ein, mir Vorhaltungen zu machen?«
Tamas presste die Lippen zusammen. Für Karya war es nicht zu sehen. Sie hörte nur, wie er scharf einatmete. »Nichts. Ich mache mir nur Sorgen. Verzeiht.« Er stieß sich von der Mauer ab und war gleich darauf im Tor verschwunden.
»Tajaeh, wartet!«, rief Karya, bevor er das Tor zustemmen konnte. »Meine Tochter ist in vielerlei Hinsicht noch ein kleines Kind. Haltet das, was im Sommer geschehen ist, nicht für echte Zuneigung. Sie hat sich sehr verändert seitdem.«
»Das weiß ich, aber schützt sie das vor ihrem Vater?« Tamas lehnte das Gesicht an die Toreinfassung.
»Goran hat mir versprochen, auf sie aufzupassen.«
Tamas konnte ein Schnauben nicht unterdrücken. »Er hat doch noch nie etwas getan. Ihr seid töricht, wenn..« Er verstummte beschämt, als er erkannte, dass er drauf und dran war, Karya zu beleidigen.
»Die Dinge sind niemals so einfach, wie sie scheinen«, erwiderte sie schneidend. »Maßt Euch nicht an, beurteilen zu können, was in meiner Familie vorgeht!«
Mit dieser rätselhaften Bemerkung ließ sie ihn einfach stehen. Tamas sah ihr ratlos hinterher. Erst, als er nach langer Zeit das Tor schloss, bemerkte er, dass er nicht allein war. Ouray saß trotz der Kälte auf den Treppenstufen zum Wehrgang und beobachtete ihn. Tamas wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er von alldem halten sollte. Und so verharrte er stumm, bis Ouray schließlich ein Einsehen hatte. »Er hat sie mit irgendetwas in der Hand. Auf dem Tempelplatz hat er ihr mit etwas gedroht.«
»Gedroht?« Tamas fand seine Sprache wieder.
»Oh, nicht mit Worten«, Ouray stand auf und streckte seine steifen Glieder, »es war mehr der Hauch einer Andeutung. Die meisten haben es gar nicht mitbekommen, so sehr waren sie mit Mari beschäftigt, aber Karya hat sofort nachgegeben. Glaube mir, in dieser Familie stimmt etwas nicht, und du tätest gut daran, dich rauszuhalten.«
»Ich will nur helfen!«, schnappte Tamas.
»Du willst etwas ähnlich Heldenhaftes schaffen wie Currann«, entgegnete Ouray ungewohnt schneidend. Tamas klappte seinen Mund, den er eben zum Protest geöffnet hatte, überrascht wieder zu. »Das wird so aber nicht gelingen. Kedar ist gewalttätig, Tamas! Du bringst sie in Gefahr, wenn du dich einmischst, und leider liegen die Dinge nun einmal so, dass er das Recht auf seiner Seite hat.« Er seufzte und kam näher, als Tamas betreten schwieg. »Unsere Anwesenheit hat ihn dazu gezwungen, seine Maske fallen zu lassen. Die Leute sehen ihn nun, wie er wirklich ist, und er selbst leider auch. Deswegen wird er alles tun, um seine Achtung vor sich selbst nicht zu verlieren, und übt die Macht dort aus, wo er sie noch hat.«
»Mari!«
»Genauso ist es. Der ganze Vorfall um Siri hat nur ein Gutes: Auch ihr Bruder hat endlich erkannt, wie Kedar wirklich ist. Er wird ihr helfen, so gut er kann.«
»Das wird aber nicht reichen!«, flüsterte Tamas voller unterdrückter Wut.
Beinahe schon mitleidig sah Ouray ihn an. »Doch, der Rest muss von ihr selbst kommen.«
»Aber sie kann doch nicht..« Tamas war sofort dabei, sie ihn Schutz zu nehmen, wurde jedoch von Ouray unterbrochen.
»Doch! Wenn sie stark genug ist, dann kann sie es. Und wenn sie es schafft«, seine Mundwinkel zuckten, »dann ist sie es auch wert, eines Tages Fürstin von Nador zu werden. Gib dir keine Mühe«, er klopfte Tamas wie beiläufig auf die Schulter, »wir wissen alle, wie es um dich steht. Gute Nacht.« Und damit ließ er ihn stehen.
Tamas wusste hinterher nicht, wie lange er dort gestanden hatte. Er kam wieder zu sich, als Currann ihm eines der Übungsschwerter in die Hand drückte. »Ich könnte etwas Bewegung vertragen. Du vermutlich auch.« Er antwortete nicht, sondern ging sofort zum Angriff über. Als sie Stunden später, so schien es ihnen jedenfalls, schneebestäubt und verschwitzt wieder ins Warme kamen, waren sie in der Lage, trotz unruhiger Gedanken für den Rest der Nacht Ruhe zu finden.
Am Morgen brüteten Tamas und Currann vor sich hin, und dementsprechend schweigsam waren auch die anderen. Currann war sogar derart in Gedanken versunken, dass er erst bemerkte, dass etwas anders war, als alle plötzlich die Köpfe hoben und auf einen Punkt hinter ihm starrten. Er fuhr herum. »Siri..« Ihm stockte der Atem. Sie stand in der Tür zum Kommandantenraum, Nathan fest im Arm, und sah unsicher in die Runde. Er erhob sich ganz langsam, um sie nicht zu erschrecken.
»Ich.. ich dachte mir, ich esse mit euch.«
»Ja natürlich.. setz dich doch!« Alle sprangen gleichzeitig auf und machten ihre Plätze frei. Siri zuckte ein wenig zurück, unmerkbar für die Kameraden, aber für Currann, der es gewohnt war, selbst im Dunkeln jede ihrer Regungen zu erkennen, war es deutlich zu sehen. Er hob die Hand. »Ich glaube, für Nathan ist es das Beste, dicht am Feuer zu sein.« Er holte einen Stuhl und stellte ihn neben seinen eigenen an das Kopfende des Tisches. Alle einschließlich Siri akzeptierten seine Entscheidung und setzten sich. Currann holte noch rasch Nathans Körbchen, damit sie in Ruhe essen konnte.
Siri bekam von Yemon eine Schale mit Eintopf und etwas zu trinken vorgesetzt. Sie sah darauf herab. Bisher hatte sie sich noch nicht an dieses Zeug herangetraut.
»Es sieht etwas merkwürdig aus, aber es schmeckt ganz gut«, entschuldigte sich Yemon schnell. Sie warf ihm einen unsicheren Blick zu, dann gab sie sich einen Ruck und begann langsam zu essen. Alle beobachteten sie gespannt. Siri kaute vorsichtig, doch plötzlich riss sie überrascht die Augen auf. »Es ist gut!«, sagte sie anerkennend in die Runde, und als alle etwas ungläubig schauten, bekräftigte sie: »Nein, wirklich. Hast du das gekocht, Yemon?«
»Jaah..« Er wurde doch tatsächlich rot. Die Kameraden, die normalerweise in schallendes Gelächter ausgebrochen wären, schwiegen unsicher. Sie wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten.
Siri legte ihr Schweigen völlig anders aus. Sie dachte, ihnen wäre ihre Anwesenheit unangenehm. Sie senkte innerlich beschämt den Kopf und aß schweigend weiter, während sie sich verzweifelt fragte, worauf sie sich da nur eingelassen hatte.
Tamas wurde das Schweigen zu lang. Er hatte noch genug mit sich selbst zu tun, dies hier wurde ihm zu viel. Er stand auf. »Ich geh dann mal«, sagte er und machte eine entschuldigende Handbewegung nach draußen.
»Nein, bitte geh nicht!«, entfuhr es Siri. Sie kam damit unwissentlich Currann zuvor, dem schon eine scharfe Rüge auf der Zunge gelegen hatte. Sie sah nun offen in die Runde, auch wenn es ihr noch so schwerfiel. »Ich will etwas mit euch bereden.« Tamas ließ sich langsam auf seinen Sitz zurückfallen. Alle warteten gespannt, was nun kommen würde.
Sie hob hilflos die Hände. »Ich.. ich verstehe, dass es schwierig für euch sein muss, mich hier zu haben und..«
»Schwierig?! Siri, wovon redest du?«, fragte Kiral, der direkt neben ihr saß. In die Kameraden kam Bewegung. Sie sahen sich fragend und kopfschüttelnd an.
Etwas zittrig holte sie Luft und bedachte Kiral mit einem dankbaren Blick. »Nun, für dich vielleicht nicht, aber für euch andere muss die ganze Geschichte sehr unangenehm sein und ich..« Sie schrak zusammen. Die Kameraden waren aufgefahren. Nur Curranns warnendes Kopfschütteln hielt sie davon ab, lauthals zu protestieren. Er selbst hätte es am liebsten auch getan, doch er konnte sehen, wie viel Mühe es sie kostete, offen zu sprechen.
Sinan fasste sich schließlich ein Herz und sprach den Gedanken laut aus, der ihm sofort durch den Kopf gegangen war. »Siri, warum sollte das so sein? Du bist bei uns mehr als willkommen. Du bist hier in Sicherheit.«
»Wir sind froh, dass es dir wieder gut geht..«
»..wie du Kedar die Stirn geboten hast! Das war sehr mutig..«
Ihr Blick flog schon fast gehetzt zwischen ihnen hin und her, so ungläubig war sie über das, was sie da von allen Seiten hörte, und schließlich blieb sie an Kiral hängen.
Dessen Mundwinkel bogen sich nach oben. »Ich hab’s dir doch gesagt. Wovor hast du Angst?«
In ihrer Kehle bildete sich ein hartnäckiger Kloß. Sie schluckte. »Ist das wirklich wahr?«
»Aber ja!«, rief Tamas derart ausgelassen aus, dass sie alle in Gelächter ausbrachen, auch Siri, doch bei ihr mischte sich das mit Tränen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und lehnte sich Halt suchend an die einzige Person, bei der sie das gefahrlos tun konnte.
Kiral wusste mit ihr sichtlich nichts anzufangen. »He, was ist denn?« Vorsichtig legte er ihr den Arm um die Schultern und tauschte über ihren Kopf hinweg einen ratlosen Blick mit Currann, der es regungslos beobachtete.
»Oh, was müsst ihr von mir halten? Ich war so dumm!« Sie lehnte immer noch mit geschlossenen Augen an Kirals Schulter.
»Was wir von dir halten? Willst du eine ehrliche Antwort?«, fragte Sinan. Sie wandte den Kopf in seine Richtung und nickte. »Du hast Schlimmes erlebt, warst verletzt und krank. Wir wollten dich nicht bedrängen und es noch schlimmer machen. Deswegen haben wir geschwiegen, und natürlich haben wir dich beobachtet. Du bist jetzt eine von uns. Wir sind stolz darauf, dich hier zu haben.« Siri errötete, und Sinan lächelte ihr zu. »Aber wir müssen uns erst einmal daran gewöhnen, dass wir jetzt ein Mäd.. eine Frau bei uns haben. Genauso wie du dich an uns gewöhnen musst, an einen Haufen Männer.« Sie lachten.
»Nicht wirklich.« Siri richtete sich auf und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides die Tränen ab. »Ich lebe schließlich schon mein ganzes Leben in einem reinen Männerhaushalt, und schlimmer als die Jungen könnt ihr gar nicht sein.« Sie lächelte bei dem Gedanken, und die Kameraden erwiderten es voller Freude. Nur einer nicht:
»Du wolltest etwas mit uns bereden«, sagte Currann unvermittelt neben ihr.
Sie wandte erstaunt den Kopf in seine Richtung. Das hatte sie in all ihrer Erleichterung beinahe vergessen. Schnell sah sie wieder in die Runde, sie mochte Curranns Blick nicht begegnen. »Wie soll ich das am besten sagen?« Sie suchte nach Worten. »Ich möchte euch danken, dass ihr euch so um mich gekümmert habt, mit dem Essen und allem, nur.. ich konnte nie sicher sein, dass nicht gleich jemand hereinplatzt. Versteht mich nicht falsch, das gilt auch für Karya und meinen Vater. Ich möchte einfach..«
»Einen Raum für dich«, nickte Sinan verstehend. »Das ist nur verständlich. Sieh mal, wir halten es mit unseren Kammern genauso. Niemand anderes betritt sie, es sei denn, wir sind krank. Das trifft vor allem auf mich zu.«
Siri fragte vorsichtig weiter: »Dann.. dann macht es euch nichts aus, wenn wir die beiden Räume hier belegen? Ihr habt ihn schließlich als Bad benutzt.«
Sie lachten auf. »Oh ja, das wird ab sofort eine kalte Angelegenheit«, grinste Yemon.
»Hmm, ich kann uns ja eine Schwitzhütte bauen«, brummte Kiral.
»Eine was?«
»Eine Schwitzhütte. Das erspart uns das Baden, bis es Sommer wird. Lasst mich nur machen.«
»Dann ist es abgemacht«, gab auch Currann sein Einverständnis. Siri bemerkte, dass alle seine abschließende Entscheidung abwarteten, bevor sie es wirklich in die Tat umsetzten. Das war erstaunlich. Erleichterung machte die Runde, der sich Siri nicht ganz anschließen mochte. Die schwierigste Bitte stand ihr schließlich noch bevor. Sie rang mit sich und beschloss, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war. Deshalb sagte sie betont munter: »Ich danke euch. Wollt ihr mir jetzt das Fort zeigen? Ich habe ja noch nicht allzu viel davon gesehen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf.
»Natürlich.« Yemon und Tamas gingen ohne zu zögern auf die Aufforderung ein. Ouray folgte etwas langsamer, und Sinans Blick war eindeutig fragend. Das war zu plötzlich gekommen, und so wie Currann ihr hinterher sah, bestätigte sich sein Verdacht, dass das noch nicht alles gewesen war.
Doch erst einmal führten sie Siri herum. Sie zeigten ihr alle Räume, erklärten ihr, wer welche Aufgaben innehatte und wie sie sich ihre Dienste einteilten. Currann folgte ihr stumm mit einigem Abstand. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihnen gerade etwas vorspielte. Tamas und Yemon schienen das nicht zu bemerken, doch auch Sinan bedachte sie mit dem einen oder anderen Seitenblick, während Ouray das Ganze stumm und Kiral regungslos aus schmalen Augen beobachtete.
Anschließend fanden sich alle in der Diele wieder ein. »Und was kann ich tun?«
Yemons Fröhlichkeit schwand sofort. Erst jetzt, mit einiger Verzögerung, ging ihm auf, was es für ihn bedeutete, eine Frau im Haus zu haben. Schließlich versah er die meisten Dienste im Fort, während seine Kameraden draußen anderen Aufgaben nachgingen. Das war etwas, das sich mit der Zeit so ergeben hatte, und er tat es gerne, hatte so seinen ganz eigenen Platz in ihrer Truppe gefunden. »Weißt du, wir haben eigentlich alles ganz gut verteilt«, wich er aus.
»Aber hört mal, ich kann doch nicht den ganzen Tag herumsitzen!«, protestierte Siri. Yemon presste die Lippen zusammen und schwieg.
Jetzt sah sich Currann genötigt, schlichtend einzugreifen: »Karya sagt, du sollst dich nicht anstrengen.« Er lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand.
Siri bedachte ihn mit einem Schnauben. »Das sagt sie doch schon den ganzen Winter. Es geht mir gut! Yemon, ich will dir bestimmt nichts wegnehmen.«
Ertappt wurde er rot. Er zog sich merklich in sich selbst zurück, obwohl er sich Mühe gab, seine Gefühle hinter einer gleichgültigen Miene zu verbergen. »Ich komme zurecht, vielen Dank. Das ist nicht nötig!«, sagte er knapp und ging hinaus.
»Verdammt!«, seufzte Sinan. »Siri, es mir leid. Das Fort ist sein Beritt, und er fürchtet bestimmt, dann ohne Aufgabe dazustehen.«
»Ich verstehe«, antwortete sie gedrückt. Mit aller Macht nahm sie sich zusammen. »Gibt es.. gibt es denn irgendetwas, was ihr nicht gut könnt und von dem ihr denkt, dass es in meinen Händen besser aufgehoben ist?«
Sie überlegten, und plötzlich hellte sich Sinans Miene auf. »Vielleicht könntest du nach unserer Kleidung sehen? Wir waschen und flicken sie selbst, aber.. sieh selbst.« Er zeigte ihr einen ziemlich schlecht geflickten Riss in seiner Tunika.
Siri war unendlich erleichtert. »Das will ich gerne tun. Gebt mir nur, was ihr habt, ich schaue es mir an und..«
»Das Waschen werden wir aber nach wie vor selbst erledigen«, unterbrach Currann sie. »Du sollst dich noch nicht anstrengen, und ich werde mich deswegen bestimmt nicht mit Karya oder deinem Vater anlegen.«
»Also hör mal..« Siri stemmte ihre Arme in die Hüften, eine Bewegung, die sie nur von Karya haben konnte.
»Ich glaube, wir gehen dann mal.. kommt schon!« Sinan winkte die anderen mit sich, und ehe sie es sich versahen, standen sich Currann und Siri allein in der Diele gegenüber und funkelten sich an.
»Ich bin nicht schwach, nicht gebrechlich, ich werde hier nicht nutzlos herumsitzen!«
»Das weiß ich! Du sollst dich nur schonen. Außerdem ist doch Nathan auch noch da..«
Er wurde einfach unterbrochen: »Du führst hier das Kommando, was?« Plötzlich hatte sie keine Scheu mehr, ihn anzusehen. Sie war wütend.
»So ist es«, knurrte er und wandte sich zum Gehen. »Du wirst dich schonen! Ich gehe jetzt in die Schmiede.«
»Currann, warte!« Siri stand plötzlich sehr verloren in der fast leeren Diele.
Er hielt inne. »Was ist?«
»Ich.. ich wollte dich auch noch um etwas bitten«, brachte sie unsicher hervor.
Seine schwarzen Augen bekamen etwas Forschendes. Also doch! Sofort wurde er sehr wachsam. »Was wolltest du mich bitten?«
»Ich..« Nathan begann plötzlich, unruhig zu werden. Sie nahm ihn rasch auf den Arm. »Ich möchte, dass du hier drinnen vor meiner Kammer schläfst. Im Kommandantenraum.«
Currann blieb die Luft weg. Hätte ihm jemand hier und jetzt einen Faustschlag in den Magen versetzt, die Wirkung hätte nicht verheerender sein können. »Warum.. willst du das wirklich?«
»Ja. Ich würde mich dann sicherer fühlen, wenn die Goi angreifen oder gar Kedar hier eindringt. Außerdem ist es für Nathan.. für ihn ist es besser. Er soll wissen, wohin er gehört, dass er einen Vater hat, nicht nur einen Haufen großer Spielkameraden.« Sie drückte ihn beruhigend an sich und wagte nicht, Currann in die Augen zu sehen.
Er musste all seine Beherrschung aufbringen, um möglichst ruhig zu antworten: »Wenn du es willst, dann werde ich deinen Wunsch erfüllen. Reicht es dir, wenn ich heute Abend meine Sachen umräume?«
»Ist gut. Ich danke dir.« Sie drehte sich um und verschwand im Kommandantenraum. Currann schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Er schaffte es, ruhig durch den Innenhof zu gehen. »Ich bin in der Schmiede«, rief er, doch kaum hatte er das Tor hinter sich gelassen, da rannte er, als wären einhundert Feinde hinter ihm her. Erst als er in der Schneegasse angekommen war, hielt er inne und lehnte seine heiße Stirn an die kühle Schneewand. Worauf hatte er sich da nur eingelassen?
»Armer Currann«, sagte Sinan, der ihm vom Turm hinterher sah. »Was tut sie ihm nur an?«
»Ich kann sie verstehen«, antwortete Ouray, der Curranns Lauf vom Wehrgang aus verfolgt hatte. »Glaubst du, ihr fällt das leicht?« Darauf wusste Sinan keine Antwort.
So begann Siri, ihren Platz zwischen den Kameraden einzunehmen. Currann zog noch am selben Abend in den Kommandantenraum und richtete sich hinter dem Schreibpult ein Lager her. Er hoffte, dass es Siri dadurch leichter wurde, den Raum zu betreten und zu durchqueren, wenn er schlief.
Er merkte sofort, dass es ein großer Unterschied war, ob man durch einige Türen getrennt von ihr hörte oder ob man fast im selben Raum bei ihr schlief. Sobald Nathan auch nur ein Geräusch von sich gab, waren sie beide wach, Siri, weil sie Nathan versorgte, und Currann, weil er sie hörte. Es kostete ihn einiges an Überwindung, einfach liegen zu bleiben. Überhaupt wechselte sie, seit sie zusammen die beiden Räume bewohnten, kaum noch ein Wort mit ihm. Erst schob er es auf ihre Erschöpfung. Selbst Siri musste nach einigen Tagen zugeben, dass sie immer noch geschwächt war und mit der Versorgung von Nathan und dem wenigen, was die Kameraden ihr zum Flicken gaben, vollkommen genug hatte.
Doch als die Wochen vergingen und sie langsam wieder kräftiger wurde, besserte sich die Lage zwischen ihnen nicht. Obwohl Currann ihr näher war als je zuvor, hatten sie sich innerlich voneinander entfernt. Er vermisste sie, seine Freundin, ihre Gespräche, ihr gemeinsames Lachen. Stattdessen herrschte zwischen ihnen bleiernes Schweigen. Es wurde immer schlimmer, so schlimm, dass Currann grimmig und wortkarg morgens das Fort verließ und erst lange nach Sonnenuntergang zurückkehrte.
Nur eines wurde besser: Siris Absicht ging auf. Ihr Vater fand langsam wieder zu seinem alten Verhältnis zu Currann zurück. In seiner Gegenwart schafften sie es, einigermaßen normal miteinander umzugehen, doch kaum war er fort, war alles wieder vorbei. Siri konnte sich nicht helfen. Sie wusste, dass es ihre Schuld war, dass sie sich nur öffnen brauchte, doch sie traute sich nicht. Sie hatte instinktiv Angst davor, was dann geschehen konnte, und stieß ihn daher von sich. Stattdessen versuchte sie, sich abzulenken, und dazu fand sie genug Gelegenheit. Sie machte sich daran, den Haushalt im Fort zu erobern.
Nur einmal, ganz zu Anfang, hatte sie versucht, Yemon zu helfen. Er hatte sie derartig angefaucht, dass Currann ihn bestimmt vor die Tür geschleift und ihm eine gehörige Abreibung verpasst hätte, wäre er dabei gewesen. Doch so leicht gab sie sich nicht geschlagen. Mittlerweile hatte sie ein gutes Gespür dafür entwickelt, wie sie jeden einzelnen der Kameraden zu nehmen hatte, und auch Yemon wurde davon nicht ausgenommen. Sie ersann sich einen Plan, ihn zu überlisten.
Zum Erstaunen der Kameraden verbrachte Siri von da an die Abende nicht mehr in ihrer Kammer, sondern bei ihnen in der Diele. Sie hatte immer irgendeine Arbeit bei sich, und ohne dass er es bewusst gewollt hätte, schaute Yemon ihr zu. Bald hatte sie ihn da, wo sie ihn haben wollte. Er begann zu fragen. Warum sie dies oder jenes so machte und warum nicht anders. Sie ließ nur beiläufig einige Bemerkungen fallen, so unauffällig, dass niemand merkte, wie sie nach und nach die Geschicke im Fort zu lenken begann.
Currann, sonst ausgestattet mit einem guten Gespür für so etwas, war in seiner Ratlosigkeit mit Blindheit geschlagen. Mit den anderen unterhielt sie sich, aber mit ihm nicht? Was machte er nur falsch? Er hielt es meistens nicht lange bei ihnen aus, sondern ging früh schlafen. Siri tat es weh, das zu sehen, doch sie konnte es nicht ändern. Sie hatte nur Kraft, sich mit einem Problem gleichzeitig zu beschäftigen, und dieses war das Leichtere. Die Lösung, mit der sie Yemon gänzlich für sich gewinnen konnte, ergab sich von ganz allein, aber der Preis dafür war höher, als sie jemals erahnen konnte.
Eines Nachts, als sie sicher sein konnten, dass alle Bewohner der Siedlung schliefen, weihten die Kameraden die Schwitzhütte ein, die Kiral an einer windgeschützten Stelle im Innenhof errichtet hatte. Kiral hatte wie immer recht, es war genauso reinigend wie ein Bad, und als er sie zwang, bei der Eiseskälte hinauszulaufen und sich nackt in den Schnee zu werfen, stellten sie fest, dass dies so erfrischend war, dass sie es regelrecht genossen. Ja, sie wurden sogar übermütig, kletterten auf die Mauerkrone und sprangen von oben herab in den tiefen Schnee, wärmten sich wieder auf, sprangen noch einmal, johlten und alberten herum wie kleine Jungen. Selbst Currann vergaß für einen Moment seine Sorgen und gab sich dem Vergnügen ohne Einschränkung hin. Sie ahnten jedoch nicht, dass sie beobachtet wurden.
Siri wurde von einem lauten Schrei wach. Im ersten Moment dachte sie, dass sie angegriffen wurden, bis in ihren schlafumnebelten Verstand durchdrang, dass es Lachen und Jubelschreie waren, die von draußen hereindrangen. Äußerst neugierig schlich sie sich an die Tür zum Innenhof. Der Anblick, der sich ihr im Licht der Fackeln und des Mondes bot, ließ ihr den Atem stocken. Sie wusste nicht, ob sie entrüstet oder belustigt sein sollte. Ihre erste Regung war, schleunigst die Tür zuzuschlagen und Abstand zwischen sich und diesen unmoralischen Anblick zu bringen. Doch dann siegte die Neugier. Wann hatte eine Frau schon mal Gelegenheit, ungestört junge und zugegebenermaßen nicht unattraktive Männer beobachten zu können? Sie stellte sich einfach vor, was ihre Tante in Gilda zu ihrem Handeln gesagt hätte, und das fällte die Entscheidung.
Der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, war, dass es immer noch Jungen waren, trotz allen soldatischen Gehabes und ihrer ernsten Lage. Siri kicherte in sich hinein, als sie zusah, wie sie sich mit Schneebällen bewarfen und sich auf die Mauer hinauf verfolgten, doch sie wurde schnell wieder ernst. Kirals Anblick erfüllte sie mit leisem Grauen. Zu sehen, wie sich die vernarbte Haut der langen, schlanken Glieder bei jeder Bewegung verspannte, war etwas völlig anderes, als nur davon zu hören. ›Ob er noch Schmerzen hat?‹, fragte sie sich traurig und lehnte die Stirn an den Türspalt. Was musste er einst für einen schönen Körper gehabt haben!
Bei den anderen stellte sie fest, dass man bei ihnen nicht von Schönheit sprechen konnte. Sie war seltsam ernüchtert und erleichtert zugleich. ›Was hast du denn erwartet, du dumme Gans?‹, schalt sie sich. Egal, ob so klein und hager wie Tamas oder die breite Statur von Ouray oder Sinans seltsam zweigeteilter Oberkörper, die eine Seite muskulös, die andere Seite schmal und dürr, sie sahen nicht viel anders aus als ihr Vater. Auch der eindeutig männliche Teil ihres Körpers nicht. Es war beruhigend.
Nur Curranns Anblick erfüllte sie mit Unbehagen. Er wirkte gegen die anderen einfach riesig, massig gebaut mit festen Muskeln und ungeheuer groß. Siri musste schlucken, und dann geschah etwas, womit sie niemals gerechnet hätte und das alle Annäherung an ihn auf einen Schlag zunichtemachte: Auch der Goi, der sie überfallen hatte, war wie er gewesen. Plötzlich tauchten die Bilder des Überfalls wieder auf, und Currann wurde zu einem anderen, so unvermittelt, dass sie aufschrie, die Tür zuschlug und in ihre Kammer rannte.
»Habt ihr das gehört?« Kiral hielt plötzlich inne und hob den Kopf. Sie lauschten, doch es war nichts zu hören außer das leise Säuseln des Windes.
Tamas zuckte mit den Schultern. »War wohl nur ein Tier.. was ist, wollen wir noch eine Runde?«
»Aber nur noch eine. Mir reicht es langsam«, sagte Yemon und seifte Tamas’ Gesicht gründlich ein.
Siri lag unterdessen auf ihrer Liege und zitterte. Was war geschehen? Was gaukelte ihr Hirn da vor? Nein, nicht daran denken! Mit aller Kraft verdrängte sie, was geschehen war. Sie zwang sich, wieder an ihrer Aufgabe zu arbeiten. Wie konnte sie Yemon auf ihre Seite bringen? Wie sie so da lag und Nathans kurzen, schnaufenden Atemzügen lauschte, kam ihr plötzlich eine Idee. Wie oft hatte er sich schon lauthals beschwert, dass er nicht in der Küche kochen konnte? Sie selbst störte Kirals merkwürdiges Gebilde ja auch, das er da murmelnd und manchmal leise summend fertigte, doch er brauchte die Feuerstelle und die Arbeitsfläche. Sie richtete sich auf und begann schon wieder zu lächeln. Die Furcht war fort. Ihr war gerade eine gute Idee gekommen, wohin Kiral mit seinem Bogen verschwinden könnte. Mit diesem Gedanken und alles andere verdrängend, konnte sie beruhigt schlafen.
Am Morgen setzte sie alles daran, die anderen um keinen Preis merken zu lassen, dass etwas geschehen war. Sie verhielt sich betont ungezwungen, und zu ihrem Glück gab es genug für sie zu tun, dass es ihr auch gelang. Sie machte sich daran, ihren Plan mit Yemon in die Tat umzusetzen. Es traf sich gut, dass sie einen Haufen Wäsche zu waschen hatte. Nach dem Frühmahl ging sie gleich in die Küche und holte sich mehrere Kübel Wasser herauf. Es war mühselig, denn der Zulauf war immer noch zugefroren, sie musste warmes Wasser hineinschütten und warten, bis genügend Wasser aufgetaut war. Sie hatten schon mehrere Anläufe gestartet, den Zulauf wieder freizubekommen, doch sie kamen einfach nicht an ihn heran. Nicht nur das Wasserholen war damit unendlich mühsam geworden, auch ihr Abtritt stank mittlerweile so, dass es kaum noch auszuhalten war.
Siri schimpfte lauthals und stieß wie zufällig an den Bogen. »Oh nein!«
Als Kiral alarmiert um die Ecke sah, hockte sie am Boden und hielt seinen Bogen in der Hand. »Ich hoffe, ich habe ihn nicht kaputt gemacht. Es tut mir leid.« Bittend sah sie zu ihm auf.
Er brummte etwas und kniete sich zu ihr. Nach ein paar kurzen Handgriffen schüttelte er den Kopf. »Nein, ist noch einmal gut gegangen. Sei vorsichtig, ja?«
Siri tat ärgerlich. »Ich kann mich hier drin kaum bewegen, ständig ist dieses Ding im Weg! Gibt es denn keinen anderen Ort, wo du ihn aufbewahren kannst?«
Kiral richtete sich auf und schüttelte knapp den Kopf. »Ich brauche gleichmäßige Wärme und die Feuchtigkeit. Anders geht es nicht.«
Siri sah aus den Augenwinkeln, wie Yemon das Gesicht verzog, und musste sich sehr beherrschen, um nicht in sich hineinzulächeln. »Du hast doch diese Hütte gebaut. Kannst du ihn nicht dort aufbewahren? Dort ist es warm, und Dampf kannst du auch erzeugen.«
Kiral hielt damit inne, seinen Bogen zu untersuchen. Regungslos sah er auf ihn herab. Plötzlich, so plötzlich, dass Siri leicht zusammenzuckte, knurrte er etwas und verschwand samt seinem Bogen aus der Küche.
Sie lief ihm hinterher, ignorierte den sprachlos starrenden Yemon. »Kiral! Warte bitte.. so habe ich das doch nicht gemeint. Ich will dich nicht vertreiben, aber..«
Er schlug mit einer einzigen, ruckartigen Bewegung das Eingangsfell der Hütte beiseite. »Ich nehme es dir nicht übel.« Rasch nahm er den großen Stein über der Feuerstelle beiseite und blies ein wenig Glut an, die tatsächlich noch vom letzten Abend übriggeblieben war. »Es war längst überfällig. Die anderen haben sich nur nicht getraut, es mir offen zu sagen und mich hinauszuwerfen. Ich kann das nicht leiden.« Er legte ein wenig Torf nach und fachte die Glut weiter an.
»Dass sie dich immer noch schonen, nicht wahr?«, sagte sie verständnisvoll. Sie kniete sich in die Öffnung der Hütte. »Ich kann es auch nicht leiden. Wird es denn gehen?«
Seine Mundwinkel bogen sich nach oben. »Natürlich. Willst du die Hütte nicht auch einmal ausprobieren?«
»Und dann nackt in den Schnee springen?« Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Kiral an, dessen Mundwinkel belustigt zuckten.
»Du hast uns beobachtet.«
Siri wurde über und über rot. Hastig sprang sie auf. »Ich war beunruhigt über den Lärm. Da habe ich nachgesehen!«
»Ach lass nur«, Kiral winkte ab, »du weißt doch, dass wir Cerinn etwas anders über diese Dinge denken. Mir macht es bestimmt nichts aus.« Er deckte die Feuerstelle wieder zu.
»Aber den anderen. Bitte erzähle ihnen nichts, ja?« Kiral nickte, und Siri konnte sich beruhigen.
Im Laufe des Tages unternahm sie einen weiteren Versuch, Yemon auf ihre Seite zu bringen. Er war, glücklich darüber, dass er seine Küche wieder hatte, dabei, einen neuen Eintopf anzusetzen. Mittlerweile war er ein wahrer Meister darin geworden, die vielen ungewöhnlichen Zutaten, die sie aus den Sümpfen mitgebracht hatten, zu einem gut schmeckenden Ganzen zusammenzufügen. Siri gesellte sich neugierig hinzu. Sie begann zu fragen, und Yemon erklärte ihr gnädig gestimmt die verschiedenen Zutaten. Ehe sie es sich versahen, hatten sie ihre Nasen tief in den Vorratskammern vergraben.
Siri entdeckte völlig neue essbare Pflanzen. Sie staunte über Wassernüsse und Wasserbrotwurzeln, steckte ihren Finger in den kleinen Rest Salz, schnupperte an den Wurzeln vom Schilf und ließ ihren Finger durch das Getreide fahren, das ihnen so leckeres Brot bescherte. Sie erschrak, wie wenig es nur noch war. »Seid ihr denn sicher, dass das alles bis zum Frühjahr reichen wird?«
Noch einen Tag zuvor hätte Yemon ihr diese Frage sehr übel genommen und sich persönlich angegriffen gefühlt. Nun jedoch sah er nur, dass sie ernstlich besorgt wirkte, und kratzte sich ratlos am Kopf. »Ich weiß nicht recht. Currann, Ouray und Vater Peadar haben alles genau durchgerechnet, und ich denke.. sie können sich doch nicht verrechnet haben. Ich hoffe es..« Hastig schloss er die Tür. Darüber mochte er nicht nachdenken. Er sah nach oben, zur Sonne oder vielmehr dorthin, wo sie eigentlich sein sollte. »Oh nein, so spät ist es schon? Wir müssen uns beeilen, sonst gibt es heute Abend nichts zu essen.«
Siri sah ihm hinterher, wie er eilig in der Diele verschwand. Hatte er da eben wirklich ›wir‹ gesagt? Langsam folgte sie ihm, wollte ihren Ohren nicht trauen, doch kaum war sie in der Küche angekommen, bekam sie auch schon ein Messer in die Hand gedrückt. »Schnell, schneide diese Wurzeln klein..«
Als die Kameraden später ins Fort zurückkamen, stellten sie verwundert fest, dass in der Küche eine muntere Unterhaltung stattfand. Currann verstimmte es gründlich. Auf einmal war sie so fröhlich? Warum nur redete sie mit allen anderen, schwieg aber in seiner Gegenwart? Er holte sich etwas Wasser, wusch sich draußen und ging dann in den Kommandantenraum, um sich vor dem Essen etwas auszuruhen. Wie sooft in den letzten Wochen hatte er so hart geschuftet, dass er kaum noch zu einem Gedanken fähig war, und zwar mit voller Absicht.
Nebenan war ein leises Wimmern zu hören. Würde Siri? Currann lauschte, doch sie schien so beschäftigt zu sein, dass sie es nicht hörte. Also ging er selbst und sah nach Nathan. Vorsichtig nahm er ihn aus dem Weidenkörbchen. »Na, was ist denn mit dir?« Das Wimmern verstummte sofort. Im warmen Licht des Kommandantenraumes blinzelte Nathan verwundert zu dem Fremden auf, der ihn so ganz anders als seine Mutter hielt. Es war, so ging Currann in diesem Moment auf, das erste Mal, dass er ihn wieder in den Armen hatte. Sonst wachte Siri über ihn und ließ ihn keinen Moment aus den Augen. Eingehend betrachtete er das Kind. Es war erstaunlich, wie er sich in der kurzen Zeit bereits verändert hatte. Das verkniffene Gesicht war rund geworden, er hielt sogar die Augen richtig offen und schien ihn neugierig anzublicken. Currann lächelte auf ihn herab, und fast hätte er erwartet, dass das Lächeln erwidert wurde, doch dafür war es wohl noch zu früh. Stattdessen boxte Nathan seine kleine Faust in Curranns Tunika.
»Ach, dir ist nur langweilig, was? Ich weiß etwas, warum legen wir uns nicht zusammen hin? Dann erzähle ich dir von meinem Tag. Der war bestimmt nicht so langweilig wie deiner..«
War es nur die Wärme, das sanfte Auf und Ab von Curranns Bauch oder die brummige, leise Stimme? Jedenfalls schlief Nathan kurz darauf ein. Currann selbst traute sich nicht, tief einzuschlafen, dafür musste er sich zu sehr darauf konzentrieren, das Bündel auf seinem Bauch festzuhalten. Nathan bewegte sich ständig. Trotzdem döste er kurz ein und wurde erst wieder wach, als er eine Bewegung neben sich spürte.
Siri hatte Nathan an sich genommen. »Es gibt Essen«, sagte sie knapp und war so schnell verschwunden, dass es nach einer Flucht aussah. Currann rieb sich verwirrt über die müden Augen, da sie aber nichts weiter den ganzen Abend sagte, nahm er an, dass sie nur böse war, dass er sie nicht geholt hatte, als Nathan sich rührte.
In der Nacht wurde er davon wach, wie Siri sich schlaflos herumwälzte. Auch Nathan schien es zu spüren und war dementsprechend unruhig. Als es immer schlimmer wurde, traute er sich schließlich zu fragen: »Siri, geht es dir gut?« Er war schon halb von der Liege herunter, da antwortete sie:
»Es ist nichts. Ich kann nur nicht schlafen.«
Er verstand die Warnung und drang nicht weiter in sie, doch die Unruhe blieb. Dementsprechend unausgeschlafen waren sie beide am folgenden Morgen, und die Unruhe steigerte sich, als Siri nach dem Frühmahl ihren warmen Umhang hervorholte. »Currann, Ouray, würdet ihr mich wohl zu Vater Peadar begleiten?«
Erstaunt sahen sie sich an. Ouray zuckte mit den Schultern. »Gerne, wenn du willst, aber warum nimmst du nicht Sinan mit, er geht eh in die Schule?«
»Nein, ich möchte, dass ihr beide mitkommt. Ich habe etwas mit euch zu bereden.«
Currann sah ihr regungslos zu, wie sie ihren Umhang fest zuknöpfte und anschließend Nathan warm einpackte. Also hatte sie doch etwas. Beunruhigt folgte er ihr nach draußen.
Wie wichtig ihr Anliegen sein musste, das merkte er, als sie die Siedlung betraten. Die Leute flohen regelrecht vor ihnen. Siri war nicht nur einem misstrauischen Blick ausgesetzt, doch sie wurden nicht behelligt.
Lediglich Nuria grüßte sie freundlich, und Siri ließ es sogar zu, dass sie Nathan kurz auf den Arm nahm. »Er ist gewachsen. Kräftig und gesund, der Kleine«, lächelte sie anerkennend.
Siri dankte ihr, und sie beeilten sich, vorbei an den vielen heimlichen Blicken zum Tempel zu kommen. Dort fanden sie den Mönch nicht, sondern, wie es ihm zur Gewohnheit geworden war, beim gemeinsamen Frühmahl mit Karya und Strahan.
Beunruhigt sahen sie auf, als Siri und die beiden Kameraden die geräumige Diele des Schulhauses betraten. »Ist etwas passiert?«
Currann beruhige sie: »Nein, keine Sorge. Siri will etwas mit Euch bereden.«
Kaum hatten sie ihre Umhänge abgelegt und saßen, da begann Siri auch schon mit dem, was ihr auf dem Herzen lag: »Vater Peadar, mir ist etwas durch den Kopf gegangen, was mich nicht wieder loslässt.« Sie wagte nicht, Currann anzusehen, denn sie wusste genau, was er dachte, und sein bohrender Blick bereitete ihr Unbehagen. Sie hatte ihm in der Nacht nicht die Wahrheit gesagt. Rasch fuhr sie fort: »Ich kann mich nicht an solche Schneemassen erinnern. Könnt Ihr es?«
Alle hoben ratlos die Schultern. »In meiner Zeit hier jedenfalls nicht«, antwortete Peadar, der von ihnen allen am längsten in der Siedlung wohnte. »Vielleicht sollten wir Yorran fragen. Worauf willst du hinaus, Siri?«
Sie holte tief Luft. »Ich will Euch gewiss nicht kritisieren, aber habt Ihr bei der Berechnung der Vorräte einkalkuliert, dass die Schneeschmelze bei solchen Massen wesentlich länger dauern könnte?«
Es herrschte geraume Zeit Stille. Schließlich fand Strahan seine Sprache wieder: »Willst du damit sagen, dass die Vorräte nicht reichen könnten?«
Siri nickte unglücklich. »Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht. Bitte, sagt mir, dass ich mich irre.«
Peadar sprang auf und lief hinaus. Currann starrte sie an, und sie floh vor seinem Blick. Damit hatte er nicht im Entferntesten gerechnet. Er sah zu Ouray hinüber und merkte, dass auch dieser ins Grübeln gekommen war. Kurze Zeit später kam der Mönch schwer atmend zurück, in der Hand einige Pergamente.
»Hier, wir müssen alles noch einmal durchgehen. Besser jetzt, als wenn es zu spät ist.« Fieberhaft machten sie sich daran, ihre Berechnungen den neuen Umständen anzupassen. Siri stand dem Mönch und ihrem Vater in Nichts nach, was die Schnelligkeit im Rechnen anging. Selbst die Kameraden ließ sie um Längen hinter sich. Currann lernte eine neue Seite von ihr kennen, von der er bisher noch nichts geahnt hatte. Er gab sich gar nicht erst Mühe, mit ihr Schritt halten zu wollen, sondern beobachtete sie stattdessen.
Das Ergebnis war auch ohne seine Hilfe schlimm genug. Wie sie es auch drehten und wendeten, sie kamen immer nur auf eines hinaus: »Es reicht nicht!« Strahan raufte sich die Haare.
»Wir werden die Rationen einschränken müssen, und zwar erheblich«, nickte Peadar düster. »Wenn es dann immer noch nicht reicht, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Tiere zu schlachten. Und wenn es dann immer noch nicht reicht..« Er sah ernst in die Runde.
»Das Saatgut«, flüsterte Karya. Sie schüttelte den Kopf. »Wenn wir das angreifen müssen, dann ist es aus. Dann können wir im Sommer nichts mehr anbauen und müssen fort von hier.«
Siri standen die Tränen in den Augen. »Ich wollte doch nicht..«
»Schscht, gräme dich nicht, Kind.« Karya hielt Nathan im Arm. Mit der freien Hand strich sie ihr über die Chadra. »Es ist gut, dass wir es jetzt erkennen und nicht erst dann, wenn es zu spät ist. Die Folgen sind so oder so schlimm genug.« Sie drückte Nathan schützend an sich.
»Werden wir hungern?«, flüsterte Siri.
Es half, dass der Mönch es laut aussprach: »Im schlimmsten Fall? Ja, das werden wir.« Entschlossen stand er auf. »Ich unterrichte Kedar. Wir müssen eine Versammlung abhalten, jetzt gleich. Wenn wir das Schlimmste verhindern wollen, müssen wir sofort anfangen.«
Currann sah ihm voller dunkler Ahnungen hinterher. »Wie sieht es bei uns aus?«, fragte er Ouray, der mit bleichem Gesicht, den Kopf in die Hände gestützt, ihm gegenüber saß und immer noch rechnete. Er blickte auf. »Schlecht. Unter diesen Voraussetzungen.. wir werden den Gürtel gehörig enger schnallen müssen. Besonders du und Ta..Tajaeh.« Curranns warnendes Blitzen kam gerade noch rechtzeitig. Zum Glück waren die anderen so aufgelöst, dass sie es nicht mitbekamen. Ouray richtete sich auf. »Ihr beide esst einfach zu viel. Die Einzigen, die dank deiner Vorsorge wohl noch bis in den Sommer genug haben, sind die Pferde.«
»Also können wir auf sie zurückgreifen, wenn es gar nichts anderes hilft«, schloss Currann. Wenigstens etwas. Er stand auf. »Siri, willst du lieber ins Fort zurück, bis sie alle hier eintreffen?«
Sie schrak auf. Seit die Männer ihre Befürchtungen bestätigt hatten, war es, als hätte sich eine eisige Klammer um ihr Herz gelegt. Im Gegensatz zu den reichen, verwöhnten Städtern, die die Kameraden nun einmal waren, wusste sie nur allzu gut, was ein Hungerwinter wirklich bedeutete. »Ich denke, das ist besser. Wenn es alle wissen, dann ist Nathan gefährdeter denn je. Ja, bring mich bitte zurück.«
›Wie merkwürdig‹, dachte Currann, während er sie ins Fort zurückgeleitete. Sobald sie ihr Kind in Gefahr wähnte, suchte sie bei ihm Schutz, ausschließlich bei ihm. Die schlimmen Neuigkeiten traten ein wenig in den Hintergrund, als er darüber nachdachte. Er wusste immer weniger, was er von ihr halten sollte. Rasch holte er die anderen Kameraden zusammen. »Sinan! Du kommst besser mit. Ihr anderen auch. Kiral, kannst du auf Siri und Nathan aufpassen?«
»Was ist denn passiert?« Alle kamen sofort angerannt. Sie brauchten nur einen Blick in die Gesichter der beiden zu werfen und sie wollten schon zu den Waffen greifen. Currann hielt sie auf. »Nein, nicht. Es gibt eine Versammlung. Es ist ernst. Wir stecken in großen Schwierigkeiten.«
»Dann bleibe ich auch lieber hier bei Siri«, sagte Yemon entschlossen. Dankbar lächelte sie ihn an, doch es war ein trauriges Lächeln. Es schien so, als hätte sie ihn endgültig auf ihrer Seite. Currann akzeptierte seine Entscheidung, er wäre ja selbst am liebsten geblieben, doch er musste zurück in die Siedlung.
Kaum waren sie fort und der Balken vor das Tor gelegt, bestürmte Yemon sie mit Fragen. Siri erklärte es ihnen.
»Aber sicher sind sie sich nicht?«, fragte Kiral, der bisher schweigend an einem Pfeiler gelehnt hatte.
Siri seufzte. »Nein. Trotzdem müssen wir uns darauf vorbereiten. Ich würde gerne die Vorräte durchgehen, auch wenn das eigentlich Ourays Aufgabe ist. Vielleicht fällt uns ja etwas ein, bis sie wieder hier sind.«
Gemeinsam machten sie sich daran, die Lagerräume zu sichten. Siri begann zu rechnen, sie schätzte, verglich und schließlich stand sie abends mit einer Handvoll Hafer und zwei kleinen Wurzelstücken vor den versammelten Kameraden in der Diele. »Wenn es wirklich so hart kommt, dann bleibt für jeden von uns nur so viel übrig.«
»Das.. das ist wenig für eine Mahlzeit«, schluckte Tamas, der immer noch unter dem Eindruck der angsterfüllten Bewohner stand.
Siri bedachte ihn mit einem mitleidigen Lächeln. »Das ist eine Tagesration, Tamas.«
Sie wurden alle bleich. »So wenig?«
»Bist du sicher?«, fragte Currann, der bisher geschwiegen und sie hatte gewähren lassen.
Siri nickte unglücklich. »Kiral hat eine Idee, wie wir etwas mehr herausbekommen. Wenn wir die Hirse der Pferde dazu nehmen, bleibt etwa das Doppelte übrig. Das reicht aber immer noch nicht.«
»Wir müssen schlachten«, fuhr Kiral fort. »Die trächtigen Stuten können wir nicht schlachten, ebenso wenig wie deinen Hengst, Currann. Den brauchen wir für die Zucht. Bleiben also nur noch die Wallache übrig.« Er sagte das ganz regungslos, doch in seinem Innern zog sich alles zusammen.
»Du willst doch nicht etwa deinen treuen Wind..« Ouray verschlug es die Sprache. »Nein, das lasse ich nicht zu. Ich hänge bestimmt nicht so an meinem Pferd wie du an Wind. Ihr könnt meines nehmen. Wenn die Stuten gefohlt haben, werde ich bestimmt Ersatz finden.«
»Kiral?«, fragte Currann. Dieser nickte zögernd. »Also gut. Hat das schon einmal jemand gemacht?«
Kiral brummte etwas. »Offensichtlich nur ich«, sagte er laut.
»Nein, ich auch«, fiel Ouray ein. »Aber nur mit Schafen. Du, Siri?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mich immer davor gedrückt. Dann wird es wohl das erste Mal sein. Hoffentlich reicht es dann, bis wir wieder auf Jagd gehen können.« Das hofften sie alle.
Yemon wollte auch seinen Teil zu dem beitragen, was sie sich ausgedacht hatten: »Ich werde die Suppe mit so viel Wasser strecken, wie es nur geht. Kiral sagte mir, dass sein Volk in strengen Wintern auch gemahlenes Getreide hineintut, das dickt sie ein. Ab sofort gibt es kein Brot mehr. Wir werden uns mit dem begnügen müssen, aber es füllt wenigstens die Bäuche. Außerdem..« Er schluckte und sah Hilfe suchend zu Siri hinüber.
»Wir werden alles Verwertbare dort hineintun, selbst das Blut.«
Sinan und Currann verzogen das Gesicht. »Ihr wollt Blutsuppe kochen? Das halte ich für eine gute Idee. Das ist zu Hause das traditionelle Gericht an Schlachttagen«, sagte Ouray. »Keine Sorge, es schmeckt nicht schlecht. Was hältst du davon, Currann?«
»Keine Einwände. Es ist gut, dass ihr euch schon Gedanken gemacht habt, je eher, desto besser«, sagte er auch als Anerkennung in Siris Richtung, in der Hoffnung, sie damit ein wenig aus der Reserve zu locken. Sie dankte ihm mit einem Nicken. Kein Erröten, kein hastiges Blickabwenden. Currann begann Hoffnung zu schöpfen, dass er nicht wieder einmal gegen eine ihrer Grenzen gestoßen war. Dabei spannte sie sich in Wahrheit innerlich an, ob er sie wieder mit einem dieser bohrenden Blicke bedenken würde, die ihr so unheimlich waren. Zu ihrem Glück blieb es aus.
Karya fand am Abend noch deutlichere Worte. Sie sah erschöpft aus, die Versammlung war schlimm gewesen. Kedar, der sich übergangen fühlte, hatte versucht, wieder die Führung zu übernehmen. Es hatte heftigen Widerstand gegeben, allen voran von Yorran und Evan. Schließlich war man übereingekommen, die Verteilung der Rationen wie bisher dem Mönch zu überlassen. Trotzdem war Kedar hinterher ins Schulhaus gestürmt und hatte sie mit schweren Vorhaltungen und wüsten Beschimpfungen traktiert. Sie mochte nicht daran zurückdenken und schob den Gedanken rasch beiseite, weil alle Kameraden darauf warteten, dass sie weitersprach.
»Dies ist nicht der erste Hungerwinter, den Branndar erlebt, doch so schlimm war es noch nie. Wenn der Hunger kommt, achtet darauf, dass Ihr Euch warm haltet. Geht nicht zu viel ins Freie und verschwendet nicht Eure Wärme. Besonders Ihr beide, Althan und Tajaeh, solltet nicht mehr so hart in der Schmiede arbeiten. Das hat doch Zeit bis zum Frühjahr. Schlaft auch nachts im Warmen, selbst wenn es Euch schwerfällt«, fügte sie in Kirals Richtung hinzu. Er deutete ein Nicken an zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
Currann öffnete den Mund zum Protest und klappte ihn gleich wieder zu. Wenn Karya es schon so sagte, dann war es gewiss ernst.
»Karya, was wird geschehen?«, frage Yemon.
»Ihr habt so etwas noch nie erlebt, nicht wahr? Kiral, Ihr natürlich ausgenommen.« Alle nickten. Karya streifte Siri und den Kleinen mit einem traurigen Blick. »Ich kann es Euch nicht sagen. Es kommt darauf an, wie lange es dauert. Eines ist aber gewiss: Die Schwachen sterben zuerst.«
»Karya!«, rief Siri entsetzt. Sie drückte Nathan an sich.
»Tut mir leid, Kind. Ihr seid hier noch vergleichsweise gut dran. In der Siedlung sieht es schlimmer aus. Sie haben nur wenige Tiere, und die müssen sie alle schlachten. Dann mag es reichen, aber sicher ist es nicht.«
»Sagt Ihr uns, wenn Ihr etwas braucht?«, fragte Sinan mit besorgtem Gesichtsausdruck.
»Wir kommen schon zurecht, habt Dank.« Zu einem Lächeln mochte sie sich nicht durchringen, aber ihr Blick war dankbar. Bald darauf brach sie auf, begleitet von Sinan, der sie eingedenk der heutigen Ereignisse nicht allein im Dunkeln durch die Siedlung gehen lassen wollte.
Currann saß noch lange sinnend in der Diele. Trotz der schlimmen Neuigkeiten war er seltsam gelöst. Siri war aus sich herausgekommen und hatte sich lebhaft in das Geschehen eingemischt, ja, ihr war sogar zu verdanken, dass sie alle noch rechtzeitig gewarnt worden waren. Sie hatte in seiner Abwesenheit die Führung übernommen, ohne dass die anderen es bewusst gemerkt hatten. Er hegte die leise Hoffnung, dass sich, sobald er den Kommandantenraum betrat, ebenfalls etwas ändern würde, und war merkwürdig zögerlich, es herauszufinden. Schließlich war er allein und zwang sich, endlich nach nebenan zu gehen. Doch er wurde gründlich enttäuscht. Sie schwieg wie immer, und das, obwohl sie wie er keinen Schlaf fand und sich ruhelos auf ihrem Lager herumwälzte.
Als der Morgen anbrach, hielt er es nicht mehr aus. »Es tut mir leid.«
Das Rascheln nebenan verstummte abrupt. Sie lauschte, und Currann setzte sich auf. »Es tut mir leid, womit auch immer ich dich so verletzt habe, dass du nicht mehr mit mir reden magst«, fuhr er leise fort, doch er war sicher, dass sie jedes seiner Worte hörte. Ein kurzes Geräusch kam von nebenan. Hatte sie sich gesetzt? Oder wollte sie die Tür zuschlagen? Nein, die Tür blieb offen. Currann fasste Mut. »Siri, warum redest du nicht mehr mit mir? Mit den anderen kannst du es doch auch, und früher, da konntest du es doch auch mit mir. Warum nicht?«
»Bitte nicht«, kam es erstickt von nebenan. Currann war getroffen. Sie weinte ja! Was hatte er nun schon wieder getan? Am liebsten hätte er sich die Haare gerauft, aber er traute sich nicht, auch nur einen Finger zu rühren. »Siri?«
»Es.. es ist nicht deine Schuld. Es liegt an mir. Bitte dränge mich nicht, es dir zu erzählen. Ich kann es nicht! Lass mich einfach.. in Ruhe!« Die Tür flog mit einem Knall zu, und Nathan fing an zu brüllen. Currann starrte eine halbe Ewigkeit auf sie, bevor ihn Geräusche aus der Diele gemahnten, dass es längst Essenszeit war.
Siri erschien nicht zum Frühmahl, und auch später ließ sie sich nicht blicken. Besorgt gingen die Kameraden ihrem Tageswerk nach, trotz aller Mahnungen Karyas. Erst als sie alle fort waren, wagte sich Siri aus ihrer Kammer hervor. Sie würgte ein paar Löffel kalte Suppe herunter und überlegte nicht lange: Sich und Nathan warm eingepackt stieg sie auf einen der Türme hinauf. Sie stellte Nathan in seinem Körbchen in eine sonnige und windgeschützte Ecke und setzte sich selbst auf die Mauerkrone. Hier oben, die gleißende Weite vor sich und in all der Stille, konnte sie endlich befreit nachdenken.
Sie merkte erst, dass sie nicht mehr allein war, als Nathan plötzlich ein glucksendes Geräusch von sich gab, das er bisher noch nie gemacht hatte. Erstaunt fuhr sie herum und fand Kiral mit ihrem Sohn im Arm vor. »Das sollte wohl der Versuch eines Lachens sein. Das üben wir bei Gelegenheit noch mal, was?«, sagte er zu dem Kleinen.
Sie atmete erleichtert aus. »Schleichst du dich immer so an?«
»Das ist eine Cerinn Art. Ich kann es nicht ablegen. Siri, ist alles in Ordnung?« Sie traf ein unergründlicher Blick aus seinen schmalen Augen, doch Kiral kannte und vertraute sie genug, dass sie es nicht störte. Sie zögerte lediglich. »Weißt du, wir alle sehen, dass euch beide etwas bedrückt. Currann ist so in sich gekehrt wie noch nie zuvor und du..«
Sie drehte sich abrupt weg. »Ich weiß! Glaub es ja nicht, aber ich..« Sie konnte nur hilflos den Kopf schütteln. Gleich darauf spürte sie eine Hand auf der Schulter.
»Willst du mit jemandem darüber reden? Mit mir?« Wie er es erwartet hatte, schüttelte sie nur den Kopf. »Möchtest du, dass ich dich zu dem Mönch begleite?«
Siri wandte sich langsam um. Auf diesen Einfall war sie noch gar nicht gekommen, und dass sie ausgerechnet von Kiral kam, das war höchst erstaunlich. »Würdest du das tun? Und in der Zeit auf Nathan aufpassen?« Sie klang so verwundert, dass Kirals Mundwinkel zuckten.
»Ich bin zwar nicht eures Glaubens, aber der Mönch hat auch meine Achtung und mein Vertrauen. Geh zu ihm und rede mit ihm. Vielleicht weiß er einen Rat.«
Es tat gut, so gut, wieder einmal mit ihm sprechen zu können. Karya war einfach nicht dasselbe, sie ergriff sofort Partei, der Mönch jedoch nicht. Nur zu ihm konnte sie offen sprechen, ihre Probleme schildern und bittend die Hände ausstrecken, er möge ihr helfen.
Ihm gestand sie, dass sie unglücklich war, dass es sie schmerzte, wie sie Currann zusetzte. Dass sie es für ihre Schuld hielt, dass sie beide in diese Falle ihrer Ehe geraten waren. Dass sie schuld daran war, dass er so in sich gekehrt war. Alles Weitere jedoch verschwieg sie, ihre Wahnvorstellung, weil sie es selbst nicht erklären konnte, weil der Schrecken noch viel zu groß und sie völlig verstört darüber war.
Peadar merkte mit seinem Gespür für die Nöte anderer genau, dass sie ihm nur die oberflächliche Seite ihrer Probleme geschildert hatte. Er nahm ihre Hände. »Ich habe mich schon gefragt, wann du zu mir kommst, Kind, und mit mir sprichst. Was möchtest du denn von mir hören?« Er lächelte ein kleines, verzeihendes Lächeln. »Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst. Ich bin nicht der Löser aller Probleme. Alles, was ich tun kann, ist, dir zuzuhören und dir zu helfen, einige Dinge zu erkennen.«
Sie drückte seine Hände und ließ sie dann los. »Wahrlich die Antwort eines Mönchs. Verzeiht mir.« Enttäuscht blickte sie auf ihre eigenen herab. Was hatte sie erwartet? Sie nickte und stand auf. Hier würde sie keine Hilfe finden.
»Siri.. lauf nicht weg! Warum ist es so schwer für dich, das, was du mir gerade gesagt hast, auch ihm zu erklären? Warum bittest du ihn nicht einfach um Geduld?« Peadar führte sie sanft wieder zu ihrem Stuhl zurück.
Sie ballte die Fäuste. »Weil ich Angst habe.«
»Wovor?«
»Vor mir selbst«, flüsterte sie. »Ich weiß, dass ich dann verloren habe, und ich möchte nicht herausfinden, weshalb. Ich.. ich kann es nicht erklären.«
»Dann sag es ihm doch so, wie du es mir jetzt gesagt hast..«
Er wurde von ihrem heftigen Kopfschütteln unterbrochen. Schmerzerfüllt sah sie ihn an. »Das kann ich nicht. Er erfüllt mich mit Unbehagen«, gab sie dann doch zu und biss sich augenblicklich auf die Zunge.
»Unbehagen, Siri? Aber ich dachte, ihr seid Freunde?« Jetzt war Peadar ernstlich besorgt.
»Ich halte es in seiner Gegenwart nicht aus. Er folgt mir ständig mit Blicken, weil er herausfinden will, was mit mir ist, und dabei kann ich es doch selbst nicht sagen.. tut mir leid, Vater, besser kann ich es nicht erklären. Ich kann nicht darüber sprechen.«
Peadar ging so einiges durch den Kopf, während er ihr zuhörte, doch es war noch zu wirr und unüberlegt, als dass er jetzt schon mit ihr darüber sprechen könnte. Er musste erst gründlich darüber nachdenken und herausfinden, wie er ihr wirklich helfen konnte. Verständnisvoll tätschelte er ihre Hand. »Ich sehe schon, es ist eine verwirrende Lage, auch für mich, Siri. Lass mir eine Weile Zeit, ja? Vielleicht fällt mir ja..« Er stockte und sah sinnierend in die Ferne. Dann hellte sich seine eben noch so besorgte Miene plötzlich auf.
»Was habt Ihr?«
»Oh, mir ist gerade etwas Gutes eingefallen. Siri, kennst du die Geschichte von dem König, der jeden Untertan, der ihn kritisierte, töten ließ, weil ihm einst ein Mönch prophezeit hatte, dass er durch einen Kritiker ums Leben kommen würde?«
Sie sah verdutzt von ihren Händen auf. »Ja, alle, die ihn umstimmen wollten, wenn er einen Fehler machte, schickten Erzähler und Dichter an seinen Hof, die ihn zum Nachdenken bringen sollten.. Moment mal!« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich soll Currann eine Geschichte erzählen? Ist das Euer Ernst?«
Immer noch kopfschüttelnd lief sie einige Zeit später schweigend neben Kiral zum Fort hinauf. Was war das nur für ein merkwürdiger Rat?
Einen Vorgeschmack auf den Hunger bekamen sie sehr bald. Currann schlug Karyas Warnung in den Wind und ging wie jeden Tag in die Schmiede, zu rast- und ratlos war er, als dass er in Siris Nähe bleiben wollte. Tamas erging es ähnlich, auch er wollte nicht mit sich und seinen Gedanken allein sein. Zuerst schien es ihnen nichts auszumachen, bis auf ein leichtes Hungergefühl verspürten sie nichts.
Doch ganz langsam schlich sich auch bei ihnen der Hunger ein. Er kam heimlich, still und leise. Ihre Tunika spannte nicht mehr, sie gerieten immer öfter außer Atem, und eines Tages fiel Tamas in der Schmiede auf die Knie, so schwindelig wurde ihm. Currann wurde derart wachgerüttelt, als hätte ihm jemand einen Kübel eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Er sah, wie hager Tamas geworden war, die spitzen Gesichter der anderen, ihre Blässe, und fällte eine Entscheidung. Sie mussten sich schonen, sonst würden sie nach der Schneeschmelze nicht mehr gegen die Goi kämpfen können. Von da an blieben sie im Fort, auch wenn das für ihn bedeutete, dass er sich ständig mit Siris und seiner Lage auseinandersetzen musste.
Sie verbrachten die Tage in der warmen Diele und beschäftigten sich so gut sie konnten. Siri verarbeitete die restlichen Felle zu allen möglichen Kleidungsstücken, Kiral baute seinen Bogen, sie hielten einfache Waffenübungen ab, damit ihre Muskeln nicht schwanden, und im Übrigen beschäftigten sie sich geistig. Nur einer von ihnen hielt stets die Wache aufrecht, damit sie erfuhren, was in der Siedlung vor sich ging.
Siri lernte in einer unglaublichen Schnelligkeit das Spiel und besiegte sogar Kiral nach einigen Versuchen. Sie liehen sich alle Bücher, die Strahan erübrigen konnte, und Currann und Sinan begannen anhand von Altheas Schriftrolle, den anderen Temorisch beizubringen, in Wort und Schrift.
Lediglich Nathan wuchs und gedieh, er brauchte nicht mehr als die Milch seiner Mutter. Bald lernte er Currann von den anderen Kameraden zu unterscheiden, und Siri sträubte sich auch nicht mehr, ihn Currann zu überlassen. Das war der einzige Fortschritt, den sie beide machten, ansonsten blieb alles, wie es war.
Ständig überlegte Siri, wie sie Currann am besten ihre Gefühle erklären konnte, denn dass sie es irgendwann tun musste, das war gewiss. Sie war ihm eine Erklärung schuldig. Doch eines Abends ergab sich die Gelegenheit von ganz allein.
Sie saßen in der Diele, Siri am Feuer. Sie hatte sich eine Flickarbeit vorgenommen, und Tamas und Sinan hatten sich das Spiel aufgebaut. Es war das erste Mal, dass Tamas es wagte, ihn herauszufordern. Er fühlte sich gut genug, es zu versuchen, und Sinan bedachte ihn mit gutmütigem Spott.
Currann saß etwas weiter entfernt, seine Nase vorgeblich in ein Buch vergraben, doch heimlich beobachtete er Siri. Wie so oft. Und sie spürte es. Es machte sie nervös, und sie fühlte sich gedrängt, ihm endlich eine Antwort zu geben. Ihre Finger führten Nadel und Faden mehr schlecht als recht, sie konnte sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren. Also beobachtete sie das Spiel, das von Anfang an schlecht für Tamas lief. Schon bald raufte er sich die Haare. »Verdammt..«
»Na, wo ist jetzt deine hervorragende Strategie?«, spottete Sinan und beobachtete zufrieden, wie Tamas’ Augen verzweifelt über das Spielfeld huschten.
»Warte, warte, ich hab’s gleich..«
Siri sah mit klopfendem Herzen zu. Es erinnerte sie an ihre eigene Lage, ja, es entsprach ihr sogar exakt! War das ein Zeichen? Sie nahm allen Mut zusammen und entschuldigte sich im Stillen bei Tamas. »Du brauchst es gar nicht zu versuchen«, sagte sie leise, aber deutlich.
Currann hob den Kopf, und die beiden Spieler sahen sie erstaunt an. »Was..?« Tamas blickte verwirrt auf das Spiel herab und wieder zu ihr.
Siri holte tief Luft. Sie war sich des Blickes von der anderen Seite des Raumes so sehr bewusst, als berührte er sie. »Egal, welchen Zug du jetzt machst, du wirst auf jeden Fall verlieren. Er hat dich von Anfang an in eine Falle geführt, und du entkommst ihr nicht, weil du den nächsten Zug machen musst, sonst geht es nicht weiter.«
»Aber Siri..«
»Nein, lass es bleiben«, schnitt sie ihm scharf das Wort ab. Sie erhob sich so schnell, dass Stoff, Nadel und Faden zu Boden fielen. Sie merkte es nicht einmal. »Du hättest es von Anfang an bleiben lassen sollen. Es war doch klar, dass es nicht gut gehen konnte, oder? Und es deine eigene Schuld, deine eigene Torheit. Sinan kann nicht einmal etwas dafür.« Ihre Stimme bebte bei den letzten Worten. Sie drehte sich um und flüchtete sich in die Sicherheit des Kommandantenraumes.
»He, Moment mal!«, rief Tamas mehr verwirrt als empört hinter ihr her.
Sinan dagegen schnappte nach Luft. Ihm war sofort klar, was sie getan hatte. »Tamas, geh und löse Kiral ab. Nun mach schon!«
»Aber, was sollte das..« Weiter kam er nicht, denn Sinans gesunder Arm packte ihn mit erstaunlicher Kraft und zog ihn hoch. Jetzt wehrte sich Tamas doch, aber nur, bis er Curranns regungsloses Gesicht sah.
»Komm, wir gehen«, flüsterte Sinan eindringlich. Tamas wehrte sich nicht mehr, sondern folgte ihm wortlos hinaus.
Currann saß wie erstarrt. Was hatte er dort gerade gehört? Sinan schien es sofort kapiert zu haben, aber ein Teil von ihm war wie in Nebel gepackt. Er konnte es nicht greifen. Er wusste nur, dass eben etwas geschehen war. In seiner Ratlosigkeit sprang er auf und folgte seinen Kameraden auf den Turm. Bei allen anderen versagte sein Gespür doch auch nicht, warum immer nur bei ihr?
»Hör auf, Tamas! Sie meinte nicht dich.«
Currann blieb wie vom Blitz getroffen auf der obersten Treppenstufe stehen. Die Kameraden fuhren herum und sahen ihn an. Currann musste sich setzen und barg sein Gesicht in den Händen. Die Erkenntnis traf ihn tief. Sie tat weh. »Sie meinte sich selbst. Und mich.«
»Hast es endlich begriffen«, brummte Kiral, dem sofort klar war, worum es ging, obwohl er gar nicht in der Diele dabei gewesen war. Er schlug ihm im Vorübergehen auf die Schulter und machte sich an den Abstieg. Keinen Moment später war er in seiner Turmkammer verschwunden.
Currann hatte wahrlich viel nachzudenken nach diesem Vorfall, und langsam, je mehr er zur Ruhe kam, begann er, sie zu verstehen. Zumindest dachte er das. Es half ihm zu verstehen, dass sie sich selbst die Schuld gab, dass sie dachte, sie hätte ihn in eine Falle geführt, weil sie ihn von Anfang an nicht zurückgewiesen hatte. Das war völliger Unsinn in seinen Augen, half ihm aber nicht weiter. Er musste Geduld mit ihr haben, begriff er, und auf sie warten. Das vor allem. Von da an beobachtete er sie nicht mehr. Er behandelte sie einfach wie die anderen Kameraden, auch wenn es ihm noch so schwer fiel.
Befreit von dem Gefühl, beobachtetet zu werden, schaffte sie es sogar, sich im Beisein der anderen normal mit ihm zu unterhalten, und er verbuchte es als Erfolg seiner Geduld. Er konnte nicht ahnen, dass sie ihm etwas vorspielte, dass sie ein Schauspiel aufführte, nur um ja nicht wieder Gefahr zu laufen, von irgendwelchen bösen Erinnerungen überrascht zu werden, die seine Blicke, ja, seine reine Anwesenheit in ihr auslösten.
Etwa zu dem Zeitpunkt, den Peadar anhand der Sterne als den Beginn der Schneeschmelze festgelegt hatte, fegte ein erneuter Eissturm über Branndar hinweg und machte ihre schlimmsten Befürchtungen wahr. Es wurde noch kälter, und dies sperrte sie förmlich ein. Jetzt taten sie nur noch das Nötigste, und auch in der Siedlung wurde es langsam ernst. Der Torf wurde knapp und bescherte ihnen zum Hunger auch noch die Kälte. Immer öfter berichtete Sinan, dass einer der Jungen während des Unterrichts eingeschlafen war. Im Gegensatz zu den Hütten wurde das Schulhaus den ganzen Tag mit den Brennsteinvorräten aus der Schmiede geheizt, um die Jungen möglichst warm zu halten. Es empörte Siri, dass es nicht auch für die Mädchen galt, und nach einem langen Abend, an dem sie und Sinan ihren Vater mit Argumenten traktiert hatten, gab dieser schließlich klein bei und erlaubte, dass auch die Mädchen dem Unterricht beiwohnen durften. So war wenigstens tagsüber für das Wohl der Kinder gesorgt.
Dennoch geschah, was Karya befürchtet hatte: Viele wurden krank. Sie hatte so viel zu tun, dass sie kaum noch zur Ruhe kam. Besorgt beobachteten sie, wie die Heilerin immer dünner und ausgezehrter wurde. Die Frauen halfen ihr, soviel sie konnten, aber die meisten wurden selber krank. Mari durfte sie nicht sehen, und Siri blieb im Fort bei ihrem Kind.
Den schwersten Schicksalsschlag jedoch erhielt Nuria. Evans Gesundheit, mit der es eh nicht zum Besten stand, hielt dieser Belastung nicht stand. Er bekam Lungenfieber. Die Kameraden halfen, wo sie nur konnten. Sie stifteten ihre überzähligen Felle, noch ein Pferd wurde geschlachtet und die Torfvorräte bis aufs Äußerste ausgereizt. Nuria und Strahan bekamen den Großteil davon ab, Ouray übernahm nachts die Botengänge, damit die übrigen Bewohner nichts davon merkten.
Die Tage wurden länger und länger und auch etwas milder, doch es war nicht genug, um den Schnee schmelzen zu lassen. Der Winter wollte und wollte nicht enden.
Eines Nachts kam Ouray mit einem Gesicht zurück, bei dem die Kameraden wussten, dass er keine guten Neuigkeiten mitbrachte. »Karya sagt, dass sie nichts mehr tun kann. Er hat nicht mehr lange zu leben.«
Niemand brachte ein Wort heraus. Siri wandte sich mit Tränen in den Augen ab.
»Gibt es.. gibt es etwas, das sie noch brauchen?«, fragte Currann schließlich in die Stille hinein. Ouray konnte nur den Kopf schütteln.
Evans Todeskampf dauerte mehrere Tage. In dieser Zeit sahen die Bewohner nichts von Karya und dem Mönch. Die Kameraden zögerten, ob sie die Hütte aufsuchen sollten, und Strahan riet davon ab.
»Dies ist eine Zeit, die sie allein durchstehen müssen«, sagte er zu Currann. Wie so oft standen sie auf einem der Türme und beobachteten den Himmel. Sie waren inzwischen wieder in der Lage, normale Gespräche miteinander zu führen. Currann ahnte, dass dies an seinem geänderten Verhalten zu Siri liegen musste. Irgendwie schien sie ihrem Vater mitzuteilen, wie es um sie stand. Sie war unheimlich geschickt darin, andere Dinge wissen zu lassen, ohne ein direktes Wort darüber zu verlieren, dachte er nicht zum ersten Mal. Nur bei ihm war es immer noch so, als umgäbe sie eine Wand aus dichtem Nebel. Er konnte sie einfach nicht greifen.
Der Schulmeister seufzte. »Um diese Zeit waren wir normalerweise schon damit fertig, die Trümmer der Schneeschmelze zu beseitigen.«
»Trümmer?«, unterbrach Currann ihn und merkte alarmiert auf.
»Ja, Trümmer. Was glaubt Ihr denn, wohin diese ungeheure Masse Schnee fließt, wenn sie erst einmal geschmolzen ist? Es wird Hochwasser geben, und das ist gut so.«
»Gut?! Erklärt mir das bitte!«, schluckte Currann. Er sah im Geiste schon die Hütten von einer riesigen Wasserwand zerstört werden.
Strahan schmunzelte, obwohl die Lage bitterernst war. »Keine Sorge, die Siedlung liegt hoch genug. Das Wasser wird nicht bis dorthin kommen. Nein, durch die Schneeschmelze wird unheimlich viel Geröll, aber auch Erde in den Fluss und über unsere Felder geschwemmt. Sie ist viel fruchtbarer als der Boden hier, denn sie kommt aus den Bergen. Warum das so ist, kann ich Euch nicht sagen. Ich wäre gerne einmal dort oben hinaufgeritten und hätte es genauer erforscht, aber das ist aus verständlichen Gründen nicht möglich.«
»Das würde ich Euch auch nicht raten«, lachte nun auch Currann. »Habt Ihr auch Anrecht auf Land?«
Strahan stutzte. »Natürlich, aber das habe ich noch nie geltend gemacht. Bisher hat Karyas Mann uns mitversorgt. Ihr habt recht, dieses Jahr werde ich es in Anspruch nehmen müssen. Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr es mit beackern wollt?«
›Ertappt!‹, dachte Currann, also beschloss er, offen zu sein: »Kommt darauf an, wie viel Land es ist. Ich weiß nicht, ob wir es dieses Jahr riskieren können, für so lange Zeit in die Sümpfe zu reiten und Branndar schutzlos zurückzulassen. Wenn ich ein Goi wäre, würde ich meine Angriffsstrategie ändern.«
»Und jederzeit angreifen?!« Strahan wurde blass.
»Genau das. Außerdem, schafft Karya denn den Ackerbau allein? Ihr werdet Ihr kaum helfen können bei dem ganzen Unterricht.« Currann verstummte, als Strahan schnaubte.
»Ihr habt von diesen Dingen wirklich keine Ahnung, nicht wahr?«
Currann hob die Schultern. »Woher denn? Von meinen Eltern?« Er runzelte die Stirn.
»Verzeiht mir, so habe ich das nicht gemeint«, bat der Schulmeister sofort, als er seine Miene sah. Currann nickte. »Nun, die Herrichtung der Felder, die Aussaat, der Torfstich, dieses alles ist Unterricht, sowohl für die Jungen als auch für die Mädchen. Sie müssen es lernen, und die Eltern, die es ihnen sonst beigebracht haben, sind dankbar dafür, dass ich das tue. Dadurch habe ich schon einige Neuerungen einführen können, die uns mit Sicherheit diese guten Ernten eingebracht haben. Stellt euch vor, als wir hier ankamen, lebten die Menschen noch mit ihrem Vieh in einem Raum. Das haben wir als erstes abgeschafft, Karya vor allem. Seitdem sind die Menschen viel gesünder. Sie kannten zudem keine Wechselwirtschaft auf ihren Feldern, etwas, das um Gilda herum schon lange praktiziert wird. Zudem gab es keine Mühle, sie stampften das Getreide von Hand. Und einen Saatpflug hatten sie auch nicht..«
Currann hörte ihm aufmerksam zu und lernte vor allem, dass die Gildaer sehr fortgeschritten waren. Der Schulmeister ließ sich sogar regelmäßig von seinen Bekannten in der Stadt über die neuesten Erkenntnisse berichten. Strahan war jetzt in seinem Element und setzte ihm lebhaft auseinander, was sie für das Frühjahr geplant hatten. Er fand Curranns Vorschlag nicht abwegig, denn es ging ja auch um Siris Versorgung. Bald gesellte sich Ouray zu ihnen, und die beiden begannen, regelrechte Schlachtpläne zu entwerfen. Currann lehnte sich entspannt zurück und hörte ihnen zu, doch irgendwann wurde er plötzlich durch eine Bewegung vor dem Fort abgelenkt.
Er reckte den Kopf und erschrak. »Entschuldigt mich bitte.« Ohne weiter auf die beiden zu achten, eilte er nach unten und zog das Tor auf. »Belan? Ist etwas passiert?«, fragte er leise, obwohl er es schon ahnte, als er das verweinte Gesicht des Jungen sah.
Belan schluckte, nickte, und dann stürzte er sich auch schon in seine Arme, »Vater ist tot«, flüsterte er an Curranns Schulter.
Currann wusste nicht, was er sagen sollte, also hielt er ihn einfach nur fest. Er hatte Belan einige Wochen nicht gesehen und erschrak, wie mager der Junge geworden war. Außerdem war er eiskalt, nur in einer dünnen Tunika stand er hier im kalten Wind. »Komm, wir gehen hinein ins Warme.«
Belan sträubte sich: »Nein, ich soll.. Mama möchte, dass Ouray kommt und ihr hilft. Wo ist er?«
›Ouray?‹, dachte Currann verwundert. ›Warum gerade er?‹
Als hätte Belan seine Verwunderung geahnt, sagte er: »Alle anderen sind krank.«
»Ich gehe schon«, sagte Ouray hinter ihnen, der mit Strahan vom Turm herunterkam. Er strich Belan behutsam über den Kopf. »Möchtest du hierbleiben?« Der Kleine nickte an Curranns Schulter. Ouray warf Currann noch einen bedrückten Blick zu, dann machte er sich auf in die Siedlung. Currann beneidete ihn nicht, doch jetzt galt es erst einmal, sich um Belan zu kümmern.
Er trug den Jungen hinein, wies seine Kameraden mit einem Kopfschütteln an, ja nichts zu sagen, und brachte ihn in den Kommandantenraum. Einer Eingebung folgend, legte er sich mit dem weinenden, zitternden Bündel auf seine Liege. Hier, im Warmen und die beruhigende Gegenwart Curranns neben sich, schlief Belan schnell ein, so geschwächt war er. Siri schaute fortwährend nach ihnen, und als Currann sicher war, dass Belan fest schlief, stand er auf. »Sieht so aus, als hätte er seit Tagen kaum etwas zu essen bekommen«, sagte er leise zu Siri, während er Belan fest zudeckte.
»Sieh doch, wie mager er ist. Sie haben bestimmt nicht darauf geachtet, dass er etwas isst, bei all der Sorge um Evan«, flüsterte Siri.
Currann nahm Nuria sofort in Schutz: »Würdest du etwas herunterbekommen, wenn du zusehen müsstest, wie dein Vater stirbt?« Siri schüttelte traurig den Kopf. Currann taten seine scharfen Worte sofort leid. »Komm, lassen wir ihn schlafen. Nachher wecken wir ihn, und dann wird er essen, dafür sorge ich.«
Bei Einbruch der Nacht kam Ouray zurück, aber er kam nicht allein. Nuria und ihre Tochter waren bei ihm. Sie wussten alle nicht, was sie sagen sollten, und es war wieder einmal Siri, die in dieser unerträglichen Lage half. »Belan schläft nebenan. Komm, ich bringe dich zu ihm.« Nuria ließ sich widerstandslos von ihr führen. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung.
Sie ließen sie erst einmal einen Augenblick allein, doch nach einiger Zeit sah Siri nach ihr. »Nuria!« Sie hatte die Augen geschlossen und sich dicht zu ihren Kindern auf die Liege gelegt. Siri tat es leid, sie zu stören, doch es musste wohl sein. »Möchtest du etwas essen?«
»Ich bin nicht hungrig«, murmelte Nuria.
»Doch, du musst etwas essen und deine Kinder auch«, widersprach Siri. Sanft, aber bestimmt nahm sie ihr die Kleine aus den Armen. Nuria hatte keine Kraft mehr, sich dagegen zu wehren. »Mag sie schon Brei? Wir haben zerkochtes Getreide«, sagte Siri. Nuria nickte nur schwach, immer noch mit geschlossenen Augen, und blieb liegen. Siri sah ratlos auf sie herunter und beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. »Ich bringe dir gleich etwas.«
In der Diele sahen ihr alle voller schlimmer Ahnungen entgegen. »Geht es ihr gut?«, fragte Sinan.
»Nein.« Siri ging auf Ouray zu. »Hier, halt sie mal.«
Siri übernahm das Kommando. Sie bereitete der Kleinen etwas Brei zu und wies Ouray an, sie zu füttern. Dann kümmerte sie sich um Nuria, zwang sie, eine ganze Schale zu leeren. Nur bei Belan scheiterte sie. Der Junge ließ sie nicht an sich heran und verweigerte sich sogar seiner Mutter. Schließlich fiel ihr nichts anders mehr ein, als Currann um Hilfe zu bitten.
Der Junge drehte sich sofort zur Wand, sobald er Currann hörte, als ob er wüsste, dass es jetzt schwierig für ihn werden würde. »Belan?« Currann versuchte, ihn zu sich herumzudrehen, doch er krümmte sich wimmernd zusammen.
»So geht das schon seit Tagen.« Nuria schlug die Augen auf. Ihr Gesicht war fahl. »Ich komme einfach nicht an ihn heran.«
Currann sah auffordernd zu Siri hoch. Sie verstand. »Nuria, du kannst gerne heute Nacht hierbleiben, wenn du willst. Möchtest du dich nicht nach nebenan legen? Wir kümmern uns um Belan.« Genauso bestimmt, wie sie der Frau bereits ihre Tochter abgenommen hatte, führte Siri sie nun hinüber in ihre Schlafkammer.
Currann sah ihr hinterher. Er wärmte sich ein wenig an dem ›Wir‹, doch Belans Wohl stand jetzt im Vordergrund. »Belan!« Erneut versuchte er, den Jungen herumzudrehen, vergebens. Nun versuchte er es in aller Strenge: »Belan, sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«
Es half. Belan drehte sich um. Er konnte sehen, wie viel Kraft es den Jungen kostete, doch noch erschrockener war er über den Ausdruck in seinen Augen. Riesig und leblos starrten sie durch ihn hindurch. »Belan, warum isst du nicht?«
»Mag nich..« Die Worte waren kaum zu verstehen.
»Warum nicht? Du musst, Belan, du bist jetzt der Mann in eurem Haus. Du musst dich um deine Mutter und deine Schwester kümmern.« Niemals hätte er dies zu so einem kleinen und kranken Jungen gesagt, aber er wusste sich nicht mehr anders zu helfen. Er sah kurz auf und schüttelte warnend den Kopf in Siris Richtung, die aus der Kammer gelaufen kam und schon eingreifen wollte.
»Belan, hörst du?« Currann zog ihn auf seinen Schoß, und der Junge hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Currann nickte zu der Schale hinüber, die den jetzt kalten Eintopf enthielt. Siri verstand. Rasch holte sie neuen.
»Kann nich..« Die kraftlosen Arme legten sich mühsam um Curranns Mitte. Die Berührung war so leicht wie eine Feder.
»Warum denn nicht?«
»Kedar kann jetzt über uns bestimmen. Es wird schlimm, hat Karya zu Peadar gesagt. Ich will fort von hier.«
Currann fluchte innerlich. Konnten sie denn nicht aufpassen? Sie wussten doch, dass Belan sehr viel von dem mitbekam, was die Erwachsenen sagten. »Hör mir zu! Das wird nicht geschehen, das verspreche ich dir. Wir passen gemeinsam auf sie auf.« Er nickte Siri zu. Sie kniete sich vor sie hin und tauchte den Löffel in die Schale. »Und jetzt mach den Mund auf! Hörst du? Belan, du sollst den Mund aufmachen!« Currann befahl es ihm laut und mit aller Strenge. Es half, wie bei Kiral auch. Belan öffnete zögerlich den Mund. Currann hielt ihn fest, damit er sich nicht wieder fortdrehen konnte, und Siri flößte ihm vorsichtig einen Löffel Suppe ein. »Und jetzt wirst du schlucken! Los, schluck es runter!«
Gehorsam würgte Belan. Dies wiederholten sie ein paar Mal, dann war es genug. »Das reicht erst einmal, sonst übergibt er sich noch«, flüsterte Siri leise, denn Belan fielen schon die Augen zu.
Currann ließ ihn zurück in die Felle sinken, hielt ihn aber weiterhin fest, falls er sich übergeben musste. »Was macht Nurias Tochter?«
Es war das erste Mal seit ihrer gemeinsamen Zeit in Gilda, dass er Siri offen in seiner Gegenwart lächeln sah. »Sie futtert begeistert alles, was Ouray ihr bietet. Offensichtlich hat sie einen großen Freund gewonnen. Möchtest du auch etwas essen?«
Currann sah auf die schlafende Gestalt in seinem Arm herab. »Ich möchte ihn nicht loslassen. Stell mir einfach etwas auf das Schreibpult. Kannst du uns zudecken?«
Auch Currann döste schnell ein. Siri weckte ihn in der Nacht mehrmals auf, und sie flößten Belan zunächst flüssige, dann feste Nahrung ein. Er behielt alles bei sich, und als der Morgen hereinbrach, wurde er unvermittelt munter.
»Wo ist Mama?!«
»Nanu, du bist ja wach!«
Belans Kopf fuhr herum, als er dicht neben sich die tiefe Stimme hörte. Er schnappte nach Luft. »Hab ich.. hab ich etwa bei dir geschlafen?«
»Hmm..« Currann nickte und gähnte. »Du warst krank, Belan. Wir hielten es für das Beste.«
Belan fiel auch gleich ein, warum. Er senkte den Kopf. »Ich wollte mit Vater gehen.«
»Und, willst du das immer noch?«, fragte Currann ernst. Belan schüttelte den Kopf. »Versprochen?«
»Jaahh.. wenn du auch dein Versprechen hältst. Ich will nicht zu Kedar!«
Daran, dass er schon wieder Forderungen stellte, erkannte Currann, dass es dem Jungen wirklich besser ging. Er wollte etwas erwidern, da war plötzlich Nuria bei ihnen.
»Liebling, du denkst doch nicht etwa, dass ich das zulassen würde.« Sie griff Belans Hand. »Du hast nicht alles gehört. Yorran ist unser nächster Verwandter, und erst wenn er einmal nicht mehr ist, dann ist es Kedar.« Belan schaute erst ungläubig, doch als er seine Mutter leicht lächeln sah, schlang er seine Arme um ihren Hals.
Currann wunderte sich wieder einmal, wie verwandt die Bewohner untereinander waren. »Weil Kedar Yorrans Tochter geheiratet hat?«, riet er. Nuria nickte.
»Dann müsst ihr ihm genauso oft etwas zu essen bringen wie du uns. Yorran geht es schlecht«, forderte Belan.
Nuria musste trotz ihrer Trauer schon wieder lächeln. »Du erteilst schon genauso Anordnungen wie Althan.« Sie drückte ihren Sohn fest an sich. »Bist mein tapferer, großer Junge. Ich bin froh, dass es vorbei ist und dein Vater keine Schmerzen mehr hat.«
»Geht es ihm jetzt gut?«
Nuria schloss die Augen. Eine Träne stahl sich unter ihren müden Lidern hervor. »Das hoffe ich. Vater Peadar weiß es gewiss, frage ihn einfach«, flüsterte sie.
Currann wartete, bis Nuria sich einigermaßen wieder im Griff hatte. »Mögt Ihr noch etwas mit uns essen?«, fragte er behutsam.
Sie wischte sich über die Augen und setzte Belan ab. »Ja, gerne, ich danke Euch. Wo ist meine Tochter?«
»Hier, bei mir.« Siri kam mit der Kleinen auf dem Arm herein. »Sie hat tüchtig gegessen und fest geschlafen. Hast du auch etwas Schlaf finden können?«
»Oh, wie ein Stein habe ich geschlafen. Es ist so schön warm hier.« Nuria sah reuig zu ihr auf. »Ich habe dich aus deiner Kammer vertrieben, verzeih.«
»Oh, das macht doch nichts.« Siri winkte ab. »Die Kameraden haben mir ein warmes Bett in einem der Lagerräume hergerichtet, da haben wir drei gut geschlafen.«
Nuria wirkte schon fast beschämt, als sie aufstand und Siri ihre Tochter abnahm. »Richtig gut hatten wir es bei euch, ich weiß nicht, was..«
»Gar nichts müsst Ihr tun.« Currann stand ebenfalls auf. »Scheut Euch nicht uns zu fragen, wenn Ihr etwas braucht.«
Sie schüttelte entschieden und gar nicht mehr beschämt den Kopf. »Nein, ich habe schon viel zu viel von Euch bekommen. Alle Bewohner brauchen dringend Nahrung. Habt Dank für Euren Beistand in unserer schweren Stunde, aber nun will ich nicht mehr bevorzugt werden. Wenn Ihr etwas tun wollt, dann stiftet es Strahan für die Kinder. Davon haben alle etwas.«
Es blieb dabei. Wie ernst es war, erfuhren sie noch am selben Morgen. Der Mönch kam zu ihnen, wohl um auch nach Nuria und ihren Kindern zu sehen, doch er nutzte es auch, um ihnen zu eröffnen: »Es ist ernst. Unsere Vorräte reichen noch genau bis zum nächsten Herrentag, dann ist es vorbei und wir müssen das Saatgut angreifen.«
»Nehmt mein Pferd«, sagte Yemon sofort. Es war der letzte Wallach, der außer Wind noch übrig war.
»Etwas Getreide können wir auch noch erübrigen«, meinte Ouray nach einigen Überlegungen.
Der Mönch schloss vor Erleichterung die Augen. »Ich bete, dass es dann reicht. Strahan sagt, dass er an einigen Stellen schon das Wasser rauschen hören kann. Es taut.«
Currann zweifelte, dass sie damit hinlangen würden, doch mit einem behielt Strahan recht: Es taute wirklich. Zunächst nur wenige Handbreit, dann immer mehr, wich der Schnee von ihrer Mauerkrone zurück. Es krachte und knarrte in einem fort, sie konnten es bis ins Fort hinein hören und bei dem Lärm kaum schlafen.
Es wurden nervenaufreibende Tage. Zusätzlich zu ihrem Hunger waren sie plötzlich wieder eingesperrt, denn die tagsüber angetauten Pfade gefroren über Nacht zu blankem Eis und machten ein Fortkommen unmöglich. Jetzt hockten sie wirklich dicht aufeinander. Currann nervte alle damit, dass er immer wieder durchrechnete, ob ihre Vorräte reichen würden. Siri zog ihn damit auf, sie behauptete doch tatsächlich, dass nach der Schneeschmelze alles gut werden würde. Es machte Currann verrückt, nicht zu wissen, warum, denn sie machte daraus ein großes Geheimnis. Die Kameraden grinsten und zogen sie auf, dankbar darüber, dass sie damit etwas Anspannung von ihnen allen nahmen.
Eines Morgens, sie standen gerade auf, wurden sie von einem ohrenbetäubenden Krachen nach draußen gelockt. Schnell kletterten sie die eisglatten Stufen auf die Türme hinauf. Ouray und Kiral waren schon oben. Sie riefen etwas und deuteten zum Fluss, doch ihre Stimmen gingen in dem Tosen unter.
»Der Fluss ist frei!«
»Seht euch das viele Wasser an!«
»Ja, ob es im Flussbett bleiben wird?«
»Ich glaube schon, dass die Häuser hoch genug liegen.«
»He, was ist das?«
Ganze Stücke der scheinbar undurchdringlichen Schneefläche sackten ein und flossen in die schäumenden Fluten. »Daher kommen also diese Gräben im Boden«, erkannte Sinan. »Wisst ihr, Belan schleicht sich doch immer so an das Fort heran. Er benutzt sie, um schneller hier heraufzukommen. Das sollten wir uns merken.«
Currann wandte sich zu Siri um und wollte sie etwas fragen, da entdeckte er, dass sie nicht bei ihnen war. Er wunderte sich. Sie hatte den Lärm doch sicherlich gehört und würde das nicht verpassen wollen? Beunruhigt beschloss er, nach ihr zu sehen.
Dass etwas nicht stimmte, hörte er trotz des Tosens bereits im Innenhof. Nathan schrie, er brüllte sich fast die Seele aus dem Leib. Currann beschleunigte seinen Schritt. Das tat er doch sonst nie! »Siri?« Er eilte in den Kommandantenraum. Ihr leises Schluchzen war über den ganzen Lärm nicht zu hören gewesen. »Siri!« Currann vergaß die Regeln, die ihr gemeinsames Leben bestimmten, als er sie zusammengekrümmt auf ihrer Liege entdeckte. Er kniete sich neben sie. »Siri, was hast du? Der Fluss ist frei und.. Siri?!«
Hilflos sah er zwischen ihr und ihrem Kind hin und her. Nathans kleine Fäuste fochten wütend in die Luft. Er beschloss, erst einmal den Kleinen zu beruhigen, nahm ihn hoch und steckte ihm seinen Daumen in den Mund, normalerweise eine todsichere Methode, ihn ruhig zu bekommen. Nathan begann sofort heftig zu saugen, doch als nichts herauskam, verzog er erneut das Gesicht.
»Siri, was ist mit ihm?«
»Er hat Hunger«, kam es erstickt von ihr.
»Dann gib ihm doch etwas!«
»Ich kann nicht.« Sie zog weinend ihre Decke um sich. »Ich habe keine Milch mehr, es tut alles nur noch weh..«
»Du.. waas?« Currann wusste im ersten Moment nicht, was er sagen oder tun sollte. Damit hatte er nicht im Entferntesten gerechnet. »Ich hole Karya!«, war das Einzige, was ihm einfiel. Er war schon fast zur Tür hinaus, als Siri sich aufgerappelt hatte und ihn aufhielt: »Du kannst jetzt nicht zu Karya. Der ganze Berg wird sich in Bewegung setzen.«
»Dann frag ich Ouray und Kiral. Vielleicht wissen die etwas, was man da machen kann.«
»Nein! Currann, bitte nicht! Es..«
Er kam zurück zu ihr, so schnell, dass sie zusammenzuckte. Diesmal nahm er darauf keine Rücksicht. Mit entschlossener Miene und ohne, dass er es merkte, auch mit diesem stechenden Blick, der regelmäßig alle in Furcht versetzte, kniete er sich neben sie. »Du willst nicht, dass sie es erfahren?«
Sie presste sich zurück an die Wand, mit riesigen, schreckgeweiteten Augen. Es geschah wieder, sein Gesicht verschwamm und wurde zu.. sie krümmte sich zusammen, presste die Hände an die Schläfen und schloss hastig die Augen. Er missverstand es als Abwehr und war erbost. »Siri, ich werde nicht zulassen, dass Nathan verhungert, verstanden?«, knurrte er und wartete keine Antwort ab, sondern stürmte zur Tür hinaus.
Kurz darauf erklangen draußen hastige Schritte. Siri setzte sich erschrocken und abwehrbereit auf. Der Schreck verwandelte sich langsam in Verwunderung, und sie wischte sich die Tränen ab. Er hatte recht, sie mussten etwas tun, sie kam nur nicht gegen diese Bilder in ihrem Kopf an. Sich mit aller Macht zusammennehmend, traute sie sich schließlich hinaus.
Die Kameraden machten es ihr leicht. »Keine Sorge, uns ist schon etwas eingefallen«, rief ihr Sinan im Vorbeilaufen zu und verschwand in der Küche. Siri fiel sofort auf, dass das Gebrüll verstummt war. Von draußen ertönten ein paar laute Schläge, doch die meisten Geräusche kamen aus der Küche. Neugierig wandte sie sich dorthin.
Der Anblick, der sich ihr dort bot, ließ sie all ihre Angst und Scham vergessen. Currann saß mit angezogenen Beinen auf dem Waschstein, Nathan darauf platziert und in der Hand eine Schale. In regelmäßigen Abständen tauchte er seinen Daumen in die schleimige Flüssigkeit darin und ließ Nathan anschließend daran saugen.
Siri war so erleichtert, dass ihr die Knie weich wurden und sie sich an der Tür abstützen musste. »Was ist das?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Currann sah auf und lächelte ihr zu, und Sinan erklärte: »Der Bodensatz unseres Kessels. Ouray ist sich nicht sicher, ob er dies hier verträgt, er meint, es sei zu dick.«
»Er wird vermutlich das Fort zum Einsturz bringen mit seinem Gebrüll, wenn er es nicht tut«, meinte dieser hinter Siri. Er hielt ein Stück Haut in der Hand. »Hier, dies ist noch übrig. Sie müsste reichen.«
»Was soll das werden?« Siri hatte sich wieder im Griff. Sie ging zu Currann hinüber, um ganz sicher zu sein, dass ihr Kind wirklich außer Gefahr war. Dem Kleinen schien es zu schmecken, er ruderte mit seinen Ärmchen, ihm konnte es gar nicht schnell genug gehen. Currann stellte wieder einmal fest, dass sie die Nähe zu ihm nicht scheute, sobald Nathan irgendwie in Gefahr war. Er wagte nicht, sie anzusehen oder auch nur irgendwie auf ihre Nähe zu reagieren, sondern beschäftigte sich ausschließlich mit dem Kleinen.
Ouray erklärte ihr, was sie vorhatten: »Kiral höhlt gerade ein Stück Holz aus. Wir spannen die Haut über das eine Ende, und in das andere füllen wir die Flüssigkeit.«
»Dann kann er daraus wie aus einer Mutterbrust saugen«, flüsterte Siri, plötzlich wieder an ihr Versagen erinnert. Sie senkte beschämt den Kopf.
Um ihr zu helfen, raunte Currann dem Kleinen zu: »Und wenn du dann noch begreifst, was du damit sollst, dann haben wir gewonnen. Zu schmecken scheint es dir ja.« Er stupste ihn an die Nase und grinste ihn an. Nathan gluckste, und plötzlich, als hätte er nie etwas anderes getan, strahlte er Currann an. »Siri, sieh doch, er lacht!« Currann traute seinen Augen nicht.
Noch bevor Siri reagieren konnte, wollten alle es sehen. »Was? Zeig mal!« Nathan ließ sich nicht lange bitten. Wieder satt und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, führte er ihnen ausgiebig vor, was er soeben gelernt hatte.
Das Lachen verging ihnen schon bald. Nathan bekam Koliken, so stark, dass er wirklich das gesamte Fort zusammen schrie. Aber der Hunger war stärker. Er schluckte und nahm dieses merkwürdige Ding an, das ihn mit warmer Nahrung versorgte, und er behielt alles bei sich.
Karya machte ihnen dennoch wenig Hoffnung, als sie sich endlich nach zwei Tagen zu ihnen hochkämpfen konnte. »Er wird trotzdem immer weniger werden. Man sieht es schon. Das Schreien kostet ihn zu viel Kraft, und außerdem wächst er. Wenn wir keine Milch bekommen..«
Currann drückte ihn schützend an sich. »Wie steht es in der Siedlung?«, fragte er, obwohl er das schon an Karyas erschöpftem Gesicht ablesen konnte.
»Fast alle sind krank. Zwei Säuglinge werden es wohl nicht schaffen.«
»Nurias Tochter?!«, unterbrach Ouray sie entsetzt.
Karya konnte ihn beruhigen: »Nein, nein, sie ist schon zu alt, sie isst ja bereits richtig, keine Sorge. Nein, es sind die beiden Jüngsten, und eine Frau ist zudem guter Hoffnung, für sie sieht es auch schlecht aus. Euer Fleisch in allen Ehren, es reicht nicht. Wir brauchen Gemüse, mehr Getreide und vor allem Milch.«
»Vielleicht sollte jemand zu den Sümpfen reiten und schauen, ob man nicht Schilfwurzeln ziehen kann.« Kiral trat hinzu, lautlos wie immer.
Karya schüttelte den Kopf. »Nein, die Wege sind unpassierbar, alles steht unter Wasser. Wir werden warten müssen. Wo ist eigentlich Siri?«
»Schläft«, sagte Currann und rückte Nathan an seiner Schulter zurecht. »Lasst sie schlafen, sie hat eine anstrengende Nacht hinter sich.«
»Ihr etwa nicht?« Karya musterte ihn forschend.
Tatsächlich zerrte Nathans Geschrei an ihren Nerven, aber das hätten sie niemals zugegeben. »Wir wechseln uns ab«, sagte Currann bestimmt und nicht gewillt, etwas davon zu zeigen.
»Das würden nicht viele Männer machen.« Karya nickte anerkennend. »Haltet ihn nur schön warm, trag ihn am besten unter Eurer Kleidung. Vielleicht schafft er es ja doch.« Die Kameraden öffneten die Münder im stummen Protest, doch Karyas Miene ließ sie schweigen.
Nathan wurde ihr aller Kind in diesen Tagen. Keiner der Kameraden konnte sich dem entziehen, wenn sie erst einmal eine gewisse Zeit mit ihm hinter sich hatten. Er schwand erschreckend schnell dahin, ebenso wie seine Mutter.
Siri bekam Fieber. Jetzt erst erkannte Currann, wie ausgezehrt sie wirkte. Er wusste, dass sie selbst kaum besser aussahen, doch ihre Krankheit beschleunigte es. Er begann, ernsthaft um sie zu fürchten. In der Siedlung starben die beiden Säuglinge, wie Karya es prophezeit hatte. Nathan hatte schon bald keine Kraft mehr zum Schreien. Nur noch seine dünnen Ärmchen zuckten durch die Luft, wenn sein Bauch, der unnatürlich rund wirkte, ihn drückte. In diesen Tagen wich Currann Siri und Nathan kaum mehr von der Seite. Er fütterte sie beide, sie ließ es einfach zu, weil sie keine Kraft mehr hatte, sich zu wehren. Die ganze Zeit sah sie ihn nicht einmal an, ließ die Augen geschlossen. Er dachte, es ginge ihr so schlecht, dass sie nicht einmal mehr die Augen öffnen konnte, und ahnte nicht, was der wahre Grund war.
Die Kameraden schränkten ihre Rationen noch mehr ein, damit Siri und Nathan mehr bekamen. Currann hütete sich, ihr davon etwas zu sagen, und es zeigte Wirkung: Bald vertrug Nathan die Nahrung besser, und auch Siris Fieber ließ nach. Sie war wieder in der Lage, selbstständig etwas zu sich zu nehmen. Leider kam damit auch ihr Bedürfnis nach Abstand zu ihm wieder. Currann konnte es nicht ändern. Er war froh, dass es ihr besser ging.
Sie begannen, Hoffnung zu schöpfen. Die Wege trockneten langsam ab, der Schnee schwand, die Sonne wurde kräftiger und am Flusslauf spross das erste Grün. Es war noch viel zu wenig, um daraus etwas zu essen gewinnen zu können. Wer sich noch auf den Beinen halten konnte, hielt immer öfter Ausschau am Fluss. Siri erklärte den Kameraden nun endlich auch, warum. Im Frühjahr kamen große Fischschwärme den Flusslauf hinauf, um in den höher gelegenen Teilen des Wasserlaufes zu laichen. Es war jedes Jahr ein großes Ereignis, wie diese den steilen Lauf des Flusses erklommen, und sie würden genügend fangen, dass es mit dem Hunger vorbei wäre. Doch die Fische ließen auf sich warten genauso wie das Ende des Winters.
Und dann, als Kiral eines Tages das erste Mal ausritt, um die Wege zu erkunden, entdeckte er auf dem Rückweg eine Bewegung am Pass. Die Goi kamen.
Er ritt zurück, so schnell die Wege es zuließen, warnte die Menschen in der Siedlung und seine Kameraden. Sie steckten in ernsten Schwierigkeiten. Die Hälfte der Männer war zu krank, um zu kämpfen, sie mussten einige sogar in den Tempel tragen.
Während alle um ihn herum rannten, lehnte Kiral mit geschlossenen Augen an Winds Kruppe. Currann fiel es erst gar nicht auf. Erst als er alle auf ihre Posten geschickt hatte, bemerkte er die stille Gestalt im Innenhof. Er schluckte den Befehl, den er bereits auf den Lippen hatte, herunter und sprach ihn leise an: »Was ist mit dir?«
Der Cerinn seufzte nicht, aber es kam dem sehr nahe. »Ich werde deine Hilfe brauchen.«
»Wobei?«
Kirals schmale Augen öffneten sich ein wenig. In ihnen stand ein Ausdruck, den Currann sofort deuten konnte. Die Zeit der Rache war gekommen. »Ich brauche dich, um es zu vollenden, falls ich nicht mehr dazu in der Lage sein sollte. Willst du das für mich tun?«
Für Currann war es keine Frage. »Was immer ich für dich tun muss, ich werde es tun«, antwortete er fest.
»Dann komm mit mir. Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, und ich habe dir einiges zu erklären. Du sollest den Befehl jemand anderem übertragen.«
»Sinan?«, rief Currann zum Wehrgang hinauf und instruierte ihn entsprechend, damit er sich voll und ganz Kiral widmen konnte.
Es begann damit, dass Kiral mit einer kleinen Schale in der Hand zu seinem treuen Freund Wind trat. Er flüsterte beruhigend auf ihn ein, es klang fast beschwörend. Currann dachte schon, er würde sich nur von ihm verabschieden, da zückte Kiral sein Messer und ritzte die Haut seines Freundes an. Ein dünner Blutstrahl rann in die Schale. Wind scheute nicht einmal, so vollkommen vertraute er seinem Herrn. Currann stand sprachlos dabei und beobachtete, wie sich die Schale langsam füllte. Dann verschloss Kiral die Wunde mit einer seiner Salben. Er murmelte etwas auf Cerinnisch, es klang fast wie ein Dank, und winkte Currann mit sich zur Schwitzhütte.
»Jetzt müssen wir uns reinigen.« Sie legten ihre Kleidung ab. Erstaunte Rufe von den anderen brachte Currann mit einer wütenden Handbewegung zum Schweigen. »Ich werde dir jetzt erklären, was du zu tun hast«, sagte Kiral leise, als er das Feuer tüchtig geschürt hatte und langsam Wasser auf die heißen Steine goss.
»Du willst deine Ehre wieder herstellen.«
»Meine Ehre?« Kirals Augen wurden schmal. Ein Tropfen rann durch die Furche in seiner Stirn und fiel in die Schale. »Die habe ich schon lange nicht mehr. Mein Volk hat sie mir genommen, als sie mich zu euch schickten, mir meine Abstammung und meine Waffen nahmen. Nein, ich will meine Seele retten.«
»Damit du wieder zu deinen Ahnen gehen kannst.« Jetzt begriff Currann, was der Verlust des Amulettes für Kiral bedeutete.
Kiral atmete tief durch. »Ja, und dafür brauche ich deine Hilfe. Meine Leute wählen für so etwas normalerweise einen nahen Verwandten, den Vater, den Bruder, vielleicht den Onkel. Ich wähle dich, meinen Bruder nicht im Blute, sondern im Geiste.«
Mit einem leisen Sprechgesang begann Kiral ein langes Ritual, komplizierter als alles, was Currann bisher erlebt hatte. Von den Kräutern, die Kiral in langen Abständen in den Dampf mischte, wurde ihm bald schwindelig. Er fiel in eine Art Wachtraum, der ihm merkwürdige Bilder vorgaukelte. Er meinte Althea zu sehen, wie sie auf ihn zu trat und seinen Kopf umfasste, ihr Licht für ihn leuchten ließ.. Currann lächelte und gab sich ganz diesem Gefühl hin. Er wurde erst wieder wach, als ihn ein Schwall eiskaltes Wasser traf. Fast bedauernd ließ er die Bilder los.
Kiral hatte die Klappen der Hütte geöffnet. Draußen war es dunkel. Currann erkannte verwundert, dass sie Stunden in der Hütte verbracht haben mussten. Er fühlte sich merkwürdig wach und gleichzeitig schwindelig vor Hunger und von den Dämpfen.
Im schwachen Licht des ersterbenden Feuers hockte Kiral mit der Schale in der Hand vor ihm. Seine Augen glänzten, sie wirkten unnatürlich groß. Er tauchte zwei Finger in die Schale. »Werde mein Herz«, seine Finger berührten Currann dort, »mein Denken und meine Kraft.« Die letzten beiden Zeichnungen erhielt Currann auf die Stirn und den Oberarm. Dann hielt ihm Kiral die Schale hin.
»Werde mein Herz, mein Denken und meine Kraft«, wiederholte Currann und tat dasselbe bei Kiral.
»Ich danke dir.« Kiral reinigte erst seine, dann Curranns Hände, dann hielt er ihm die Kleidung hin.
»Was soll ich jetzt machen?« Immer noch etwas benommen kleidete Currann sich an.
»Hm.. wie wäre es, wenn du deine Rüstung anlegst? Alles andere folgt später.« Er dankte ihm mit einem Nicken. Merkwürdigerweise war es dies, was Currann wieder zu sich brachte. Die Goi waren im Anmarsch! Rasch eilte er nach drinnen und rüstete sich.
Siri wurde wach, als sie nebenan ein schleifendes Geräusch vernahm. Draußen war es dunkel, und seltsamerweise brannte auch innen kein Licht. »Currann?« Sie stand plötzlich in der Tür. Nur schemenhaft konnte sie ihn im Licht des fast erloschenen Feuers erkennen.
Er hielt damit inne, sein Schwert zu prüfen. »Siri..«
»Die Goi sind da, nicht wahr?«
»Ja. Leg dich wieder hin, hier ist es kalt«, antwortete er ungewohnt barsch. In Gedanken bereits ganz bei dem Kampf, mochte er sich nicht ablenken lassen, schon gar nicht durch die Tatsache, dass sie nur im Hemd und barfuß vor ihm stand. Die hellen Flächen schimmerten schwach im Dunkel. Sie drehte sich wortlos um und verriegelte die Tür hinter sich.
Currann fluchte lautlos. »Siri!« Er klopfte an ihre Tür. »Siri, es tut mir leid.« Er lauschte mit angehaltenem Atem, und gerade, als er sich endgültig abwenden wollte, wurde innen der Riegel zurückgezogen. Ihre schmale Hand erschien im Türspalt, tastete nach ihm, fand den Armschutz und wanderte hinab bis zu seiner Hand. Currann wagte nicht, sich zu rühren. Fest verschlangen sich ihre Finger mit den seinen. »Komm heil wieder«, flüsterte sie, und dann spürte er eine leichte, warme Berührung an seiner Hand.
Erst als Sinan hinter ihm eintrat, schrak er aus seinen Überlegungen auf, ob dies wohl ihre Lippen gewesen waren. Dieser Gedanke breitete ein kleines, warmes Feuer in ihm aus, es verdrängte den Hunger und die Schwäche. Stumm packte er Sinan bei den Armen, sie sagten beide nichts, aber Currann spürte, dass er ihm Kraft gab. So war es auch mit den anderen Kameraden und so machte er es auch mit den Männern, die nun nach und nach durch das Tor geschlichen kamen. Es waren so wenige.
Currann war nun wieder in seinem Element. Er überprüfte noch einmal alles. Zum Schluss trat er zu seinem Pferd, überprüfte den Sitz des Schildes mit den dahinter befestigten Speeren, die mit festen Lagen Fell umwickelten Hufe. Sie hatten einen Plan. Diesmal wollten sie keinen der Goi entkommen lassen, und wenn sie diese zu Pferde verfolgen mussten.
Danach nahm er seine Posten vor dem Fort neben Kiral ein. Currann konnte hören, wie Kiral leise auf Cerinnisch vor sich hin fluchte. Sein Bogen war nicht fertig geworden, und so musste er erneut auf gildaische Weise gegen die Feinde kämpfen. Es war eine zusätzliche Schwierigkeit für ihn, seine Rache zu beginnen. Viel wusste Currann über die cerinnische Kampfesweise immer noch nicht, doch er ahnte, dass sie so grundverschieden von der gildaischen war wie Feuer von Wasser.
»Wie viele?«, flüsterte er, während er über den Haufen Steine am Fort hinüberspähte. Diesmal bildeten sie, weil sie so wenige waren, einen weiten Halbkreis zu beiden Seiten des Forts, denn der Wall hatte so unter der Schneeschmelze gelitten, dass er praktisch nicht mehr existierte. Kiral und Currann schützten die Mitte.
»Da stimmt etwas nicht. Es sind so wenige. Sie sind fast schon unten.«
Curranns Kopf wandte sich zu ihm. »Sie greifen an, bevor der Mond aufgegangen ist?«
Kiral hob die Schultern. »Ich glaube, sie wollen sich einschleichen, greifen, was sie bekommen können, und wieder verschwinden.«
»Hmm..« Currann überlegte. »Dann sollten wir warten, bis wir sie vollständig einkreisen können. Damit niemand entkommt.« Kiral nickte unmerklich.
Currann winkte nach oben, dass er etwas mitzuteilen hatte. Gleich darauf wurde lautlos der Balken zurückgezogen, und Sinan nahm seine geflüsterten Anweisungen entgegen.
Irgendwann war auch Currann in der Lage, sie zu sehen. Kiral hatte recht, es waren wirklich nur wenige. Was hatten sie vor? War es eine Falle?
Das fragte er sich immer noch voller Unruhe, als sie mit ihrem Angriff begannen. Die Goi gingen sofort in Deckung, doch seine Strategie ging auf. Das Gefühl, das durch Siris Berührung ausgelöst worden war, schwand, als sie ihre Gegner überraschend schnell geschlagen hatten. ›Zu leicht.. zu leicht..‹, hämmerte es in seinem Kopf, während sie ihre Pferde holten und immer dicht am Fluss das Tal hinaufritten.
Kiral ritt, gespannt wie eine Bogensehne, vor ihnen her. Er achtete auf das kleinste Zeichen, dass Wind etwas witterte. Einen besseren Spürhund gab es nicht. Das ungute Gefühl steigerte sich, je näher sie dem Ende des Tales kamen. Currann konnte es nicht deuten. Lag es an dem Ritual? Er bekam immer stärker die Ahnung, dass etwas Schlimmes geschehen würde.
Die letzten Schritte saßen sie ab und legten sie zu Fuß zurück. Kiral spähte als Erster über die Felskante. »Entweder sind sie dumm oder in großer Not. Es sind nur noch zwei Goi übrig. Sie sitzen vor der Höhle. Und sie haben ein Feuer an.« Er zog sich mit einer fließenden Bewegung seinen Schwertgurt über den Rücken, machte seinen Bogen bereit und nahm seinen Dolch zwischen die Zähne.
»Willst du sie für dich?«, flüsterte Currann und hielt die anderen mit einer Handbewegung zurück.
Kiral nickte kaum sichtbar im Dunkel. Er murmelte eine Beschwörung und führte die Faust an Dolch und Mund. »Gebt mir keine Deckung!«, zischte er, und dann war er fort.
»Aber..« Tamas verstummte, als Currann ihn anstieß.
»Nicht! Lass ihn machen. Er braucht das!«
Stumm hockten sie sich hinter die Kante und sahen dem grausamen Schauspiel zu. Wenn ein in seiner Ehre verletzter Cerinn Rache an seinen Feinden nahm, dann kam er nicht über sie wie ein böser Sturm. Nein, Kiral schlich sich unsichtbar an, die Goi sahen ihn nicht einmal, und bevor sie begriffen, dass sie angegriffen wurden, waren sie schon verletzt. Kiral tötete sie nicht sofort, es schien vielmehr einem genau festgelegten Ritual zu folgen, darauf ausgelegt, dem Gegner möglichst viele Schmerzen zu bereiten und ihm ein Glied seines Körpers nach dem anderen zu nehmen. Die Kameraden sahen in grausiger Faszination zu, wie seine Pfeile ein ums andere Mal genau dort trafen, wo sie scheinbar hingehörten.
»Sie sind dumm. Sie sollten das Feuer ausmachen.« Currann war erstaunt über sich, dass er das noch so gelassen sagen konnte. Erst jetzt, als die beiden Feinde, immer noch lebendig, hilflos am Boden lagen, bekamen sie ihren Gegner zu sehen. Kiral zog ihnen mit einer fließenden Bewegung den Dolch quer über die Kehle. Dann hockte er sich neben sie, berührte ihr Blut, lautlose Worte murmelnd und wartete.
»Er wird doch nicht..«, flüsterte Yemon entsetzt in die Stille.
Currann verdrehte die Augen. »Nein, er wird nicht von dem Blut seiner Gegner trinken.« Er schob sich über die Kante. »Wartet hier.« Sofort wurden alle Bogen gespannt. Sie sicherten seinen Weg, ganz gleich, was er sagen mochte.
Als sich Currann ihm näherte, hob Kiral den Kopf. Seine Augen waren unnatürlich geweitet, und er keuchte, ein ungewohnter Anblick. »Hast du deine Rache bekommen?«
»Ein Anfang.« Kiral hob seine blutige Hand an Curranns Gesicht und übermalte damit die von ihm geschaffenen Zeichen. Currann ahnte, dass er dasselbe bei ihm tun musste, wie in der Schwitzhütte. Anschließend entfernte Kiral die sackartigen Überwürfe seiner Gegner und holte ihre Amulette hervor. Er nahm jeweils nur ein Bestandteil davon. Warum, das hatte er ihnen bereits letztes Jahr beim ersten Angriff der Goi erklärt.
»Du nimmst dir nur ein Teil, damit dich ihre Geister nicht verfolgen?«, fragte Currann, und Kiral nickte.
»Ich hole mir meines Stück für Stück zurück. Mit jedem Gegner. Es braucht noch viele.« Kiral ließ die Beute in einen kleinen Beutel fallen, den er eigens für diesen Zweck gefertigt hatte. »Jetzt fehlt nur noch eines, aber das kann ich nicht.« Mit einem Mal krümmte er sich zusammen, zitterte sogar. Currann wollte gerade zugreifen, da ertönte hinter ihnen ein Geräusch. Er fuhr herum, das Schwert abwehrbereit in der Hand. Es war ein Husten, und es kam aus der Höhle.
Currann machte ein Zeichen in Richtung seiner Kameraden. Er wartete, bis sie heran waren, dann näherten sie sich vorsichtig der Höhle. In stummem Einverständnis drängten die Kameraden Currann nach hinten, denn nun waren sie im Nachteil, so gut, wie sie gegen das Feuer zu sehen waren. Die Schilde als Deckung nutzend, schlichen sie sich an. Erst jetzt sahen sie, dass der Eingang der Höhle mit Zweigen versperrt war. Mit ein, zwei Hieben hatten sie die Barriere zerstört, und Tamas war es, der als Erster in die Höhle stürmte.
Ihr Feind schrie auf. Bevor Tamas es überhaupt begreifen konnte, dass ihm ein ganzer Chor von Stimmen antwortete, fand er sich mit seinem Gesicht an einer feuchten Schnauze wieder. Er stolperte rückwärts und war so perplex, dass er das Gleichgewicht verlor und auf seinen Hintern landete.
»Muuhh!«
Die Anspannung der Kameraden machte sich in schallendem Gelächter Luft. »Sehr witzig!«, fauchte Tamas. Jemand reichte ihm einen glimmenden Span vom Feuer, und er sah sich Auge in Auge mit seiner Feindin gegenüber.
»Hast du Milch, meine Hübsche?« Ouray drängte sich an ihnen vorbei und untersuchte sie. Im Hintergrund der Höhle wurde es lebendig.
»Nanu, es scheint, als seien sie bereits bei den Saranern gewesen.« Currann war unendlich erleichtert. Er ging zum Feuer zurück und holte ein paar brennende Zweige. Kiral kniete immer noch bei den Goi. »Ich nehme nicht an, dass du mit hinein willst, oder?«, fragte er leise. Kiral schüttelte nur leicht den Kopf und zeigte ansonsten keine Regung.
»Und, hat sie Milch?«, fragte Currann, als er zurück war, und reichte die Zweige weiter. Er wagte nicht zu hoffen.
»Oh ja, sie ist schon ganz unruhig«, antwortete Ouray. Es schwang die Erleichterung in seinen Worten mit, die sie alle fühlten.
Sie fanden ein richtiges Lager, zwei Ziegen, ein paar Schafe, Hühner und die angebundenen Pferde der Goi und jede Menge Säcke. »Oh, Getreide!«, rief Yemon begeistert. »Und Bohnen und.. he, was ist das denn?!« Er kam mit einem mit einem runden, braunen Ding zurück.
Currann kannte es: »Das ist ein Erdapfel. Meister Thorald hat sie einmal von seinen Bekannten aus Temora geschickt bekommen. Sieht so aus, als hätten sie reiche Beute gemacht. Packt alles zusammen, und dann lasst uns zusehen, dass wir hier wegkommen. Wer weiß, ob das nicht nur die Vorhut war!«
Sie trieben ihre reiche Beute das Tal hinab. Es war noch dunkel, sodass sie die Männer auf dem Fort von Weitem anriefen, damit sie nicht Opfer ihrer eigenen Pfeile wurden.
»Macht das Tor auf! Und wir brauchen Licht, schnell!« Schon von draußen konnte sie Nathans Gebrüll hören. Sobald das Tor auf war, rannte Ouray auch schon, um sich die Hände zu waschen und mit dem Melken zu beginnen.
Die Männer staunten nicht schlecht, was sie dort alles anschleppten. Currann ließ ihnen keine Zeit. Er teilte sie ein: »Die eine Hälfte sammelt die Goi ein und verscharrt sie, die andere Hälfte sichert die Siedlung. Yorran, könntet Ihr nach den Leuten im Tempel sehen? Lasst niemanden heraus, bevor es richtig hell ist. Wir wissen nicht, ob noch welche in der Nähe sind.« Augenblicklich waren sie allein im Fort, was Currann auch beabsichtigt hatte. Er wurde dieses bohrende Gefühl nicht los, dass etwas Schlimmes geschehen würde.
»Currann, hier..« Ouray lenkte ihn ab, indem er ihm eine Schale hinstreckte. Sinan kam mit dem brüllenden Nathan samt Körbchen und Flasche zu ihnen geeilt. »Gib die Schale Siri. Wir kümmern uns um Nathan.«
Currann ließ sich nicht lange bitten. Das wollte er, nein, das musste er selbst tun, für sich und für sie. Er nahm sich eines der Talglichter und betrat leise den Kommandantenraum. »Siri?«
»Currann?« In ihrer Kammer war es dunkel. Er hörte es rascheln, als sie sich erhob.
»Siri, wir haben Milch! Komm her und trink!« Er stellte sein Licht ab und wandte sich ihrer Tür zu.
»Geht es euch gut? Euch allen?« Sie schien es nicht gehört zu haben.
»Ja, komm, sie ist noch warm.« Currann wartete in gespannter Erwartung mit der Schale in der Hand. »Hörst du? Nathan schreit nicht mehr, er trinkt!«
»Wirklich?« Sie näherte sich langsam der Tür, als könne sie es nicht glauben. »Ist das wirklich.. Oh Gott!!« Siri schrie entsetzt auf, als sie ihn erblickte, so laut, dass Currann vor Schreck beinahe die Schale fallen ließ.
Schon kamen die Kameraden angerannt, Kiral schneller als alle anderen. »Was ist passiert?!«
Siri schrie schon wieder, ein langer, gequälter Schrei, sie schlug die Hände vors Gesicht. Es gab einen Tumult vor der Tür, als die ersten Kameraden erkannten, dass sie Siri erschreckten, während die letzten noch nach vorn drängten.
Currann schritt energisch ein. »Ruhe!«, brüllte er und warf die Tür zu. Als er sich umdrehte, wurde er gewahr, dass Kiral vor ihr kniete, den Kopf gesenkt. »Was..?« Kiral wandte den Kopf in seine Richtung, und da erst ging Currann auf, dass sie immer noch das Blut ihrer Gegner im Gesicht hatten. »Oh nein!« Er wusste nicht, was er tun sollte.
»Verzeih mir«, flüsterte Kiral. »Es ist meine Schuld. Es gehört zu meinem Ritual dazu.«
Siri atmete keuchend aus. Sie schluckte ein paar Mal. »Dann.. du hast.. dich gerächt? Ist ihre Tat gesühnt?« Es fiel ihr sichtlich schwer, doch sie straffte sich und näherte sich ihm.
»Ja, ich habe angefangen, mich zu rächen, aber mein Ritual ist unvollständig. Ich kann es nicht beenden.« Kiral verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und senkte den Kopf.
»Warum nicht?« Siri hatte plötzlich alle Furcht verloren, als sie sah, wie er mit sich kämpfte. Sie nahm seine Hände, ob blutig oder nicht, es war ihr egal.
»Ich brauche eine Frau«, brach es aus Kiral hervor. »Eine, die mich reinigt, von außen und von innen. Currann auch. Erst dann ist es vollständig.«
Currann starrte ihn sprachlos an. Siri schloss krampfhaft die Augen, doch seine Hände, die hielt sie weiterhin fest. Als sie die Augen wieder aufmachte, blickte sie ruhig. »Mach dir keine Vorwürfe. Ich hatte Angst, dass euch etwas geschehen ist«, sagte sie ruhig. »Willst du auch für mich Rache nehmen? Dann werde ich versuchen, dir zu helfen.« Kirals Kopf fuhr hoch. Sie lächelte leicht. »Ich kann zwar nicht für den inneren Teil sorgen, aber wenn es dir hilft, will ich gerne den äußeren übernehmen.«
Kiral neigte den Kopf. »Ich fühle mich geehrt. Gerne werde ich das tun, aber du musst es bei uns beiden machen.«
Ihr Blick schnellte unsicher zu Currann, doch dann nickte sie. Kiral winkte ihn heran. Er zwang Currann, neben ihm niederzuknien, und packte seine Hand. Leise sprach er ein paar Worte in seiner Sprache. Siri nahm eine Schale Wasser und ein Tuch und begann, ihm die Hände und das Gesicht zu reinigen, doch als sie fertig war, zögerte sie. Currann schloss die Augen, auch, um es ihr leichter zu machen. Gleich darauf spürte er ihre sanfte Berührung. Er ließ es ohne eine Regung über sich ergehen. Für ihn war es eine Qual, und er wusste, dass für sie genauso war. Er machte seine Augen erst wieder auf, als Kiral ihr dankte und ihre Hände an seine Stirn führte.
Siri sah sie beide nicht an. Sie riss ihre Hände zurück, verschränkte sie ineinander. »Und.. und ihr habt wirklich Milch?«, fragte sie, um davon abzulenken.
Currann stand langsam auf. »Ja, hier. Trink.« Er deutete auf die Schale.
Sie nahm sie, schnupperte. »Kuhmilch!« Genussvoll trank sie einen großen Schluck. »Wunderbar!«, lächelte sie. »Und Nathan?«
»Ich hoffe, er trinkt«, sagte Currann und deutete nach draußen.
Siri rannte fast in die versammelten Kameraden hinein, so schnell riss sie die Tür auf. »Alles in Ordnung?«
»Hast du..?«
»Wo ist Nathan?«, schnitt sie ihnen die Fragen ab.
»Hier.« Ouray hielt ihn im Arm und fütterte ihn. »Die erste Portion hat er wieder ausgespuckt, aber jetzt geht es. Was, dir schmeckt es, nicht wahr?« Nathan gluckste und ließ einen seligen Rülpser fahren. Siri lachte. Es war das erste Mal seit Langem.
»Komm, sieh dir an, was wir erbeutet haben!« Wie zwei kleine Kinder zogen Tamas und Yemon sie mit sich in den Innenhof.
Kiral und Currann beobachteten alles aus der Ferne des Kommandantenraumes. Currann wandte sich an ihn. »Ist es jetzt besser?«
»Ja, das ist es. Richtig ist es aber erst, wenn ich wieder gesund bin und eine Frau gefunden habe«, sagte Kiral leise. »Ich danke dir.«
Sie gesellten sich zu den Kameraden, die gerade unter viel Gelächter die Hühner befreit hatten und nun versuchten, sie in einen der Ställe zu sperren. »Au, du Mistvieh!«, schimpfte Yemon, als der Hahn nach ihm hackte.
»Oh, seht doch, wir haben sogar Eier!« Siri hatte die Käfige in Augenschein genommen und zog einige daraus hervor. Als sie Currann entdeckte, zögerte sie, doch dann ging sie auf ihn zu. »Was meinst du, sollten wir nicht die Milch unter den Einwohnern verteilen?«
»Ich finde, das ist ein guter Einfall.« Ouray war längst mit dem Melken fertig. Er hatte zwei ganze Kübel gefüllt, von der Kuh und den Ziegen.
»Dann lass es uns so machen«, nickte Currann. Sie warteten, bis es hell wurde, um zu sortieren, was sie behalten und was sie den Bewohnern geben sollten. Sobald die Sonne aufging, packten sie die Sachen zusammen. Currann ging zu Siri, die Nathan beruhigend auf den Rücken klopfte. »Ich möchte, dass du mitkommst. Gib du ihnen die Milch.«
»Du willst, dass ich..« Siri versteifte sich. Ihr Gesicht wurde bleich. Noch nie hatte sie sich freiwillig in die Siedlung gewagt, immer nur in großer Not.
»Du gibst ihnen von der Nahrung deines Kindes«, drängte Currann und hielt ihr die Arme hin.
»Es wird sie auf eure Seite bringen«, versuchte es nun auch Sinan. Mit Erfolg.
Siri übergab Nathan zögernd an Currann und griff sich die Kübel. »Bleib in meiner Nähe«, bat sie leise.
Sinan und Kiral blieben im Fort, doch alle anderen begleiteten sie zum Tempel. Es war auch gut so. Kedar öffnete ihnen, und ihm gefiel es gar nicht, wer dort vor ihm stand. Siri interessierte es nicht. Flankiert von Currann und Ouray drängte sie ihn einfach beiseite.
Die Bewohner starrten ihnen sprachlos und reserviert entgegen, doch das währte nur solange, bis Siri die Kübel abstellte und sie des Inhaltes gewahr wurden. Freudige Ausrufe erklangen. Sofort waren sie umringt, und Currann konnte spüren, wie viel Kraft es Siri kostete, dort und vor allem ruhig zu bleiben. Er blieb dicht an ihrer Seite, bildete zusammen mit Ouray einen Schutzwall gegen die drängenden Bewohner, sodass sie in der Lage war, ruhig Schluck für Schluck zu verteilen und sogar das eine oder andere Lächeln zu schenken. Es wurde voller Dankbarkeit erwidert. Siri wurde von den Frauen sogar umarmt, und nicht nur eine vergoss Freudentränen angesichts dieses Geschenks. Sie begann bei den Kindern und endete bei den Erwachsenen, während die Kameraden die übrige Beute hereinschleppten. Sobald die Bewohner ein wenig gesättigt waren und es bemerkten, war das Interesse schnell von ihnen abgelenkt. Siri konnte aufatmen.
Strahan interessierte sich besonders für die fremde Frucht. »Das sollten wir versuchen anzubauen, meint Ihr nicht?«, sagte er zu den anderen und drehte sie in den Händen.
Siri sah sich unterdessen suchend um. Wo waren Mari und Goran? Da hatte sie die beiden entdeckt. Sie saßen abseits der aufgeregten Menge auf einem Stapel leerer Körbe. »Currann, kommst du mit mir?«, flüsterte sie und füllte eine weitere Schale ab. Schnell sah sie zu ihrem Onkel hinüber, doch der war völlig damit beschäftigt, sich wichtig zu machen. Keinen Augenblick später stand sie vor ihrer Cousine. Sie umarmten sich. »Hier, trink schnell, bevor er etwas merkt.« Mari trank hastig, den Blick immer in Richtung ihres Vaters gerichtet. Sie war blass und dünn wie sie alle, und Currann war erleichtert, dass er keine Male auf ihrem Gesicht entdecken konnte.
Siri begann mit Mari zu flüstern. »Geht es dir gut?«, war das einzige, was Currann verstand. Er stellte sich so hin, dass er die beiden mit seinem breiten Rücken vor den Blicken der anderen schützte, und hielt Goran allein mit seiner Anwesenheit auf Abstand zu Siri. Dessen Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Sein Blick schnellte zwischen Siri und Currann und dem Kind auf seinem Arm hin und her. Schließlich richtete Siri sich auf. »Du kannst auch gerne eine Schale haben«, sagte sie zu Goran, ein Friedensangebot, das Currann wunderte, aber er wusste ja auch nicht, was Mari ihr gerade erzählt hatte.
Es wurde nicht honoriert. Goran wiegelte mit ausdruckslosem Gesicht ab: »Gib sie Mari, ich möchte nicht.« So ganz schien er sich noch nicht entscheiden zu können, wo er stand. Siri jedenfalls mochte er nicht in die Augen sehen. Sie kümmerte es nicht, ihre Sorge galt allein ihrer Cousine. Schnell holte sie noch eine Schale, bevor Kedar etwas davon mitbekam, dann gingen sie wieder zu den anderen hinüber und verteilten die restliche Milch unter den Kindern, bis die Kübel leer waren.
Als sich die Bewohner wieder etwas beruhigt hatten, sprach der Mönch ein Dankgebet und machte anschließend eine überraschende Ankündigung: Er legte für den nächsten Herrentag die große Versammlung fest, die längst überfällig war. Currann war sich fast sicher, dass er die gute Stimmung und die Tatsache, dass Kedar erneut auf verlorenem Posten stand, dafür nutzen wollte, einige Dinge zu ändern. Unter vielen Dankesbezeugungen wurden Currann und Siri verabschiedet.
In tiefem Schweigen stiegen sie zum Fort hinauf. Die Kameraden waren längst voraus gegangen, so lange hatte es unten gedauert. Sie brauchten nichts zu sagen, es wäre auch nicht gut gewesen, so aufgewühlt, wie Siri war. Currann dagegen war sehr zufrieden mit sich selbst und unendlich stolz auf sie. Er hoffte, dass er ihr das eines Tages sagen konnte. Das bohrende Gefühl, dass etwas Schlimmes geschehen würde, war verschwunden.
Dass dies ein Trugschluss war, merkte er, sobald er das Fort betrat. Er brauchte nur einen Blick auf die starren Mienen seiner Kameraden werfen, und er wusste, dass etwas nicht stimmte. Das Gefühl, bisher noch unbestimmt, steigerte sich zu einem Übelkeit erregenden Druck.
Yemon fasste sich schließlich ein Herz und sprach als Erster: »Wir haben etwas bei unserer Beute gefunden.«
Currann reichte Nathan sofort an Siri weiter. Zögernd trat er einen Schritt auf sie zu. »Was gefunden?«, fragte er voller böser Ahnungen.
Es war Ouray, der einen kleinen Gegenstand hinter seinem Rücken hervorholte. Er war in Fell eingewickelt. »Es.. es ist ein Messer. Aus Ferrium.«
Als er es auswickelte, war es, als hätte er es Currann gleich in die Eingeweide gerammt. Die Messerscheide und den Griff erkannte er sofort. »Das sieht ja aus wie deines. Haben dies die Sa..« Siri trat neugierig näher, doch sie verstummte erschrocken, als Currann mit versteinerter Miene das Messer umdrehte.
Auf seinem Griff prangte ein Zeichen. Es war der gildaische Buchstabe ›P‹.
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