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Kapitel 2
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Zweites Frühjahr nach der Flucht
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»Siehst du schon etwas?« Phelan starrte in die mit Nebel verhangenen Berge hinauf und versuchte, etwas in dem grünen Dickicht des Waldes zu erspähen.
Für einen Moment fühlte sich Jeldrik um eineinhalb Jahre zurückversetzt. Als er den Kopf wandte, erwartete er fast Currann neben sich vorzufinden und den weiten Blick in eine neblige, kahle Ebene. Jeldrik schüttelte sich kurz, um das Trugbild loszuwerden.
»Ist etwas?« Abgelenkt sah sich Phelan kurz zu ihm um.
»Nein, nichts.« Wie so oft ließ Jeldrik seinen spontanen Regungen keine Erklärungen folgen. Phelan zuckte mit den Schultern. Inzwischen kannten sie sich beide gut genug und merkten genau, wann den anderen etwas beschäftigte, über das er nicht reden wollte, und sie hatten gelernt, sich in Ruhe zu lassen. Obwohl.. manchmal wünschte sich Phelan.. Er ließ seine Stute langsam voranschreiten, um den Gedanken loszuwerden. Philine. Er lächelte leicht, als er daran dachte, wer ihr diesen Namen gegeben hatte, und klopfte ihr beruhigend die Kruppe. In gespannter Erwartung spähte er vorwärts, alles andere verdrängend.
Endlich waren sie auf Reisen. Er hatte diesen endlosen Winter gründlich satt. Die alles durchdringende Feuchtigkeit machte die Kälte, die kaum jemals die Frostgrenze erreichte, viel schwerer erträglich als die klirrend kalten, aber trockenen Winter in Gilda. Kaum zu ertragen war auch ihre verräucherte Hütte. Sogar Bajan war seine Vorliebe für Holzfeuer verleidet worden, und das sollte schon einiges heißen.
Das ewig gleiche Essen aus getrocknetem Fisch und Getreide und diesem merkwürdigen Ding, das Phelan nun als Kartoffel kannte, hing ihm zum Halse heraus. Er war froh und dankbar, dass sie hier im Landesinnern endlich einmal wieder Fleisch zu essen bekamen. Umso mehr konnte er jetzt verstehen, dass die Saraner ihre Feste so ausgiebig feierten.
Dieser Winter war einer der regenreichsten gewesen, an den sich die Saraner je erinnerten, mit schweren Schäden durch zahlreiche Überflutungen. Es würde dauern, die Schäden zu beseitigen, und Phelan hatte Roar in einem unbedachten Moment zu Bajan sagen hören, es käme ihm so vor, als arbeitete ER gegen sie und schicke die Unwetter. Phelan mochte es kaum glauben, auf jeden Fall zögerten die Zerstörungen die von den beiden Fürsten geplanten Dinge erheblich hinaus, und Phelan erlebte Bajan, wie er ihn noch nie erlebt hatte: rastlos. Stets gewohnt, dass alles nach seinen Wünschen klappte, die er bis ins Detail geplant hatte, musste er nun lernen, dass die Saraner völlig anders dachten. Sie räumten in aller Ruhe die Schäden auf und scherten sich nicht um die Pläne ihres Anführers, ihr Land besser abzusichern. Wenn es dieses Jahr nichts wurde, dann halt nächstes Jahr, was war so schlimm daran? Nur wenige stimmten mit ihm überein, unter ihnen Bryn und zu ihrer Überraschung auch Regnar, vielleicht weil er schon in Berührung mit den neuen Feinden gekommen war. Doch da Regnar den ganzen Winter über in südlichen Gewässern gefahren war, hatte er ihnen keine Unterstützung bieten können und – dessen war Phelan sicher – auch nicht wollen. Also war Roar und Bajan nichts anderes übrig geblieben, als soviel, wie es nur eben ging, im Winter herumzureisen. Sie hatten für ihre Sache geworben, Gefahren aufgezeigt, Zusagen eingefordert und erreicht, dass es nach ihrer jetzigen Reise endlich ernst wurde: Die jungen Männer würden trotz Aussaat und allem anderen zu Bajan kommen und von ihm unterrichtet werden.
Bei dem Gedanken schrak Phelan auf. Sie waren ja schon fast da! Er sah sich nach Jeldrik um und fand ihn dicht hinter sich. Sie beeilten sich, den Anschluss an die Männer nicht zu verlieren, die sich bereits der ersten Siedlung in den Ausläufern der saranischen Berge näherten. Die beiden Jungen sprachen kein Wort mehr, selbst als sie am Rande der Siedlung ihr Lager aufschlugen und von dem Clansführer mit allen Ehren begrüßt wurden.
Spät am Abend lag Phelan in seinen Schlaffellen und konnte keine Ruhe finden, wie so oft. Dieses merkwürdige Verhältnis zu Jeldrik belastete ihn mehr, als er sich offen eingestehen mochte. Es war wie immer: Sobald Jorid nicht bei ihnen war, bekamen sie den Mund nicht mehr auf, es sei denn, sie hatten eine Aufgabe. Oh ja, sie lernten zusammen, sie kämpften zusammen und verbrachten auch die meiste Zeit des Tages zusammen, aber als einen Freund mochte er Jeldrik immer noch nicht bezeichnen.
Sie hatten Bajan und Roar auf ihren winterlichen Reisen nicht begleiten dürfen, etwas, das Phelans prekäre Lage noch verschlimmerte: Kein Unterricht bedeutete keine Beschäftigung. So oft er konnte, hatte er sich zu Bryn verdrückt, und immer waren Jeldrik und Jorid dabei gewesen. Die restliche Zeit hatte er das getan, was er sich im letzten Jahr fest vorgenommen hatte: Er hielt sich dicht an Sylja, auch wenn das bedeutete, dass er Arbeiten verrichten musste, die ihm schon bald den Spottnamen ›Syljas Sklave‹ eintrugen. Ohne diese Beschäftigung würde er nur wieder grübeln und in Selbstmitleid verfallen, denn er wusste tief in seinem Innern, dass er einsam war. Er hatte niemanden, mit dem er solche Gespräche führen konnte wie mit Althea und Noemi, nicht mit Fürst Bajan, nicht mit Jeldrik, nicht mit Bryn und mit Jorid schon gar nicht.
»Phelan, willst du noch etwas essen? Sie haben noch einmal aufgetragen.« Bajans Stimme ließ ihn aufschrecken.
»Noch mehr zu essen?« Phelan richtete sich halb verschlafen auf. Fast wäre er eingedämmert, wie schade!
»Oh ja, sieht so aus, dass wir kugelrund von dieser Reise zurückkehren werden. Die Männer haben schon kräftig zugelangt.« Bajan hockte sich zu ihm und griff sich dankbar den Wasserschlauch, den Phelan neben seinem Lager liegen hatte. Er nahm einen tiefen Zug.
Phelan schnaubte. »Wohl hauptsächlich Flüssiges, wie immer. Nein danke, ich bin nicht mehr hungrig. Ich würde gerne schlafen.« Irgendwann wollte auch er seine Ruhe haben, und wenn Jeldrik es bis spät in die Nacht bei den Männern aushielt, es war ihm egal.
Bajan setzte zu einer Frage an, unterließ es dann aber. Er nickte Phelan kurz zu und kehrte zu den Männern ans Feuer zurück.
Sie verbrachten eine erste, feuchtkalte Nacht in den Ausläufern der Berge. Während Roar sich am nächsten Morgen von dem örtlichen Clansführer verabschiedete, geschah das, was meistens nach einem solchen Abend geschah: Jeldrik überschüttete Bajan mit Fragen. Inzwischen war er so klug, sich nicht mehr in die Gespräche der Männer einzumischen, was ihm mit Sicherheit eine scharfe Abfuhr seines Vaters eingehandelt hätte, sondern hielt sich an seinen fremdländischen Lehrmeister.
Geduldig und mit Zuhilfenahme Phelans erklärte ihm Bajan, was man alles bei der Ausrichtung eines Forts und anderer Verteidigungsanlagen berücksichtigen musste. Es galt dabei nicht nur die mögliche Angriffsrichtung der Feinde zu beachten, sondern auch andere Gefahren wie ein instabiler Untergrund, das Wetter, Flüsse und Ähnliches. Sogar die Ausrichtung des Tores, der Türen und anderen Öffnungen wollte wohl durchdacht sein. Jeldrik lauschte wie jedes Mal fasziniert seinen Ausführungen.
Phelan dagegen hatte Mühe, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Sein Blick wurde immer wieder von den nebelverhangenen Bergen angezogen. Irgendwo dahinter musste sein Bruder sein. Und seine Mutter, seine Schwester, sein Onkel.. alle, die sein bisheriges Leben geprägt und bereichert hatten. Rasch schob er den Gedanken beiseite. Er wollte jetzt nicht an sie denken, insbesondere nicht an Althea und Noemi, nicht, wenn die anderen dabei waren. An das, was sie ihm geschrieben hatten und in welcher Gefahr sie womöglich schwebten, Anwylls Schutz hin oder her. Er mochte nicht daran denken, was Althea in der Zwischenzeit noch alles geträumt haben musste, welche Krankheiten die Mädchen zu Gesicht bekamen und dass sie sich regelmäßig in Gefahr begaben, um ihre Freunde in Temora zu sehen. Ganz zu schweigen von dem versteckten Tor im Bannwald Temoras, das Althea mehr lockte, als ihre Worte es auszudrücken vermochten. Es machte ihn wahnsinnig, nicht bei ihnen zu sein, doch er hütete sich, jemals etwas davon zu zeigen, denn die Vorwürfe von allen Seiten, er ziehe sich zu sehr in sich selbst zurück, schwelten in ihm wie eine Wunde. Es hatte ihm gezeigt, dass er noch viel vorsichtiger sein musste. Seitdem lagerten die Briefe der Mädchen zusammen mit seinen eigenen unter einem versteckten Dielenbrett ihrer Hütte, und er hatte nie wieder in Bajans Gegenwart geschrieben.
Schon bemerkte er Bajans forschenden Blick auf sich. Der Fürst beobachtete ihn derart häufig, dass es Phelan schon unangenehm war. Er schien genau zu ahnen, wie es in ihm aussah. Phelan kam es so vor, als würde er stetig mit seinem älteren Bruder verglichen, was er denkbar ungerecht fand. Deshalb zog er sich stetig mehr in sich zurück, so wie jetzt, wo er sich beeilte, eine unbeteiligte Miene aufzusetzen und zu fragen: »Ich verstehe nicht, warum die Goi erst in den letzten Jahren angegriffen haben. Warum haben sie es nicht schon vorher gemacht?«
Bajan ließ Jeldrik mit einem Nicken den Vortritt, schließlich war es seine Heimat. »Genau genommen machen sie es erst, seit wir das Gebiet der Ethenier kontrollieren. Vorher suchten sie diese heim, aber seit wir da sind, trauen sie sich nicht mehr.«
»Moment mal!« Phelan runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Dort unten im Süden trauen sie sich nicht, aber hier tun sie es?«
Nur ein strenger Blick von Bajan verhinderte, dass Jeldrik die Augen verdrehte. »Sieh dich doch mal um! Fällt dir nichts an dieser Siedlung auf?«
Den Spott konnte er nicht ganz aus seiner Stimme streichen, dementsprechend verstimmt war Phelan, doch dann musste er zugeben: »Jetzt, wo du es sagst.. hier gibt es fast nur Frauen und Kinder und Alte. Ach, du meinst, die anderen sind auf See?«
»Ja, im Sommer. Im Winter sind sie im Wald. Dann fällen sie die Bäume. Wir sind erst in den letzten Jahren, seit wir Werkzeuge aus Ferrium haben, so nah an die Berge herangerückt. Vorher ging das Fällen und Holzspalten viel langsamer vonstatten, und weil nun die meisten Wälder an der Küste abgeholzt sind, müssen wir weiter ins Landesinnere und damit..«
»..kommt ihr in die Reichweite der Goi, und für sie gibt es erst seitdem etwas zu holen. Ich verstehe.« Phelan richtete sich auf, und auch Jeldrik setzte sich aufrechter hin, weil Roar zu ihnen zurückkehrte.
»Sie werden noch heute anfangen, das Holz für ein Fort zu schlagen.« Er schwang sich auf seinen Hengst, den er abseits der anderen Pferde angebunden hatte.
Bajan nahm seine Worte lediglich mit einem Nicken zur Kenntnis. Er war aus verständlichen Gründen vorsichtig geworden, was die Zusagen der Saraner anging. Noch heute oder bald.. sie konnten von Glück sagen, wenn sie in ein paar Wochen anfingen.
Jeldrik jedoch war nicht so klug, seine Gedanken zu verbergen. »Wirklich?«, fragte er misstrauisch und ritt an seinen Vater heran.
Augenblicklich wies Roar ihn scharf zurecht: »Er hat mir sein Wort gegeben! Reiten wir!«
Jeldrik presste die Lippen zusammen und sagte nichts mehr. Die Männer folgten ihrem Clansführer, und nicht nur ein forschender Blick traf den Jungen, als sie an ihm vorbeiritten. Es wurde von Bajan aufmerksam beobachtet.
Natürlich beantwortete er gerne die Fragen des Jungen, ja, manchmal ergaben sich daraus auch für ihn neue Erkenntnisse und Einfälle, aber eigentlich hätte Jeldrik diese seinem Vater stellen müssen. Wie viele von Jeldriks Ideen hatte Bajan bereits an Roar weitergegeben, weil Jeldrik sich nicht traute, ihm etwas zu sagen oder Roar nicht hören wollte? Ein äußerst zwiespältiges Verhältnis hatten die beiden zueinander. Das war vor der Expedition ans Lir-Delta anders gewesen, Bajan hatte es ja selbst erlebt.
Es schien, als hätte Roar nicht nur die körperlichen, sondern auch die geistigen Fähigkeiten seines Sohnes aufgegeben. Bajan verstand es nicht. Wollte Roar Jeldrik auf die Nachfolge vorbereiten, dann hätte er ihm längst an feste Aufgaben heranführen müssen. Es war unter Clansführern nicht unüblich, ihren Ältesten auch im Rat der Männer ein Wortrecht einzuräumen und sie an den Entscheidungen zu beteiligen, warum also tat er es nicht? Hielt er ihn für zu schwach? War es wirklich seine Behinderung, die ihn für seinen Vater als minderwertig abstempelte?
Vielleicht war es das. Bajan glaubte jedenfalls zu wissen, dass Roar beide seiner Kinder gründlich unterschätzte. Ihn hätte es brennend interessiert, etwas über ihre Mutter zu erfahren, doch hierzu schwieg selbst Sylja.
Jeldriks Verstand, so viel stand jedenfalls fest, war einer der klügsten, der Bajan jemals untergekommen war. Er war mit den beschränkten Möglichkeiten der Saraner weit unterfordert. Eigentlich hätte er nach Temora gehört, fehlende Gabe hin oder her, und seine Schwester auch. Dass die Gabe nicht unbedingt etwas mit Klugheit zu tun hatte, das hatten sie ja an Phelan gesehen. Bajan war überzeugt davon, dass es in Temora jede Menge dummer Menschen gab, die überhaupt nicht zu schätzen wussten, auf welchem Schatz sie dort saßen. Es wunderte ihn nicht, dass Jeldrik sich nach Thoralds Haus des Wissens sehnte, das jetzt praktisch zerstört war. Kaum eine Nachricht hatte Jeldrik so in Aufregung versetzt wie diese.
Die Jungen jedenfalls, und dafür zollte ihnen Bajan höchste Anerkennung, arbeiteten hart daran, den Mangel seiner Behinderung auszugleichen, und zwar sehr erfolgreich, mochte man Bryn Glauben schenken, in dessen Werkstatt sie regelmäßig übten.
Sie ritten in unbehaglichem Schweigen durch die nebeligen Wälder weiter nach Süden. »Sie sind dieses Jahr spät dran.« Die gemurmelten Worte der Männer drangen durch die Stille bis zu ihnen ans Ende der Truppe. »Kein Wunder. Dort oben muss es geschneit haben wie schon lange nicht mehr.« Sie verstummten. Spannungsgeladene Stille machte sich breit. Phelan richtete sich auf und spähte durch die Männer nach vorne. Nicht nur einer hatte die Hände griffbereit um seine Waffen gelegt.
»Vater hätte gerne eine andere Route gewählt, aber die ist überschwemmt. Deshalb hat er so schlechte Laune«, zischte Jeldrik ihm zu. »Wir kommen gleich in die Ausläufer eines weiteren Tales hinein, durch das sie oft einfallen.«
»Hat er das gesagt?«, flüsterte Phelan zurück.
»Nein, aber ich habe es die Männer sagen hören. Er würde doch niemals zugeben, dass..«
»Ja, ich weiß!« Phelan unterbrach ihn. »Ist die Gefahr wirklich so groß?« Aufmerksam spähte er durch die hohen Bäume. Er sah nichts außer nebliges, feuchtes Grün.
Plötzlich ließ Roar die Männer anhalten. Durch die Bäume schimmerte eine helle Fläche. Jeldrik antwortete nicht auf seine Frage, denn jetzt waren sie wirklich an einem gefährlichen Ort angekommen. »Das ist das Tal. Es besteht nur aus Geröll.« Sie beobachteten, wie Roar, Bajan und zwei andere Männer sich vorsichtig nach vorne pirschten und das Tal ausspähten. Die Jungen warteten in gespanntem Schweigen. Geraume Zeit später waren die Männer wieder da.
»Nichts zu sehen«, teilte ihnen Bajan mit. Trotzdem machten alle ihre Waffen bereit, und sie hießen die Jungen, abzusitzen und ihre Bogen schussbereit zu machen. Zu Fuß überquerten sie das Geröll. Phelan spähte das Tal hinauf und hinab. Von hier aus konnte man weit bis ins Land hineinsehen, es war ein kahler Fluss aus Steinen, der dort aus den Bergen kam und sich bis weit in die Ebene erstreckte. Auch ein Gebirgsbach rauschte in tosenden Fluten nach unten, den sie aber an einer schmalen Stelle gefahrlos und ohne irgendwelche Zwischenfälle passieren konnten. Keiner der Jungen wollte es zugeben, aber sie atmeten doch auf, als sie wieder in dem sicheren Schutz der Bäume untertauchten.
»Fallen sie immer von hier in euer Land ein? Oder gibt es noch andere Wege?«, fragte Phelan, sobald auch die Anspannung von den Männern abfiel und die eine oder andere Bemerkung ausgetauscht wurde.
Jeldrik wusste es nicht zu sagen. Er hob die Schultern. »Es gibt viele solcher Täler, und sie kommen immer woanders runter. Niemand kann genau sagen, wo und wann das sein wird. Von hier aus können sie mehrere Siedlungen ansteuern, das macht es ja so schwierig.«
Phelan runzelte die Stirn. »Aber es muss doch jemand festhalten, wo und wann das gewesen ist. Vielleicht gibt es ein Muster.« Augenblicklich schlug er sich an die Stirn, denn Jeldrik hatte scheinbar den Mund zum Widerspruch geöffnet und seine Stute abrupt angehalten. »Verzeih, das ist ohne einen Kalender natürlich schwierig«, entschuldigte er sich schnell, doch dies war nicht der Grund für Jeldriks Verhalten.
Dieser ärgerte sich, dass er nicht selbst darauf gekommen war, und schüttelte heftig den Kopf. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Nein, das hätten wir tun sollen! Wie dumm von uns!« Seine Augen leuchteten auf, als die Idee in seinem Kopf langsam Gestalt annahm.
Phelan war sofort mit Feuereifer dabei. »Komm, wir fragen sie, ob wir noch einmal zurückreiten und die Leute in der Siedlung befragen können!«
Sie setzten es sofort in die Tat um. Wenn sie allerdings geglaubt hätten, ihr Einfall würde auf Anerkennung stoßen, so hatten sie sich gründlich getäuscht. Sie handelten sich eine rüde Abfuhr seitens Roar ein, allen voran Jeldrik, der sich endlich wieder einmal getraut hatte, seinen Vater anzusprechen.
»Was soll der Unsinn?« Dies schien Roars ewige Antwort auf seine Vorschläge zu sein, dachte Bajan und machte sich bereit einzugreifen, doch der Clansführer wiegelte so schnell ab, dass er dazu keine Gelegenheit mehr hatte: »Wir haben keine Zeit mehr zurückzureiten!«
Um allen weiteren Diskussionen Einhalt zu gebieten, trieb er seinen Hengst energisch vorwärts und ließ die Jungen einfach stehen. Seine Männer folgten ihm, bis auf Bajan und die beiden, die sich stets in der Nähe der Jungen zu halten hatten, um sie im Falle eines Angriffs zu schützen.
»Erklärt mir das«, bat Bajan. Jeldrik und Phelan tauschten einen Blick. Jedweder Widerstand Roars machte sie umso entschlossener. Phelan ließ sich nicht lange bitten, ihm war es inzwischen herzlich egal, was Roar über ihn dachte. Jeldrik brauchte nur wenige Augenblicke länger, um seine verletzten Gefühle hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit zu verbergen und tatkräftig zu Phelans Überlegungen beizusteuern. Dies war etwas, das er sich eindeutig von Phelan abgeschaut hatte, das hatte Bajan schon lange erkannt. Es schützte ihn davor, sein Gesicht zu verlieren, und nur seine Augen, die dann noch intensiver leuchteten als sonst, verrieten, was er wirklich fühlte. Die Männer jedenfalls waren von dem Einfall der Jungen angetan. Den ganzen Ritt über diskutierten sie über die vielfach ausgeschmückten Erzählungen der Siedlungsbewohner und einigten sich schließlich auf zwei Zeitpunkte, die sich Jeldrik und Phelan gut merkten.
Von da an wurde die Reise für die Jungen wirklich interessant. Sie hatten eine Aufgabe gefunden, mochte Roar noch so dagegen sein. Die Jungen hüteten sich, ihn und seine Männer etwas davon merken zu lassen. In den Siedlungen setzten sie sich nicht zu den Männern ans Feuer, sondern sprachen mit den Leuten, vornehmlich mit denen, die nicht in den Kreis der Clansführer gehörten. Dies waren vor allem die Frauen und Mädchen sowie die alten Männer.
Wo sie Gelegenheit dazu hatten, begannen sie, eine Karte des Gebietes zu zeichnen. Phelan hatte in der Hoffnung, unterwegs etwas an die Mädchen schreiben zu können, einige Bögen ihres Pergamentes eingesteckt. Dank Syljas und Jorids Geschäftstüchtigkeit hatte er reichlich davon und konnte es sich leisten zu riskieren, dass diese auf der Reise nass und damit verdorben wurden. Jetzt wurden sie umso wichtiger, denn so etwas wie eine Karte hatte es in Saran noch nie gegeben. Bajan musste ihnen erst einmal erklären, wie man anhand von Rittzeiten, Höhenunterschieden und Geländemarken Distanzen berechnete und dies alles noch in eine lesbare Karte umsetzte, doch als sie es erst einmal begriffen hatten, kam ein erstaunlich genaues Bild der Täler und ihrer angrenzenden Gebiete heraus.
Je weiter die Reise ging, desto mehr Details erfuhren sie. Vor allem die Alten konnten sich oft bis zu Beginn der Besiedlung dieser Gegend zurückerinnern und trugen so einen Großteil zu ihren Nachforschungen bei. Phelan legte dem allen den gildaischen Kalender zugrunde, etwas, das er Jeldrik erst einmal erklären musste. Mondzeiten, die Stellungen der Gestirne, dies alles kannte Jeldrik zwar vom Navigieren, doch dass man auch ohne die wenigen heiligen temorischen Feste das Jahr einteilen konnte, das war etwas völlig Neues für ihn.
»Was meinst du, ob die Temorer wohl auch anhand von Sonne, Mond und der Stellungen der Gestirne den Zeitpunkt ihrer Feste festlegen?«, fragte er, die Nase tief in das Pergament mit dem Kalender vergraben.
Phelan konnte nur mit den Schultern zucken. »Ich weiß es nicht. Soll ich Althan schreiben? Er wird es inzwischen bestimmt wissen.«
Jeldrik nickte abwesend. Seine Gedanken waren schon weiter. »Ob die Goi auch so etwas haben?«
Nun war es an Phelan zu spotten: »Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass die Goi über so etwas wie einen Kalender verfügen!«, erwiderte er und verdrehte die Augen. Ein leises Kichern kam hinter ihnen auf. Jeldrik fuhr mit blitzenden Augen herum. Ein paar Mädchen flohen lachend aus dem Raum.
Während draußen am großen Feuer das übliche Palaver stattfand, hatten die beiden sich einen Raum gesucht, in dem sie zum einen ungestört waren, zum anderen eine ausreichend große Fläche und vor allem genügend Licht zur Verfügung hatten, um ihre Pergamente ausbreiten zu können. Dies war wie so oft das Kochhaus, und damit war es mit der Ungestörtheit auch schon wieder vorbei. Es sorgte regelmäßig für Erheiterung bei den Frauen und Mädchen, denn welcher männliche Saraner ließ sich jemals dort blicken, es sei denn, er brüllte irgendwelche Befehle in den Raum?
Besonders die jüngeren Mädchen fanden die beiden unheimlich interessant. Jeldrik begegneten sie mit einer gewissen Scheu, wegen seines Aussehens und seiner Unnahbarkeit, Phelan jedoch.. sobald bekannt war, dass er nicht ein Bastard, sondern der Sohn eines hochstehenden Gastes von Roar war, konnte er sich vor Aufmerksamkeiten kaum noch retten. Er hütete sich, jemals allein in irgendwelche Behausungen zu gehen. Ein Mädchen hatte sogar versucht, ihn zu küssen! Phelan wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken, und er musste die Erfahrung machen, dass saranische Mädchen ganz schön rabiat werden konnten, wenn man anfing, sich zu wehren. Sie gaben nicht so leicht auf. Jeldriks Spott kannte keine Grenzen, als er mit hochrotem Kopf und verfolgt von einem wütenden Kreischen wieder aufgetaucht war.
Es war von Jeldrik sicherlich nicht bösartig gemeint, und da Phelan auch einen leisen Schmerz heraushörte, dass diese Aufmerksamkeiten nicht ihm selbst galten, war er ihm nicht ernstlich gram. Das Thema Mädchen mied Jeldrik aus verständlichen Gründen, wo er nur konnte, und Phelan war nicht undankbar darum.
Phelan umrundete mit gerunzelter Stirn den Tisch. Da sie nie sicher sein konnten, dass sie nicht belauscht wurden, sprachen sie zu zweit ausschließlich Gildaisch. »Es ergibt überhaupt keinen Sinn! So ein..« Den Rest des Fluches schluckte er herunter. Er fluchte ganz schön oft in letzter Zeit, das wollte er sich nicht zur Gewohnheit machen. Zuhause wäre er dafür wahrscheinlich vor die Mönche zitiert worden.
Jeldrik stützte seinen Kopf in die Hände und starrte die Pergamente an, als könne er ihnen irgendeine geheime Formel entlocken. »Wir müssen etwas übersehen haben! Aber was? Wenn wir doch nur.. ja, was ist denn?«, fragte er entnervt auf Saranisch und blickte auf einen Punkt hinter Phelan.
Dieser fuhr herum. Vor ihm stand eine der Töchter des Clansführers, die Älteste, deren Namen er schon wieder vergessen hatte. »Möchtet ihr etwas trinken?« Sie kam an den Tisch heran und hielt ihnen zwei Becher hin, doch diesmal stand nicht Phelan im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit, sondern Jeldrik. Sie war etwas älter als die anderen, und als sie sich leicht zu Phelan umwandte und ihm einfach den Becher hinstellte, sah er ihren leicht gewölbten Bauch. Er zog die Augenbrauen hoch. Jeldrik schoss einen Blick in seine Richtung und wandte seine Aufmerksamkeit so offensichtlich den Pergamenten zu, dass Phelan mit aller Macht ein Grinsen verbergen musste.
»Stell’s einfach hin«, brummte Jeldrik.
»Was ist das?«, fragte Phelan, um sie von Jeldrik abzulenken, und schnupperte an dem Gebräu. Er verzog sofort das Gesicht, bevor sie es ihm sagte.
»Met!«
Phelan lächelte sie freundlich an. »Vielen Dank, aber ich lieber bei Wasser bleibe«, sagte er in seinem gebrochenen Saranisch. »Jeldrik?«
Dieser brummte nur etwas. Mit spöttischem Blick erfüllte sie Phelans Wunsch, Jeldrik dagegen wurde der Becher unter die Nase gehalten. »Probier doch mal!«
Derartig bedrängt, musste er sich nun doch von seinen Pergamenten losreißen. Sie begegnete seinem ungehaltenen Blick mit einem wissenden Lächeln. Phelan zog innerlich die Augenbrauen hoch. ›Was soll das?‹, dachte er, während er Jeldrik probieren sah.
Augenblicklich fing dieser an zu husten. »Was.. bei den Göttern, willst du mich vergiften?!«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Das ist der stärkste Met der ganzen Gegend.«
Phelan grinste. »Das ich glaubte gern.« Er fing sich ein strafendes Funkeln von Jeldrik ein.
Sie schenkte ihm kaum mehr als ein flüchtiges Lächeln und rückte näher an Jeldrik heran. »Vielleicht willst du mal sehen, wie wir ihn machen, Jeldrik Roarsfalir?«
Täuschte Phelan sich, oder war da eine deutliche Aufforderung in ihrer Stimme zu hören? Und drückte sie nicht ein wenig ihr Kreuz durch, damit ihr Bauch besser zu sehen war? Phelan hielt die Luft an.
Wie gut Jeldrik sich inzwischen beherrschen konnte, sah man, als er mit gleichgültiger Miene und einem milden Desinteresse in der Stimme antwortete: »Danke, nein. Wir haben hier noch zu tun.« Er schob den Becher zurück.
Mit allem konnte sie umgehen, nur diese zurückhaltende, fast gildaische Höflichkeit, damit hatte sie nicht gerechnet. Ein Saraner hätte ihr Angebot offen angenommen oder aber sie barsch abgewiesen. Sie war merklich irritiert, doch da sie offensichtlich erkannt hatte, dass sie so nicht weiterkam, sah sie auf die Pergamente. »Was macht ihr hier eigentlich?«
Bevor sie sehen konnte, wie Jeldrik entnervt die Augen rollte, sagte Phelan schnell: »Wir machen eine Plan.« Und er traktierte sie mit einer schnellen Folge von Zahlen und Fakten, die sie schon nach wenigen Augenblicken aus dem Kochhaus vertrieb.
»Puh..« Jeldrik wurde rot, und Phelan fiel vor Lachen fast von seinem Sitz. Er hielt sich die Seiten. Jeldrik fand das gar nicht witzig. »Ich fasse es nicht!«, rief er auf Gildaisch.
»Wer die wohl geschickt hat?«, prustete Phelan und wurde sofort ernst, als er den zornigen Ausdruck in Jeldriks Augen sah. »Entschuldige«, murmelte er betreten und schob die Pergamente herum.
»Schon gut.« Auch Jeldrik wandte sich wieder den Pergamenten zu, doch nach einer Weile sagte er: »Ich glaube, es war der Clansführer.«
»Nicht ihre Mutter?«
»Nein. Sie ahnt bestimmt, dass ich noch nicht eingewiesen bin. Nein, ich glaube, es war ihr Vater.« Jeldrik fiel in düsteres Schweigen.
Phelan betrachtete ihn eine Weile forschend. So etwas wie eben war noch nie vorgekommen. Es war bestimmt schmerzhaft für Jeldrik zu erfahren, dass es nur die Stellung seines Vaters war, die das Mädchen zu ihm hatte kommen lassen. Nicht zum ersten Mal war Phelan bewusst, wie sehr Jeldrik sich im letzten Winter verändert hatte. Er sah erheblich älter aus als seine fünfzehneinhalb Jahre, hatte er doch bereits Roars Größe, wenn auch nicht seine Massigkeit erreicht. Er glich vielmehr seiner Schwester, hatte lange, schlanke Glieder, die ihm etwas unverkennbar Schlaksiges verliehen. Das war es wohl auch, was die Frauen sein wahres Alter erraten ließ. Die Männer dagegen ließen sich von seiner Größe und vor allem von seiner tiefen Stimme täuschen, zumal ihm bereits ein dichter blonder Bart wuchs, den er wie alle Saraner nicht schnitt. Phelan strich in einer unbewussten Geste über sein glattes Kinn und seufzte innerlich. Bei ihm war davon noch nichts zu sehen, keine tiefe Stimme, kein Bart, nur größer war er geworden, und sein Körper entwickelte ein Eigenleben.. schnell verdrängte er den Gedanken, bevor er rot wurde. Stattdessen versuchte er, Jeldrik aus seinem düsteren Schweigen zu holen.
»Weißt du, ich kann verstehen, warum mein Bruder versucht hat, seine Identität in der Stadt und der Heerschule zu verbergen.«
Jeldrik seufzte. »Könnte ich das doch auch!« Er ballte seine versehrte Hand zur Faust und zuckte prompt zusammen. Ungewohnt heftig fuhr er fort: »Ich würde fortgehen und..« Sein Gesicht verzog sich zu einer düsteren Grimasse.
»Und was?«, fragte Phelan mit angehaltenem Atem. Würde er sich endlich einmal offen zeigen?
Er tat es nicht. »Nichts!« Schnell verbarg Jeldrik seine Gefühle hinter seiner beherrschten Miene und deutete auf die Pergamente. »Wir müssen etwas übersehen und..« Schon wieder wurden sie unterbrochen.
Bajan kam herein und griff sich ohne zu fragen Phelans Wasserbecher. »Dieses Gebräu ist wahrhaft teuflisch! Sie sind zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig.« Er ließ sich auf einen Schemel fallen, tat einen tiefen Zug und sah die Jungen forschend an. »Euer Besuch ist ja nicht lange geblieben. Ich hoffe, ihr wart nicht allzu unhöflich!«
»Keine Sorge«, antwortete Phelan an Jeldriks statt, dessen Miene sich schon wieder verdüsterte. »Ich habe versucht, ihr zu erklären, was wir hier machen. Das hat sie vertrieben.«
Bajan nickte verstehend. »Gut so. Sie wollte nicht herkommen, aber ihr Vater hat sie dazu gezwungen. Offensichtlich gibt es wohl ein Problem mit dem Vater ihres Kindes.«
»Oh, können wir nicht davon aufhören?«, rief Jeldrik und sprang auf. »Fürst, wir kommen nicht weiter. Vielleicht wisst Ihr noch einen Rat.«
Bajan rieb sich über das müde Gesicht. »Heute nicht mehr, mein Junge, hab Nachsicht mit mir. Ich denke, ich werde jetzt schlafen gehen, und ich rate euch, das auch zu tun. Morgen müssen wir an einer sehr gefährlichen Stelle vorbeireiten, da brauchen wir alle unsere volle Aufmerksamkeit.«
Jeldrik presste die Lippen zusammen und verließ sie ohne ein weiteres Wort. Phelan seufzte: »Warum nur sind sie so dumm und versuchen etwas so Offensichtliches? Es..«
Er wurde von Bajan unterbrochen: »Phelan, du warst noch nicht alt genug, als du aus Gilda fortgehen musstest, aber lass dir versichern, du und dein Bruder, ihr wäret in dieselbe Lage gekommen, wenn auch auf gildaische Weise. Oder hast du bei seiner Geburtstagsfeier etwa nicht bemerkt, dass..«
»Natürlich, aber die Mädchen empfanden keine Abscheu vor ihm.«
Jeldrik suchte schnell das Weite, doch Phelans Worte hallten in ihm nach wie jene schmerzhaften Stiche, die ihm seine verletzte Hand immer noch bescherte. Wütend warf er sich auf sein Lager. Es traf ihn. Noch nie hatte er sich über sein Aussehen Gedanken gemacht, denn galten nicht Narben in seinem Volk als Zeichen der Ehre? Hatte Phelan recht? Oder war es vielmehr seine sorgsam aufrecht erhaltene Unnahbarkeit, welche die Mädchen zurückweichen ließ? Offensichtlich hatte er sich in eine Falle manövriert, als er nur höflich hatte sein wollen, so wie Bajan, dem das eine Menge Türen öffnete. Sie jedoch hatte das als Aufforderung verstanden zu bleiben. Er presste die Lippen zusammen. Dies würde ihm bestimmt nicht ein zweites Mal passieren!
Jeldrik fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Immer wieder ging er das Erlebte durch und kam nur auf eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken. Als sie sich am folgenden Morgen zum Aufbruch fertigmachten, war seine Laune entsprechend. Die Clansführertochter wagte einen neuen Versuch, sich ihm anzunähern, und diesmal fing sie sich eine derart eiskalte Abfuhr ein, dass Phelan ihn sprachlos anstarrte und Bajan tadelnd den Kopf schüttelte. Sie jedoch fauchte nur etwas Wütendes in seine Richtung und ließ ihn stehen, und ihre Eltern verabschiedeten sich sogar in aller Hochachtung von ihm. Er hatte in wahrhaft saranischer Manier seine Entscheidung kundgetan. Es wurde von allen Seiten akzeptiert, und damit hatte es sich erledigt. Warum nur hatte er dann so ein schlechtes Gewissen? War es das knappe Jahr mit Bajans Unterricht, das ihn plötzlich anderes denken ließ?
Den ganzen Vormittag ritt Jeldrik in brütendem Schweigen dahin, selbst Bajan drang nicht zu ihm durch und ließ ihn schließlich in Ruhe. Er schloss sich den beiden Männern an, sodass die Jungen allein am Schluss der Gruppe ritten.
Jeldrik wurde von einem merkwürdigen Geräusch aus seinen Gedanken geholt. Er wandte den Kopf. Etwas strich an seinem Ohr vorbei. Noch bevor er das Sirren bewusst wahrgenommen hatte, fiel der vor ihm reitende Mann getroffen zu Boden.
Die Jungen waren bereits von ihren Pferden herunter, als die ersten Warnrufe durch den Wald hallten. Philine stieg, und Phelan gelang es gerade noch, sein Bündel von ihr herunterzureißen, da stob sie auch schon davon. Es geschah alles so schnell, dass Phelan erst gewahr wurde, was geschah, als sie hinter einem umgefallenen Baumstamm in Deckung gingen. Rasch zerrte er sein Schwert aus seinem Fellbündel. Jeldrik hielt sein Schwert schon in der Hand und spähte über den Baumstamm. Weiter vorne zogen Bajan und der zweite von Roars Männern, der immer bei ihnen ritt, den Verletzten in Deckung, da ging plötzlich ein Pfeilhagel auf sie nieder. Hastig verkrochen sie sich unter dem Baumstamm.
»Verdammt, wo ist mein Bogen?«, zischte Jeldrik über das Gebrüll ihrer Feinde hinweg.
»Ich habe meinen auch verloren.. Achtung!« Ein dunkler Schatten sprang über sie hinweg, in Richtung der Männer. Offenbar hatte er die Jungen gar nicht gesehen, denn er hielt nicht inne. Phelan sah nur stämmige Beine, schmutziges Fell und ein hinter einer Tiermaske verborgenes, dunkles Gesicht, dann war er auch schon vorbei. Von weiter vorne hörten sie Kampfgeräusche und teils wütendes, teils schmerzhaftes Gebrüll. Ein neuer Schatten sprang über sie.. und noch einer.. und noch einer.. beide Jungen kämpften mit sich.
Die Anweisungen von Bajan und Roar waren deutlich gewesen. Sie durften zwar für alle Fälle ihre Schwerter mit sich führen, aber sollten sie angegriffen werden, dann hatten sie schleunigst Deckung zu suchen und sich nicht mehr zu rühren. Was sich in der Theorie ganz einfach anhörte, war in Wahrheit gar nicht mehr so einfach, als immer mehr Feinde über sie hinwegsetzten.
Jeldrik und Phelan sahen sich an und erkannten in den Augen des anderen denselben Wunsch. Ohne dass sie ein Wort wechselten, krochen sie zusammen unter dem Baumstamm durch, als soeben der letzte Feind über sie hinwegsprang. Sie richteten sich vorsichtig auf und erspähten durch die Bäume dichtes Kampfgetümmel.
»Sieh doch!« Phelan stieß Jeldrik an. Da sah auch er es: Einige der Goi hatten hinter den Bäumen Stellung bezogen und spannten ihre Bogen. »Sie wollen ihnen in den Rücken schießen!«, rief Phelan und packte sein Schwert fester.
Jeldrik sah rasch hinter sich. Nein, von dort kamen tatsächlich keine Feinde mehr. »Los, erledigen wir sie. Beeilung!«
Sie schlichen vorwärts, immer in Deckung der dichten Farne und Bäume bleibend. Jetzt feuerte der erste Goi seinen Bogen ab und traf. Jeldrik zischte wütend und ruckte mit seinem Kopf. Phelan verstand, sie teilten sich. Lautlos und unsichtbar kroch Phelan weiter und näherte sich dem ersten Goi. Er streckte ihn mit einem sauberen Stich in den Rücken nieder und zerrte den schweren Mann zu sich in den dichten Farn. Den Bogen seines Gegners nahm er an sich und ließ ihn gleich wieder fallen. Viel zu ungewohnt zu handhaben, damit würde er nie treffen. Er sah sich rasch nach Jeldrik um, aber der war nirgends zu sehen, oder.. doch, da hinten fiel plötzlich ein Goi zu Boden und wurde von einer hellen Hand in die Farne geschleift. Phelan merkte sich Jeldriks Standort und beschloss, sich die andere Seite der Schützen vorzunehmen.
Zwei weitere Schützen erledigte er genauso lautlos und unauffällig wie den ersten, der vierte jedoch stand an einer fast freien Stelle hinter einem Baum. Es gab keine Möglichkeit für ihn, sich unbemerkt anzuschleichen. Verdammt, warum hatte er nur seinen Bogen nicht dabei?
Der Goi legte an. Phelan folgte seiner Zielrichtung und erschrak. Der Pfeil zielte auf Bajan, der eben einen Gegner tötete und zwei weitere von sich abhielt. Hätte Phelan die Zeit gehabt, er hätte dem Fürsten wohl bewundernd zugesehen. Noch nie hatte der Fürst gezeigt, wozu er wirklich fähig war. Er war schnell, viel schneller als alle, die Phelan bisher gesehen hatte, selbst in der Heerschule, und er war ein absolut todbringender Gegner. Kein Hieb, kein Stich und keine seiner Bewegungen waren vergebens. Es war alles minutiös geplant, darauf ausgelegt, möglichst viel Kraft zu sparen, denn so, wie er kämpfte, lenkte er die Masse der Gegner auf sich, und zwar mit voller Absicht.
Phelan blieb keine Wahl. Er rannte lautlos auf den zielenden Goi zu, doch dieser musste den Schatten in seinen Augenwinkeln gesehen haben, denn er fuhr herum und feuerte einen unkontrollierten Schuss in seine Richtung. Phelan machte einen Sprung vorwärts, rollte sich ab und kam fast unterhalb des Goi wieder auf die Füße, nah genug, um ihm sein Schwert zwischen die Rippen zu rammen. Durch den Schwung wurde der Goi zurückgeworfen. Er taumelte und fiel über eine Baumwurzel, direkt auf die Lichtung, auf der die Männer kämpften.
Phelan brauchte die Warnschreie ihrer Gegner nicht hören, um zu wissen, dass er jetzt entdeckt war. Er hechtete zurück in das Dickicht der Farne, doch zu spät. Schon hörte er Schritte hinter sich, und eine Waffe fuhr zischend dort hindurch, wo er sich eben noch befunden hatte, mähte nieder, was ihm zur Deckung diente. So schnell er konnte, kroch er vorwärts, wohl wissend, dass die Bewegung der Farne den Goi genau verriet, wohin er floh. Er brauchte ein Versteck, schnellstens. In seiner Panik verlor jegliche Orientierung, und wäre er nicht plötzlich in ein Erdloch eingesackt und hingeschlagen, die Streitaxt, die zischend über ihn hinwegfuhr, hätte ihm wohl den Kopf gespalten. Nun handelte Phelans Instinkt. Er gab seine Deckung auf, sie war nur zum Nachteil für ihn. Er warf sich auf den überraschten Goi und streckte ihn mit einem Streich seines Schwertes nieder. Noch während er sich drehte, sah er, dass er zwei weitere Gegner hatte. Sie drangen mit ihren Äxten auf ihn ein, sodass Phelan es Jeldrik gleichtun und auch seine andere Hand zu Hilfe nehmen musste. Er stützte die Klinge auf der stumpfen Seite, nutzte seine Hand als Hebel, um ihre gewaltigen Streiche zu parieren und seiner Klinge mehr als einmal eine überraschende Wendung zu geben. Zum Glück beherrschte er diese Art des Kampfes wie im Schlaf. Er landete einen tödlichen Treffer bei dem einen Goi, verletzte den anderen, aber dann sah er aus den Augenwinkeln einen Schatten auf sich zusausen. Er duckte sich, doch zu spät: Ein schmerzhafter Hieb an seinem Kopf ließ ihn schwarz vor Augen werden.
Jeldrik hatte sich schon fast an Phelan und seine Gegner herangearbeitet. Er war zu langsam, weil er darauf achten musste, nicht gesehen zu werden. Als er sah, wie Phelan zusammenbrach und einer der Goi einen großen Stein fallen ließ, sich auf seinen Freund warf und ihm die Kleider herunterzerrte, vergaß er alle Vorsicht. »Phelan, nein!« Er stürmte vorwärts, warf sich zwischen ihre Gegner. Seine Größe und Kraft verliehen ihm eindeutig einen Vorteil. Er schaffte es, sie von dem blutüberströmten Phelan wegzulocken.
Die Männer Roars bemerkten die Veränderung, als ihre Gegner überraschend zurückwichen. Von weiter hinten waren Kampfgeräusche zu hören. Roar hielt inne, seine Gegner zu verfolgen. Irritiert starrte er durch die dichten Bäume und sah in all den Schatten eine wirbelnde, helle Haarmähne. War das etwa sein Sohn, der sich dort gegen eine Horde Goi zu wehren versuchte? Brüllend stürmte er vorwärts, und es war wohl der Anblick des massigen Saraners, der die Goi derartig ablenkte, dass Jeldrik nur noch einen von ihnen töten konnte, bevor sie die Flucht antraten. Roar kümmerte sich nicht um sie, er rannte zu seinem Jungen, der auf die Knie gefallen war und den Goi mit brennenden Augen hinterher sah.
Jeldrik stöhnte auf, als jeder der fliehenden Gegner noch einen Tritt oder Hieb dort platzierte, wo Phelan liegen musste. Einer von ihnen bückte sich sogar, riss etwas Blutiges an sich und folgte erst dann seinen Leuten. »Phelan, nein!« Es war nur noch ein flüsterndes Krächzen. Er rappelte sich auf.
Im selben Moment packte ihn sein Vater. »Bist du wahnsinnig?!«, brüllte er. Jeldrik wandte wie betäubt den Kopf, doch sein Blick blieb weiter an der Stelle im Farn hängen, wo sein Freund liegen musste. Er wurde geschüttelt, und dies war es, das ihn wieder zu sich brachte. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Roar leise und eindringlich, seinen Jungen besorgt nach irgendwelchen Verletzungen absuchend.
Jeldrik war diese plötzliche Fürsorge und Nähe unheimlich. Er befreite sich mit einem Ruck. »Ja, geht schon.. Phelan!«, brüllte er und stürmte zu der Stelle, wo er ihn vermutete. Keinen Moment später starrte er fassungslos auf seinen Freund herab, rang die Hände, als er den blutüberströmten Körper sah und den tiefen Hieb an der Stelle seines Armes, wo sonst sein Messer saß.
Bajan schob ihn zur Seite. »Phelan!« Er tastete ihn schnell ab, suchte seinen Herzschlag und schloss erleichtert die Augen, als er ihn fand. »Er lebt!« Rasch riss er Phelans Hemd entzwei und band mit einem Streifen die Wunde an seinem Arm ab.
Jetzt waren auch die anderen Männer heran. »Sie fliehen das Tal hinauf. Sollen wir sie verfolgen?«
»Nein, lasst sie ziehen. Haben sie unsere Pferde?«
Phelan begann zu stöhnen, als er das Stimmengewirr um sich herum hörte. Er kämpfte darum, wieder vollständig das Bewusstsein zu erlangen.
»Nein, die Pferde nicht, aber jede Menge Beute.. sie kommen wohl gerade aus einer Siedlung.« Phelan schlug die Augen auf, erkannte verschwommen über sich Jeldriks Gesicht und wurde dann von dem aufschießenden Schmerz in seinem Körper bewusstlos.
Spät in der Nacht kam er wieder zu sich. Sein Durst war es, der ihn weckte, und es war eine weibliche Stimme, die sagte: »Hier, trinken..« Er spürte eine Hand im Nacken und schluckte reflexartig das kühle Wasser, das er an seinen Lippen spürte. Es half. Er schlug die Augen auf und sah über sich die Balkenverstrebungen einer Hütte. Keinen Augenblick später hatte er auch das junge Mädchen gesehen, das seinen Kopf langsam wieder losließ. Eine Ethenierin. »Danke.« Seine Zunge fühlte sich an, als wäre sie eine ganze Handbreit dick.
Das einfache Wort ließ sie unsicher und scheu werden. Dergleichen war sie wie alle Sklaven nicht gewohnt. Phelan wollte seinen Arm heben und ihr den Becher abnehmen, doch er konnte nicht. Seine Arme ließen sich nicht bewegen. Beunruhigt versuchte er, sich aufzusetzen, aber auch das ging nicht. Er ruckte verwirrt mit dem Kopf und fühlte einen dumpfen Schmerz. »Nein, nicht bewegen!« Sie drückte ihn zurück.
»Was..« Phelan begann, sich gegen ihren Griff zu wehren. Sie gab einen erschrockenen Laut von sich, bei dem in der Hütte augenblicklich Bewegung entstand. Eine kräftige, dunkel behaarte Hand drückte ihn jetzt nieder, und Phelans Augen fanden ein neues Ziel. »Fürst..«
»Ganz ruhig, mein Junge.« Bajan sah auf ihn herab, eindringlich forschend.
Phelan beruhigte sich sofort. »Was..?«
»Ist er wach?« Da war noch jemand neben ihm. Phelan sah nur eine helle Fläche, dann verschwamm sein Blick schon wieder.
»Ich weiß es nicht. Phelan, hörst du mich? Nein, nicht wieder bewusstlos werden!«, befahl Bajan streng, aber schwang da nicht etwas anderes in seiner Stimme mit? Besorgnis? Schmerz?
Dies machte Phelan endgültig wach. »Nein..« Warum konnte er nicht reden? »Männer.. alle.. in.. Ordnung?«
»Ganz ruhig, wir haben niemanden verloren. Sag mir, wie viele Gegner hast du getötet?«, forderte Bajan.
Phelan runzelte die Stirn, dachte nach und antwortete prompt: »Fünf.. nein, sechs! Oh Gott, mir wird schlecht!« Ihm kam die bittere Galle hoch. Er begann zu würgen. Etwas zerriss, als er sich aufbäumte, jemand stützte ihn, und eine Schale wurde ihm unter die Nase gehalten. In seinem ganzen Körper pochte es, und jede seiner Bewegungen ließ einen dumpfen Schmerz in ihm aufschießen. Dieser war irgendwie noch nicht richtig zu spüren, er musste wohl betäubt sein. Dies alles begriff er noch, bevor er wieder ins Dunkel sank.
Als er das nächste Mal wieder wach wurde, strömte warmes Sonnenlicht in die Hütte. Eine Weile starrte er, noch nicht richtig wach, fasziniert auf die tanzenden Staubkörner. Von draußen drangen Geräusche herein, spielende Kinder, Frauenstimmen, das Gebrumm einiger Männer und weiter entfernt Lärm, den er nicht einordnen konnte. Phelan wandte den Kopf, er wollte sehen, ob er alleine war. Keine gute Idee, wie er sogleich feststellte. Die Bewegung sandte ihm Wellen des Schmerzes durch seinen Köper und tanzende Blitze in seine Augen.
Schwer atmend und mit aller Macht ein Stöhnen unterdrückend, blieb er regungslos liegen und wartete, dass der Schmerz nachließ. Es dauerte lange, doch irgendwann konnte er wieder gefahrlos die Augen öffnen.
Er war tatsächlich allein. Gelegenheit genug, eine Bestandsaufnahme seines Körpers zu machen. Hände und Füße waren noch da. Er konnte sie bewegen. Unendliche Erleichterung durchfuhr ihn. So schwer hatte es ihn also doch nicht erwischt, dachte er und beging den Fehler, seinen linken Arm zu heben. Er stöhnte erneut vor Schmerz auf, sein Arm fiel kraftlos auf das Lager zurück. Schwer atmend versuchte er sich zu erinnern, wie er hergekommen war. Es gelang ihm nicht. Seine letzte Erinnerung war ein dunkler Schatten, der ihm den Schädel zertrümmerte, und genauso fühlte sich dieser auch an.
›Na los, nun sei keine Memme!‹, befahl er sich und versuchte ansatzweise, den Kopf zu heben. Augenblicklich verlagerte sich der Schmerz in seine Brust. Er ließ den Kopf zurücksinken. Er konnte sich tatsächlich nicht bewegen! Das durfte nicht wahr sein! Was sollte er tun? Konnte er die Beine anziehen? Er konnte, es tat zwar weh, war aber zu ertragen. Von seinem Lager schwingen.. halb rollte, halb hievte er sich in eine aufrecht sitzende Haltung und musste geraume Zeit schwer atmend sitzen bleiben, weil ihm wieder schwarz vor Augen wurde. Als sein Blick sich klärte, konnte er zum ersten Mal an sich heruntersehen. Der Brustkorb bandagiert, ein Arm in der Schlinge und am Oberarm einen dicken Verband, und wie es sich anfühlte, auch an seinem Kopf.
»Oh je, dich hat es ganz schön erwischt, Phelan von Morann!«, sagte er laut und zu seiner Erleichterung deutlich. Es tat gut, seine eigene Stimme wieder zu hören. Neben sich entdeckte er einen Becher. Es gelang ihm, mit seiner einigermaßen unverletzten Rechten danach zu greifen und einige Schlucke daraus zu trinken, ohne dass ihm schlecht wurde.
Danach ging es ihm etwas besser. Er nahm den nächsten Schritt in Angriff, das Aufstehen. Es brachte ihn fast zu Fall, so schwindelig wurde ihm. Er befahl sich, langsam vorzugehen, und schließlich, Stunden später, wie es ihm vorkam, lehnte er schwer atmend in der Einfassung der Tür und sah hinaus.
Er befand sich in einer Siedlung, soviel war ihm schon durch die Stimmen klar gewesen. Niemand war in seiner unmittelbaren Nähe. Nein, die Stimmen kamen alle aus einer Richtung, von dort, wo noch immer dichter Qualm durch die Siedlung zog und er verschwommene Gestalten einen Trümmerhaufen auseinander räumen sah. Erst jetzt nahm er den intensiven Brandgeruch wahr, den er in der Hütte einfach für den Rauch eines schlecht abziehenden Feuers gehalten hatte. Dies musste die Siedlung sein, welche die Goi überfallen hatten, und offensichtlich war es noch nicht lange her.
Von der anderen Seite der Hütte ertönte ein leises Wiehern. Phelan wandte langsam und ganz vorsichtig den Kopf. Dort hinten waren Pferde unter den Bäumen angebunden, und zwischen ihnen.. »Philine!« Er war erleichtert. Nicht auszudenken, wenn die Goi sie bekommen hätten! Konnte er es wagen, zu ihr zu laufen? Er sah wieder hinüber – langsam, Phelan, nur keine rasche Bewegung! – zu den rauchenden Trümmern. Niemand beachtete ihn, dann war es auch nicht so schlimm, wenn er fiel. Einen Versuch war es wert.
Hinterher wusste er nicht mehr, wie er das geschafft hatte. Als er halbwegs wieder zu sich kam, saß er an einen Baumstamm gelehnt im warmen Sonnenschein. Seine Stute schnaubte ihm zärtlich ins Gesicht.
»Bin ich froh, dass sie dich nicht bekommen haben!« Den Arm zu heben war zu schwierig, also schmiegte er einfach seine Wange an ihre weichen Nüstern und schmuste mit ihr. Es tat ihm gut, und er war in der Lage, wieder über die Ereignisse nachzudenken. Die Goi hatten ihn besiegt und sie hatten.. Phelan runzelte die Stirn. Etwas war anders, mal abgesehen davon, dass er sich völlig zerschlagen fühlte. Was war das nur? Er hatte doch noch alle.. reflexartig fuhr seine gesunde Hand an die Stelle, wo sonst sein Messer saß. Es war weg! Hatte die Heilerin es abgenommen? Oder etwa.. »Oh nein!«, flüsterte er, als er ahnte, dass es fort war. Dies war eines der Dinge, die ihn mit Althea und Currann verband, sie waren identisch und trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen. ›Sei froh, dass du am Leben bist!‹, mahnte er sich, doch der Schmerz blieb. Er konnte sich nicht erinnern, was nach dem Kampf geschehen war, und während er es noch versuchte, dämmerte er langsam weg.
»Phelan!« Ein Ruf holte ihn wieder zurück. »Wo ist er hin?! Jeldrik, ich habe dir doch gesagt, du sollst bei ihm bleiben!«
»Jemand hat mich um Hilfe gebeten, Fürst.. Ich werde ihn suchen!«
»Ich bin hier!«, wollte Phelan rufen, doch er brachte keinen Ton heraus. Sein Mund war wie ausgedörrt. Wie lange hatte er hier in der Sonne gesessen? Seine Haut brannte geradezu.
»Phelan!« Er hörte hastige Schritte auf sich zukommen. »Bei den Göttern, was machst du denn?! Du sollst doch nicht aufstehen!«
»Das habt ihr mir nicht gesagt«, brachte Phelan nur undeutlich hervor. Er machte die Augen auf und blinzelte in die helle Sonne. Es dauerte eine Weile, bis er vor sich Jeldriks besorgtes Gesicht erkennen konnte. »Ich hab’ Durst.«
»Das glaube ich! Du bist feuerrot, wo du das noch sein kannst.«
Phelan runzelte die Stirn, zumindest versuchte er das. Es ging seltsam schwer. »Was.. wo ich das noch sein kann? Was meinst du damit?«, nuschelte er.
In Jeldriks Augen leuchtete etwas auf, das Phelan nicht zu deuten wusste. Er wurde gepackt, sanft, aber doch mit aller Kraft. »Wo soll ich anfangen? Sie haben dir fast den Schädel eingeschlagen, zwei Rippen und den Arm gebrochen und dich im Übrigen zu Brei.. he, nicht einschlafen! Komm, ich bringe dich zurück.«
Phelan wollte seine Hände fortschieben. Es gelang ihm nicht. »Wehe, du trägst mich!«, drohte er, während Jeldrik ihn auf die Füße hievte und er sich auf ihn stützen musste, weil ihm wieder schwindelig wurde.
»Keine Sorge, das werde ich nicht. Helft mir mal!«, rief er laut.
Keinen Augenblick später prasselten teils wütende, teils besorgte Stimmen auf ihn ein. Phelan beschloss, lieber die Augen zu schließen und es zu ignorieren. Er gab keinen Laut von sich, selbst als sein Körper protestierte, weil er wieder hingelegt wurde.
»Lasst ihn in Ruhe.« Die ruhige Autorität Bajans ließ die Stimmen verstummen und verschaffte Phelan eine Atempause. Er bekam einen Becher an die Lippen gesetzt und schluckte reflexartig. Dann lag er still. Nach einer Weile hörte er neben sich ein Rascheln. »Komm, Jeldrik, lassen wir ihn schlafen.«
»Nein, ich bleibe!«
»Wie du willst.«
Schritte entfernten sich. Phelan atmete auf. Jetzt erst, als der Fürst fort war, ließ die Anspannung nach, ja keine Schwäche zu zeigen. Er begann wegzudämmern, aber da tupfte ihm jemand eine wunderbar kühlende Flüssigkeit auf die Stirn. Er blinzelte und sah über sich statt Jeldriks das dunkle Gesicht der Ethenierin. Der Versuch eines Lächelns misslang ihm gründlich. Ihre Hand zuckte zurück. »Wie heißt du?«
Auf der anderen Seite des Raumes entstand Bewegung. Schon kniete Jeldrik bei ihm und vertrieb sie damit. ›Schade‹, dachte Phelan und wollte Jeldrik zurückhalten, da sah er dessen Miene. So hatte er ihn noch nie gesehen, so zerfurcht und verzagt. Jeldrik sah ihn nicht einmal an, er zupfte nur verlegen an seiner Decke herum und sagte keinen Ton.
»Was ist mit dir?«
Jeldrik schüttelte heftig den Kopf, als wolle er das unter keinen Umständen an sich heranlassen. »Wie fühlst du dich?«
»Bescheiden«, murmelte Phelan und ließ ihn nicht aus den Augen. Diese Miene trug er doch nicht etwa wegen ihm? »Keine Sorge, es wird schon wieder«, versuchte er ihn aufzumuntern und wollte nach Jeldriks Hand greifen. Jeldrik packte so hart zu, dass Phelan sich vor Schmerz aufbäumte und wieder bewusstlos wurde.
Als er Jeldrik das nächste Mal erblickte, spät in der Nacht, war es, als hätte jemand mit einem Schwamm jegliche Art von Regung aus dessen Gesicht getilgt. Es wirkte starr, wie er an der gegenüberliegenden Hüttenwand auf seiner Schlafstelle lehnte. Selbst im trüben Schein der Talglichter konnte Phelan es gut erkennen. Was war nur passiert?
Phelan bewegte versuchsweise seinen Kopf. Es ging ihm besser. Kein Schädeldröhnen mehr. Er stemmte sich auf seinen gesunden Arm. Die Knochen schmerzten dann doch noch, und er hatte Durst. Wo war der Becher? Er sah sich suchend um, und da kam auch schon ein Schatten aus dem Dunkeln auf ihn zu. Die Ethenierin gab ihm etwas zu trinken. Er setzte zu einer Frage an, doch sie schüttelte den Kopf, einen wachsamen Blick in Jeldriks Richtung werfend. Hatte sie Angst vor ihm? Es musste so sein. Alle Ethenier hatten Angst vor Jeldrik, obwohl er ihnen nie etwas tat. Es musste mit seinem Aussehen zusammenhängen, vielleicht waren es auch die Augen, denn Phelan hatte dasselbe Verhalten Jorid gegenüber beobachtet.
Die Ethenierin drückte ihn zurück auf sein Lager, und diesmal gehorchte Phelan. Er dankte ihr mit einem Lächeln und schlief wieder ein.
Das nächste Mal war er richtig wach. Es war noch nicht hell, dämmerte aber schon. Jeldrik schlief immer noch an die Wand gelehnt.
Phelan hatte schon wieder Durst. Wo hatte sie nur den Becher gelassen? Ah, da stand er, neben seinem Lager. Er streckte vorsichtig den Arm aus, und eben in dem Moment, als er zupacken wollte, schoss der Schmerz quer durch ihn hindurch. Er zuckte so heftig zusammen, dass er den Becher umwarf.
Jeldrik war sofort wach. »Warte, ich helfe dir!«
Forschend betrachtete Phelan ihn, während er trank, und Jeldrik musste es bemerken, denn er sah ihm nicht in die Augen, sondern zupfte wie schon in der Nacht zuvor verlegen an seiner Decke herum. Phelan fand es merkwürdig. Der Jeldrik, wie er ihn sonst kannte, hätte niemals etwas von seinen Gefühlen sehen lassen, es sei denn, man brachte ihn aus der Fassung. Und er wäre auch nicht so nahe bei ihm geblieben. Nein, es schien, als riefe er geradezu danach, dass Phelan ihn fragte. Aber wie? Und warum? Phelan verstand es nicht. Er ließ sich langsam auf sein Lager zurücksinken. Besser, er näherte sich ihm erst einmal an, dachte er und ahnte nicht, dass er sofort ins Schwarze traf:
»Ich hatte einen sehr merkwürdigen Traum.«
Jeldrik hielt mit seinen Verrichtungen inne. »Was für einen Traum?« Noch immer schaute er ihm nicht in die Augen.
»Der Fürst hat mich gefragt, wie viele Männer ich getötet habe, immer und immer wieder. Ist das nicht merk.. Jeldrik?« Phelan machte den Fehler, ihn zu berühren. Jeldrik drehte sich abrupt weg. Der Laut, den er dabei ausstieß, sagte Phelan alles. »Hast du Ärger bekommen wegen mir?«
»Ärger?« Es klang erstickt.
Phelan erschrak. Jeldriks Schultern zuckten ja! Er weinte! »Sag mir, was er getan hat!«, rief er erschrocken.
»Oh ja, ich habe Ärger bekommen.« Jeldrik atmete tief durch, und dann wandte er sich um. Seine Augen schimmerten so intensiv, dass es wehtat hineinzusehen. »Weil ich so dumm war, mich einzumischen und glaubte, ich könne etwas tun.« Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
»Ja, aber du warst doch genauso gut wie ich!« Phelan schüttelte ungläubig den Kopf und zuckte prompt zusammen.
Jeldrik half ihm sofort, er stützte ihn. »Das hat mein Vater aber nicht gesehen. Er kam hinzu, als ich in einer Horde Goi unterging. Das und mehr nicht. Wir haben zwölf Männer getötet, und bis auf den Letzten schreibt er alle dir zu. Dieser war ein Zufall, das Glück eines.. D..Dummen, das hat er gesagt.«
»Aber, das darf doch nicht..« Phelan verschlug es die Sprache. Er legte seine Hand ganz vorsichtig auf Jeldriks Schulter, und diesmal ließ er es zu. »Warum sagst du es ihm nicht.. entschuldige«, lenkte er sofort ein. Das konnte Jeldrik nicht, ohne als angeberischer Schwächling dazustehen. »Nur Fürst Bajan ahnt, dass dein Vater sich täuscht? Deswegen hat er mich gefragt? Das ist nicht gerecht!«, rief Phelan so heftig, dass ihm wieder schwindelig wurde. Er musste ein Stöhnen unterdrücken.
»Vorsicht, leg dich hin!« Die Sorge um Phelan lenkte Jeldrik etwas von seinem eigenen Nöten ab.
Aufatmend lehnte sich Phelan zurück. »Was hat er getan?« Jeldrik presste die Lippen zusammen. Seine Narbe grub einen tiefen Keil in sein Gesicht und verzerrte seine Züge, so sehr versuchte er, sich unter Kontrolle zu bekommen. Vergebens. Er schaffte es nicht. »Sag es mir!«, befahl Phelan leise.
»Er.. er hat mir eine Abreibung verpasst, vor all seinen Männern. Niemand hat mir geholfen, auch Bajan nicht«, brach es aus Jeldrik hervor.
»Das konnten sie nicht, ohne ihm damit in den Rücken zu fallen«, sagte Phelan, auch wenn es ein geringer Trost war. »Ich werde mit ihm reden und..«
»Nein! Er wird nicht auf dich hören. Niemand wird es dir glauben, sie werden denken, das ist nur ein gut gemeintes Hilfsangebot, weil.. weil ich Schwächling mich todesmutig dazwischen geworfen habe! Lass es sein, ich bitte dich!« Jeldrik hatte Phelans Schulter gepackt und drückte so fest zu, dass es ihm fast zu viel wurde.
Phelan ignorierte den Schmerz einfach. »Du hast mir das Leben gerettet«, flüsterte er und zog Jeldrik zu sich heran. Es zerbrach den letzten Widerstand in seinem Freund. Alle Selbstbeherrschung war dahin, seine Gefühle lagen offen. Er erwiderte Phelans Umarmung fest, saß schwer atmend mit der Stirn an dessen Schulter gelehnt.
Phelan spürte, dass Jeldrik in diesem Kampf wesentlich größere Wunden davon getragen hatte als er selbst, und das erste Mal konnte er ohne Schutz etwas von dem wahren Jeldrik hinter der Maske erblicken, einem sehr verletzlichen und sensiblen Jeldrik. Es machte ihn froh und traurig zugleich, und er wollte ihm unbedingt helfen.
Als Jeldrik etwas ruhiger geworden war, sagte er: »Du täuschst dich, glaube mir. Die Männer ahnen längst, dass dein Vater im Unrecht ist. Sie sind nur loyal zu ihm.«
»Ha!« Jeldrik machte sich von ihm los.
Phelan konnte sehen, wie sich bereits wieder der Schleier der Beherrschung über seine Züge legte, und er sagte schnell: »Doch, es ist so. Sie fragen sich, wann du dich endlich zu wehren beginnst und..«
»Hör auf!«, fauchte Jeldrik und sprang auf. »Das kann ich nicht, ich bin noch nicht gut genug dafür.. ach, wäre ich doch..« Er warf sich auf sein Lager, barg das Gesicht in seinen Händen und sagte nichts mehr. Nur die schweren Atemzüge waren zu hören.
»Wärest du doch was?«, fragte Phelan leise. Diese Andeutung hatte Jeldrik schon öfter gemacht, doch er hatte sich immer wieder zurückgezogen, sobald er genauer nachgefragt hatte. So zerschlagen Phelan war, er wartete sehnsüchtig auf eine Antwort. Würde Jeldrik sich endlich öffnen? Doch es kam nichts. Auch diesmal würde er wieder vergebens warten. Phelan seufzte innerlich und schloss die Augen. Es war anstrengend, so lange wach zu sein.
Er konnte ja nicht ahnen, wie sehr Jeldrik mit sich rang. Seine Nerven lagen blank. Das Gefühl, dass er Hilfe brauchte, einen Trost, jemanden, mit dem er all das teilen konnte, was ihn beschäftigte, rang mit seinem Bedürfnis, sich zu schützen und alles zu verbergen.
»Ich wollte fort.«
Fast hätte Phelan es überhört, so weggedämmert war er schon. Jeldrik hatte sich zu ihm umgedreht. Zwei helle Punkte schimmerten dort, wo seine Augen sein mussten. Phelan traute sich nicht, etwas darauf zu antworten oder sich nur zu rühren aus Angst, dass Jeldrik dann wieder verstummen würde.
»Ich wollte weg, einfach nur weg. Zurück nach Gilda oder Temora, irgendwo hin, wo es eine Menge Bücher gibt und es egal ist, ob ich stark bin oder schwach. Ich hätte vor den Toren gebettelt, so lange, bis sie mich aufgenommen hätten.. Phelan?«
»Ich höre dir zu. Die Temorer hätten dich nicht eingelassen«, antwortete Phelan leise.
»Nein, mich nicht, aber Jorid.«
»Jorid?!« Phelan fuhr erstaunt auf. »Warum?«
»Sie ist nicht durch die Prüfung gegangen, sie wollte es nicht, damit sie nicht fort von mir musste. Stattdessen hat sie sich heimlich in dieses eine Zelt geschlichen und gesagt, dass sie dieses Ding spürt. Sie wäre mit mir gekommen, und wenn ich nicht hätte bei ihr bleiben dürfen, dann wäre ich weitergereist, auf einem Schiff oder zu euch nach Gilda.. irgendwohin. Doch dann kam die Nachricht, dass Fürst Bajan mit einem Jungen auf dem Weg zu uns ist, und ich wusste, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Ihr habt mir doch erzählt, dass sie schon damals fürchteten, man würde euch etwas antun. Auf einmal konnte ich es nicht mehr.«
»Fortgehen?« Phelan drehte langsam den Kopf, sodass er Jeldrik ansehen konnte.
»Ich schämte mich, und das habe ich dir übel genommen, sehr übel sogar.«
»Mir?! Warum?«
Jeldrik hob die Hand. »Lass mich ausreden. Du hattest deine Familie verloren, und plötzlich war ich froh, dass ich meine noch hatte, meinen Clan und.. ich wollte Vater nicht enttäuschen.« Jeldrik gab ein Schnauben voller Verachtung von sich. »Das klingt so schwach, für wie er mich hält, nicht wahr?«
»Finde ich nicht. Ganz und gar nicht«, erwiderte Phelan voller Überzeugung. »Obwohl.. verdient hat er es nicht, so, wie er euch beide behandelt.«
»Versteh doch, unsere Lage ist mehr als unsicher, die unseres ganzen Volkes. Da muss er Härte zeigen, allen gegenüber, auch uns.. ach, jetzt verteidige ich ihn auch noch, bei den Göttern! Ich kann ihn verstehen, aber warum vertraut er mir nicht? Früher, da konnte es ihm gar nicht schnell genug gehen. Was ich alles lernen sollte! Und jetzt.. ich weiß nicht, was ich tun soll, um ihn..« Er brach ab, das Gesicht wieder schmerzhaft verzogen.
Phelan richtete sich halb auf. »Wir werden einen Weg finden, das verspreche ich dir. Lass mich nur machen. In Gilda haben Althan und ich die unmöglichsten Dinge hinbekommen. Und Jeldrik, du bist längst gut genug.« Er sah seinen Freund heftig den Kopf schütteln und bekräftigte: »Doch, wirklich, du warst sogar besser als ich, weil du größer bist und mehr Kraft hast. Wenn.. oh, mein Kopf.«
»Tut ganz schön weh, nicht wahr?« Jeldriks Zähne blitzten im Dunkeln. Er konnte wieder lächeln, die Worte Phelans hatten ihm gut getan.
»Du hast gut reden, dir haben die Goi ja nicht den Schädel eingeschlagen.« Phelan saß ganz steif da, weil er sich nicht mehr rühren mochte.
»Oh nein.« Jeldrik kam zu ihm herüber und half ihm, sich wieder hinzulegen, als er sich vergebens mühte. »Das waren nicht die Goi, jedenfalls nicht nur. Dein Schädel brummt vor allem, weil wir dich abgefüllt haben.«
»Abgefüllt?!«
Jetzt lachte Jeldrik. »Ja, mit dem Zeug aus der letzten Siedlung. Sie haben Vater einen kleinen Krug davon mitgegeben, und den haben wir dir bis auf den letzten Tropfen verabreicht. Du hast um dich geschlagen, als wir dich versorgen wollten. Bei den Göttern, du hast ganz schön viel Kraft, selbst mit den ganzen Verletzungen. Von wegen Größe!«
»Deswegen war mir so schlecht?« Phelan grinste. »Sag mal, dieses Mädchen, ist es eine Heilerin?« Er hob leicht den verbundenen Arm.
Jeldrik zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Wie alle Saraner interessierte er sich nicht besonders für die dunklen Leute. »Verbunden hat dich Fürst Bajan, er muss es irgendwo gelernt haben.«
»Ja, bei Meda«, lächelte Phelan. Bevor Jeldrik fragen konnte, wer denn das war, sackte sein Kopf zur Seite.
Jeldrik lauschte eine Weile seinem ruhigen Atem. Er fühlte sich leer, vollkommen leer, und irgendwie befreit. Er hatte jemanden, mit dem er seine Sorgen teilen konnte. Das war etwas völlig anderes als seine Schwester. Ihr konnte er nicht alles sagen, doch Phelan, mit ihm.. Jeldrik atmete tief durch, und als Bajan kurze Zeit später kam, um nach Phelan zu sehen, konnte er ihm zum ersten Mal seit Langem wieder in die Augen blicken. »Es geht ihm besser, Fürst.«
»Das freut mich zu hören, mein Junge. Hat er etwas zu sich genommen?« Bajan ließ sich neben Phelans Lager nieder.
»Er hat jede Menge getrunken, und vor allem.. sein Verstand ist wieder da. Er macht schon wieder Pläne«, grinste Jeldrik.
Bajan schmunzelte in sich hinein. »Hoffentlich betrifft ein Teil davon dich«, sagte er nicht ohne Absicht.
Ohne Erfolg. Jeldrik versteifte sich sofort, sein Lächeln schwand. »Wir machen da weiter, wo wir aufgehört haben!«, entgegnete er heftiger als beabsichtigt und ärgerte sich sogleich. Jetzt wusste der Fürst, dass er einen wunden Punkt berührt hatte. Jeldrik beschloss, schleunigst auf ein anderes Thema auszuweichen. »Fürst, wo habt Ihr gelernt, wie man jemandes Wunden versorgt? Phelan erwähnte da vorhin einen Namen..«
»Ach ja? Welchen?«
Täuschte er sich, oder war der Fürst auf einmal sehr, sehr wachsam? »Meda«, sagte er und beobachtete die Reaktion des Fürsten genau. Es währte nur einen winzigen Moment, doch Jeldrik sah genau, dass Bajan zusammenzuckte.
Gleich darauf hatte der Fürst sich wieder im Griff, und nichts deutete darauf hin, als er antwortete: »Das ist eine Heilerin des Ordens der hl. Asklepia. Sie hat die Opfer unseres Gegenspielers betreut. Aber Phelan täuscht sich, bei ihr habe ich nicht gelernt, wie man Verwundete versorgt. Du lernst es auf der Heerschule, schon in den unteren Jahrgängen. Es gehört dazu zu wissen, wie man Wunden nach einem Kampf versorgt.«
»Sollten wir das nicht auch mit unseren.. Heerschülern tun?«, fragte Jeldrik. Er mochte nicht weiter nach dieser Heilerin fragen, aber Phelan würde er von der Reaktion des Fürsten auf jeden Fall berichten.
Bajan erhob sich abrupt, zu abrupt in Jeldriks Augen. »Darüber lohnt es sich auf jeden Fall nachzudenken. Kann ich euch ruhigen Gewissens heute Nacht allein lassen?«
Jeldrik nickte und sah ihm forschend hinterher. Fast war er versucht, heimlich hinter ihm herzulaufen.
Hätte er es getan, er wäre erstaunt gewesen. Bajan kehrte nicht zu den Männern ans Feuer zurück. Stattdessen suchte er sich eine Fackel und wanderte tief in den Wald hinein. Keinen Gedanken verschwendete er an eine mögliche Bedrohung durch die Goi. Der Junge hatte da an einer Wunde gerührt, die er mit aller Macht verborgen hielt, doch wenn sie aufbrach, dann musste er zwangsläufig seinem Verlangen nachgeben und das schmale Stück Pergament hervorholen, das er seit dem Herbst immer dicht an seinem Körper trug. Es waren nur wenige Zeilen. Ein Fremder wäre niemals auf die Idee gekommen, dass sie für ihn bestimmt waren, für Bajan jedoch waren sie das Band, das ihn mit aller Macht an die Vergangenheit fesselte, stärker als jeder Eid und jede Pflicht. Bis zum Morgengrauen saß er im Wald, das Pergament in der Hand, und erging sich in traurig düsteren Erinnerungen.
Die Männer kamen alle im Laufe des Tages, nacheinander, um nach Phelan zu sehen, um ihm ihre Anerkennung auszusprechen und vor allem, weil sie neugierig waren. Phelan wurde es schnell zu viel, besonders, wenn er an die schreiende Ungerechtigkeit dachte. Roar zwang Jeldrik, die ganze Zeit dabei zu bleiben. Auch Bajan zeigte sich unerbittlich mit Phelan, es war ihm nicht vergönnt, sich zurückzuziehen. Sie nutzten ihn, um ihre Pläne bei dem Clansführer der Siedlung durchzusetzen, etwas, das Phelan von Bajan niemals gedacht hätte. Es schien fast, als sei er böse auf ihn, und er fragte sich, warum nur? Er hatte nicht die Kraft, sich zu wehren, also ertrug er es stumm.
Erst als der Nachmittag schon weit fortgeschritten war, hatte Bajan endlich ein Einsehen und verordnete Phelan Ruhe. Der schlief erschöpft ein, aber nur kurz. Gegen Abend war er wieder wach, und da er draußen das übliche Gelage hörte, bat er Jeldrik, ihre Pläne hervorzuholen. Vielleicht fiel ihnen ja noch etwas ein. So verbrachten sie einen ruhigen und ungestörten Abend, der ihnen beiden gut tat.
Sie ergänzten ihre Listen um die Überfälle dieser Siedlung, soweit sich die Bewohner noch erinnern konnten, aber sie wurden beide das Gefühl nicht los, dass sie etwas übersahen.
Als sie erkannten, dass es so keinen Sinn hatte weiterzumachen, fiel Jeldrik ein, was er Phelan noch berichten wollte. Er erzählte ihm von Bajans Reaktion auf den Namen Meda am gestrigen Abend. Phelan schalt sich innerlich einen Narren. Jetzt wusste er, warum Bajan böse auf ihn war. Warum nur hatte er nicht seinen Mund gehalten? So beiläufig wie möglich zuckte er mit den Schultern. »Sie sind gescheitert damals, den Opfern des Dieners zu helfen. Es war der Anfang vom Ende. Er wird bestimmt nicht gerne daran erinnert.«
Aber Jeldrik ließ sich so leicht nicht täuschen. Er setzte zu einer Frage an, doch plötzlich stand die Ethenierin mit Wasser und Tüchern in der Tür. Als sie Jeldrik sah, zögerte sie. Phelan winkte sie ohne weitere Umstände zu sich, froh, nicht weiter über das Thema reden zu müssen.
»Neu verbinden«, sagte sie und machte sich, ohne auf seine Proteste zu achten, an die Arbeit. Jetzt bekam Phelan das erste Mal seine ganzen Verletzungen zu sehen. Er bat Jeldrik, ihm einen Spiegel zu besorgen, falls es ihn denn in dieser Siedlung gab. Es gab einen, und wenn er auch nicht mit den hochglanzpolierten gildaischen Bronzespiegeln zu vergleichen war, erschrak er doch etwas, als er sich zum ersten Mal sah. Sein Gesicht war nicht mehr zu erkennen, so geschwollen und blau verfärbt war es, und sie hatten ihm die Nase gebrochen. Phelan sah an sich herunter, das erste Mal ohne Hemd und Beinlinge. »Was zum.. was haben sie mit mir gemacht?«
»Sie haben alle auf dich eingeschlagen und -getreten, als sie flohen. Manche nahmen sogar einen Umweg dafür in Kauf. Es wirkte fast wie ein.. Ritual.« Jeldrik schluckte mit starrer Miene. Er wollte nicht daran zurückdenken, und doch konnte er nichts gegen die aufkommende Erinnerung tun.
»Kein Wunder, dass kein Mädchen hier war, um mich zu sehen.« Phelan schnitt seinem Spiegelbild eine Grimasse.
Jeldrik schnaubte. »Werde bloß nicht eitel! Sie werden schon kommen, außerdem.. ein Mädchen ist ja hier«, fügte er auf Saranisch hinzu. Die Ethenierin versteifte sich bei seinen Worten.
Phelan schüttelte warnend den Kopf in Jeldriks Richtung. »Keine Angst, wir dir nichts tun«, sagte er leise. Sie warf ihm einen unsicheren Blick zu, und er versuchte zu lächeln. Es verkam zu einer Grimasse. »Verda..« Ihre Mundwinkel zuckten belustigt. »Wie heißt du?« Sie schüttelte den Kopf und fuhr stumm mit ihren Verrichtungen fort.
»Sie sagt es niemandem, haben die Bewohner gesagt. Keiner unserer Leute weiß, wer sie ist. Sie ist einfach bei irgendeinem Gefangenenzug dabei gewesen«, sagte Jeldrik auf Gildaisch. »Aber weißt du, was komisch ist? Die anderen Ethenier verneigen sich alle vor ihr. Sie muss eine sehr hochstehende Person sein. Deshalb haben sich unsere Leute auch noch nie getraut, sie anzurühren. Sie heilt alle, ohne Ausnahme. Ethenier wie Saraner.«
Phelan betrachtete sie sinnend und beschloss, es noch einmal zu versuchen: »Du Heilerin? In meinem Volk viele Heilerinnen, alle hoch geehrt. Sind.. Jeldrik, wie heißt das noch? Ein Orden?« Jeldrik sagte ihm das saranische Wort.
Sie sah zum ersten Mal auf. »Orden?« Leuchtete da nicht etwas Interesse in ihren Augen auf? Zum ersten Mal sah sie ihn wirklich an. Ihre Augen erinnerten ihn irgendwie an seinen Bruder, so kohlschwarz waren sie, aber sie waren kleiner und runder, wie kleine, schwarze Knöpfe.
»Ja, Heilerinnen haben keine Männer. Leben für sich, in.. getrenntes Haus.« Mit einem Mal ärgerte er sich, dass er sich nicht mehr Mühe gegeben hatte, das Saranische zu lernen.
Sie setzte zu einer Frage an, zögerte und dann wandte sie den Blick wieder ab.
»Was deine Frage?«, drängte Phelan. Sie zögerte immer noch, hantierte mit den Verbänden und bedeutete ihm, die Arme zu heben, damit sie seinen Brustkorb neu verbinden könnte. Das tat dann doch ganz schön weh. »Jeldrik, hilf mir mal.« Phelan konnte den gebrochenen Arm nicht lange so halten.
Die Ethenierin wäre am liebsten davongelaufen, als sich der große, seltsam aussehende Saraner neben sie kniete und ihrem Patienten half, doch sie beherrschte sich, wenn ihre Hände auch zitterten. Phelan warf Jeldrik einen warnenden Blick zu, und dieser verstand. Als sie fertig war, stand er auf. »Ich gehe mal und sehe, ob ich etwas zu essen für uns finde.«
Sie schloss vor Erleichterung kurz die Augen, als er fort war. »Du brauchst keine Angst haben, Jeldrik dir nichts tut«, sagte Phelan eindringlich.
Sie sah auf. »Ist Saraner«, erwiderte sie nur, als würde das alles erklären.
Phelan seufzte innerlich. »Er ist nicht wie die anderen. Er ist anders.«
Sie zuckte nur mit den Schultern und räumte ihre Utensilien zusammen. Phelan fürchtete fast, dass sie jetzt wieder gehen würde, doch dann sah sie ihn an. »Wo kommst du? Welche Stamm?«
»Ich bin aus Gilda.« Phelan wartete gespannt auf eine Reaktion.
Sie runzelte die Stirn. »Gilda..« Dann riss sie die Augen auf. »Ohhh..« Mit einer raschen Handbewegung zog sie den Halsausschnitt ihres Überwurfs beiseite. Darunter kam ein breiter Reif aus Bronze zum Vorschein.
Phelan lachte auf und zuckte prompt wieder vor Schmerz zusammen. »Oh ja, der ist aus Gilda.« Sie merkte es und half ihm, sich wieder hinzulegen.
»Gilda reiche Stadt, viel Häuser, kein Krieg, kein Hunger..« Plötzlich lebhaft und mit leuchtenden Augen zählte sie auf, was sie über seine Heimat gehört hatte. »Ist weit?«
»Oh ja«, sagte Phelan und wurde ein wenig traurig. »Viele Wochen mit Pferd reiten.«
»Reiten? Nicht Schiff?« Sie setzte sich neben ihn, ihre Hände ruhten. Ein seltsames Bild, ging Phelan auf einmal auf. Er ahnte, dass dies selten der Fall war.
»Nein, nicht mit Schiff. Kein Wasser, gar kein Wasser. Keine Bäume, fast kein grüne Pflanzen. Nur..« Er suchte vergebens ein saranisches Wort für die Steppe. »Weites Gras, alles trocken. Berge halten Regen fort. Diese Berge.« Er deutete nach draußen.
Sie nickte verstehend. »Dann Gilda nicht weit. Nur über Berge, aber ist Feindesland, kannst nicht gehen.«
»Genau, deshalb müssten außen rum«, sagte Phelan. Er versuchte wieder zu lächeln, und diesmal interpretierte sie es richtig. »Verzeih, ich sehe furchtsam aus.«
»Furchtbar«, verbesserte Jeldrik ihn von der Tür her. Sie wollte erschrocken aufspringen, doch Phelan hielt sie fest. »Nein, bitte bleib. Wir jetzt essen und du auch. Hab keine Angst.«
Sie duckte sich fast, als Jeldrik sich zu ihnen setzte. Er streckte ihr langsam etwas Brot hin. Nur Phelans fester Griff verhinderte, dass sie aufsprang. »Warte, leg es hin«, sagte Phelan leise auf Gildaisch. Jeldrik zog sich etwas zurück, ließ sie aber nicht aus den Augen.
»Jeldrik hat große Narbe, weil meinen Bruder gerettet«, erklärte er ihr. Ihr Kopf zuckte zu ihm. »Du keine Angst, weil so furcht..bar aussieht. Ist freundlich..«
»Nein!« Sie schrie schon fast auf. »Geisteraugen!« Sie stieß Phelan zurück und rannte hinaus.
»Geisteraugen? Was meint sie damit?« Jeldrik sah ihr verblüfft hinterher.
Phelan ärgerte sich, dass er nicht mehr über sie erfahren hatte. Er erhielt einen leichten Schubser von Jeldrik. »Weißt du, mir ist schon öfter aufgefallen, dass die Ethenier Jorid und dich noch mehr als andere fürchten. Nicht die, die bei euch leben, aber die in der Siedlung schon. Es sind eure Augen. Vielleicht.. ich weiß nicht, aber vielleicht habe sie eine Seherin oder so etwas, die blind ist. So wie die alten Leute, die ganz graue oder grüne Augen bekommen, wenn sie blind werden.«
»Meinst du? Das hat mir noch niemand erzählt.« Jeldrik zuckte mit den Schultern und machte sich über das Essen her.
»Nein, aber du gibst dir auch keine Mühe, etwas über sie zu erfahren. Ich werde sie noch mal befragen, aber tu mir einen Gefallen und lass uns allein.«
Am folgenden Morgen stand Phelan das erste Mal auf. Er wurde mit großem Beifall in der Runde der Männer am Feuerplatz begrüßt. Bajan reichte ihm etwas zu trinken und raunte ihm zu: »Sie wollen heute Morgen die Beute aufteilen. Du wirst dir auch etwas nehmen, so ist es Brauch, verstanden?«
Phelan blieb der Schluck im Halse stecken. »Ich soll etwas von diesen.. aber warum?«
»Weil es sich so gehört. Tu es einfach, und wenn es dir unangenehm ist, kannst du die Dinge ja weiterverschenken«, wies Bajan ihn streng zurecht.
Phelan nickte und schwieg. Es entsprach gar nicht der gildaischen Weise, den Gegner zu berauben. Verlangte der Fürst das von ihm, weil er noch immer verstimmt war? Entsprechend unangenehm war es ihm dann auch, als er von Roar zu einem großen Haufen Beutestücke geführt wurde. Es war ein schmutziges Durcheinander von Fellen, Waffen, Schilden und anderen Gegenständen. Sie hatten ihnen alles abgenommen, wirklich alles, sogar den Schmuck.. ratlos stand er davor.
Bei dem Anblick der vielen Beutestücke musste er daran denken, was die Goi ihm geraubt hatten. »Fürst, Eure Männer haben mein Messer nicht wiedergefunden?«, wandte er sich an Roar.
»Leider nein. Du bekommst ein Neues von mir, das verspreche ich«, sagte Roar leise und legte ihm sachte seine Pranke auf die Schulter. »Du hast die meisten Gegner getötet, also gebührt dir die erste Beute. Such dir etwas aus!«, dröhnte er so laut, dass alle es hören konnten.
Phelan seufzte innerlich. So unauffällig wie möglich brachte er etwas Abstand zwischen sich und den Clansführer und tat so, als wolle er den Haufen genauer in Augenschein nehmen. Was sollte er nur aus all diesen schmutzigen Dingen nehmen? Er ging um sie herum, suchte etwas, das.. er stockte. Was war denn das? Eben hatte er etwas gesehen, das hier nicht hinzupassen schien. Er trat einen Schritt zurück, und da hatte er es. Etwas Farbiges leuchtete durch den ganzen Schmutz. Phelan zog daran und hatte gleich darauf einen kleinen Lederbeutel mit reichen Verzierungen in der Hand. Wie merkwürdig. Er passte so wenig hierher wie eine Blume in eine kahle Wüste. War es ein Beutestück der Goi? Etwas drängte in ihm. Es war eine Erinnerung, er konnte es nur nicht greifen.. hier wurde er zu sehr abgelenkt. Phelan beschloss, sich zurückzuziehen, so schnell es ging. »Ich nehme dies«, sagte er und steckte den Beutel in sein Hemd. Dann griff er zu einer List. Er tat so, als würde ihm schwindelig werden, und umgehend hatten ihn ein halbes Dutzend helfende Hände zurück auf sein Lager gebracht.
Gleich darauf war er allein. Phelan zog den Beutel hervor und betrachtete ihn. ›Denk nach. Du hast ihn schon mal gesehen!‹ Aber wo? Er konzentrierte sich. Schüttelte den Kopf. Versuchte es noch einmal. Die Farbe.. sie passte nicht. Er dachte sich die Farbe weg, schloss die Augen, wurde ruhig.. und mit einem Mal hatte er es. Ja, war das denn möglich? Phelan konnte geraume Zeit nur regungslos auf den Beutel starren, während sich seine Gedanken überschlugen. Mit einem Mal kam Bewegung in ihn. Er suchte die Pergamente hervor und betrachtete sie noch einmal, wieder und immer wieder.
Als Jeldrik einige Zeit später nach ihm sah, fand er Phelan wie erstarrt vor ihren Berechnungen sitzend, in der Hand dieses kleine Ding, das er eingesteckt hatte. »Was hast du da?«
Phelan sah auf. Seine Augen leuchteten. »Mach die Tür zu und verriegele sie. Ich möchte nicht, dass wir belauscht werden.« Er wartete, bis Jeldrik sich hingesetzt hatte. »Ich habe etwas herausgefunden.«
Während Jeldrik seinen Worten lauschte, wich sein Erstaunen Ungläubigkeit und dann heller Aufregung. Er war sofort dabei, als Phelan ihm seine Schlüsse darlegte. Den ganzen Nachmittag vergruben sie sich in der Hütte und diskutierten, entwickelten Theorien, und als draußen bei Einbruch der Dämmerung die Feuer entzündet wurden, waren sie soweit, dass sie den Männern etwas mitteilen konnten.
»Schnell, bevor sie wieder zu viel getrunken haben.« Phelan hievte sich hoch, doch Jeldrik zögerte. »Ich.. ich würde es lieber erst einmal Fürst Bajan sagen, nur ihm allein, um zu sehen, was er davon hält.«
Phelan sah, dass er völlig verunsichert war. Entschieden erwiderte er: »Wenn du jemals deinem Vater beweisen willst, dass du kein Schwächling bist, dann musst du ihn dazuholen. Außerdem gehört es sich, er ist der Clansführer.« Jeldrik presste die Lippen zusammen. Er tat Phelan einfach leid, also lenkte er ein wenig ein: »Wir können sie ja beide hierher bitten. Dann hören die Männer nicht zu.«
Jeldrik nickte unglücklich und sagte nichts mehr. Er war dankbar, dass Phelan es draußen übernahm, die beiden Männer zu sich zu bitten. Erstaunt und ohne Widerspruch – Jeldrik war sicher, dass dies Phelans erfolgreichem Kampf zu verdanken war - folgten Bajan und Roar den Jungen in die Hütte. Das Erstaunen wandelte sich in Unmut, als Jeldrik die Tür hinter ihnen verriegelte.
»Was soll das werden?«, fragte Roar ärgerlich in Richtung seines Sohnes.
»Setzt Euch bitte.« Phelan zog die Aufmerksamkeit auf sich. Er selbst ließ sich dankbar auf sein Lager nieder. Es war ein langer, anstrengender Tag für ihn gewesen. Er war müde, doch sie mussten dies jetzt tun, sonst war die Gelegenheit vorüber. »Wir haben etwas herausgefunden«, begann er.
»Was herausgefunden?«, fragte Bajan und machte es sich demonstrativ bequem. Er wollte Roar von seinem Sohn ablenken, den dieser immer noch finster anstarrte.
»Fürst Bajan, kennt Ihr diesen Gegenstand?« Phelan holte den Beutel hervor.
Dies lenkte Roar nun doch ab. »Ah, ist dies das Ding, das du aus dem Haufen gezogen hast? Die Männer haben sich schon gewundert, warum du so etwas Kleines genommen hast.«
»Nein, ich kenne ihn nicht. Was ist damit? Ist etwas darin?« Bajan streckte die Hand aus, doch Phelan zog den Beutel zurück.
»Ich habe nicht hineingeschaut. Das wäre nicht rechtens, und ich erkläre Euch auch gleich, warum. Fürst Roar, dieser kleine Beutel ist wertvoller als alles zusammen, was Ihr dort erbeutet habt.«
Jetzt hatte er die volle Aufmerksamkeit beider Männer. Roar ließ sich endlich neben Bajan nieder. Es gab Jeldrik die Gelegenheit, seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen und sich seinerseits ruhig neben Phelan zu setzen. »Phelan glaubt diesen Beutel zu kennen«, ergänzte er.
»Kennen?« Bajan war im ersten Moment verblüfft. »Gib ihn mir.« Nur zögernd gab Phelan ihn aus der Hand. Bajan sah genauer hin. »Dieses Muster.. und dieses Leder.. fast sollte man meinen, es sei..« Plötzlich weiteten sich seine Augen, und er starrte Phelan an.
»Es ist cerinnisch«, bestätigte Phelan seinen Verdacht. »Althan und ich haben einen solchen Beutel einmal an Kiral gesehen, und ich bin mir fast sicher, dass es genau dieser war. Es ist wohl ein Amulett. Wir dürfen es nicht öffnen. Wie gesagt, das wäre nicht rechtens.«
Bajan stand abrupt auf. Er begann, unruhig in dem Raum auf und ab zu laufen, beobachtet von den Jungen und Roar, der sichtlich nicht wusste, was er davon halten sollte. Schließlich drehte sich Bajan um. »Wenn das wahr ist, dann könnten wir Rückschlüsse über Curranns Zufluchtsort bekommen. Kiral ist einer der Kameraden, der mit ihm geflohen ist«, fügte er erklärend an Roar hinzu. »Habt Ihr eine gildaische Karte von diesem Gebiet?«
»Leider nein, so etwas haben nur die Temorer. Ihr solltet Meister Anwyll schreiben.. obwohl, das halte ich für zu gefährlich. Es ist gut, dass ihr uns dies allein gesagt habt«, sprach Roar ein seltenes Lob aus, das aber so offensichtlich nur Phelan galt, dass dieser mit einem Blick auf Jeldriks starre Miene schon protestieren wollte. »Bajan, wir müssen das ausführlich erörtern und..«
»Das ist noch nicht alles!«, wurde er von seinem Sohn unterbrochen.
Bajan warf ihm einen warnenden Blick zu, denn Jeldrik wirkte unverkennbar wütend. »Nein? Was habt ihr noch herausgefunden?«, griff er beschwichtigend ein, bevor Roar seinem Sohn über den Mund fahren konnte.
Phelan nickte Jeldrik zu, und dieser zog unter einer Decke ihren Stapel Pergamente hervor. Nacheinander breitete er sie auf dem Boden aus, sodass die Männer vor sich ein ganzes Relief liegen hatten. »Bei den Göttern, was ist denn das?!« Roar vergaß, dass er eigentlich verstimmt sein wollte, als er die vielen Linien und Schriften sah. Er konnte damit nichts anfangen und runzelte die Stirn.
»Das ist eine Karte des Gebietes, das wir bereist haben. Jeldrik, gib mir doch mal den Stock da drüben.« Phelan ruckte mit dem Kopf, damit Jeldrik sich wieder zu ihm setzte.
Bajan dagegen nickte anerkennend. »Das ist euch gut gelungen. Hast du das gezeichnet, Jeldrik?« Er wartete, bis der Junge nickte.
Phelan zeigte mit seinem Stock. »Seht, dies sind die Täler, und hieran erkennt Ihr, ob es weiter hinauf oder hinab geht. Dies sind die Flüsse und dies sind die Geröllhalden. Wir befinden uns im Moment hier.«
Roar brummte etwas hinein, als er sich weiter vorbeugte. Seine Stirn war gerunzelt, als er zu erfassen versuchte, was Phelan ihm da gerade erklärt hatte. »So etwas hat es noch nie gegeben«, sagte er schließlich. Er sah auf, zu seinem Sohn. »Und das hast wirklich du gezeichnet?«, fragte er ungläubig.
Jeldrik brachte keinen Ton heraus. Es traf ihn, dass sein Vater daran zweifelte. Helfend sprang Phelan ein: »Ja, hat er. Ich habe so wenig Talent dazu wie ein Felsbrocken.«
»Was habt ihr hier alles geschrieben?« Roar wandte sich wieder der Karte zu, ohne seinen Sohn weiter zu beachten.
»Das sind die Zeitpunkte der Überfälle, Vater.«
»Fängst du schon wieder damit an!«, grollte Roar ungehalten, doch Bajan beugte sich mit einem Ruck vor, was ihn ablenkte.
»Dies hier drunter, ist das unser Kalender, Phelan?«
»Ja, Fürst. Ich habe ihn so dazugeschrieben, dass man darauf die Zeitpunkte der Überfälle genau sehen kann. Wir haben gehofft, ein Muster zu entdecken.«
»Und, habt ihr das?«, fragte Bajan gespannt und nun ganz bewusst an Jeldrik gewandt.
Dieser beschloss, jetzt richtig wütend, seinen Vater zu ignorieren. Das gab ihm Ruhe und Kraft. »Nein, zunächst nicht. Es ergab keinen Sinn, bis Phelan den Beutel gefunden hat. Wir glauben, dass sie auch die Siedlungen auf der anderen Seite überfallen.«
»Der anderen Seite?« Bajan runzelte die Stirn. »Das hätte in unseren Heeresberichten gestanden.« Nachdenklich rieb er sich über den Bart.
»Wir glauben, dass es so ist, Fürst«, bekräftigte Phelan, »denn nur damit ergibt es einen Sinn.« Er warf einen schnellen Blick zu Roar hinüber, und richtig, dieser schien es ihnen nicht zu glauben. »Jeldrik, erklär ihnen, was du von den Leuten hier erfahren hast«, forderte er seinen Freund auf. Es wurde höchste Zeit, dass er zeigte, wie sehr er zu ihren Erkenntnissen beigetragen hatte.
Dieser wandte sich an Bajan, nicht an seinen Vater: »Sie kamen mit Fackeln, und nachdem sie in die Hütten eingedrungen waren, brannten sie diese nieder. Das habt Ihr sicherlich auch gehört, Fürst.«
»Natürlich, worauf willst du hinaus?«
»Phelan berichtete mir, wie Ihr über die Berge gegangen seid. Er sagte, dass Ihr dort hinübergeschlichen seid und..«
»Was hat das hiermit zu tun?!«, unterbrach Roar ihn ungeduldig.
Jeldrik presste die Lippen zusammen. ›Nun mach schon weiter!‹, rief Phelan innerlich, doch nichts kam. Er griff ein: »Jeldrik kennt die Wälder viel besser als ich. Ich finde, seine Schlüsse machen Sinn.«
Sein Freund straffte sich. »Ihr musstet Euch dort im Dunkeln ohne Licht hinüberschleichen, damit man Euch nicht sieht. Ich glaube, dass es den Goi genauso geht. Drüben auf der anderen Seite können sie keine Fackeln benutzen, weil man sie zu weit sieht. Sie brauchen anderes Licht, also den..«
»Vollmond?« Bajans Augen hasteten über die Zahlen und Zeichen. »Ja, natürlich. Roar, er hat recht! Weiter, Jeldrik!«
Jeldrik ließ sich nicht anmerken, wie unwohl er sich unter dem plötzlich forschenden Blick seines Vaters fühlte. »Sie greifen die Siedlung dort drüben immer bei Vollmond an, und zwar direkt nach der Schneeschmelze, nach der Ernte und wenn die Winterfahrer in die Berge zurückkehren, bis es dort oben zu kalt wird und wieder Schnee gibt. Dann gibt es auf beiden Seiten am meisten zu holen.«
»Auf dieser Seite«, Jeldrik nahm Phelan den Stock ab und zeigte es ihnen, »brauchen sie das Mondlicht nicht. Die Bäume geben ihnen genügend Schutz. Wir vermuten, dass die Siedlungen dort drüben etwa hier«, er kreiste ein Gebiet ein, »oder hier liegen. Wenn sie dort oben entlangkommen, greifen sie auf dem Hinweg die südlichen Siedlungen auf unserer Seite an, dann fallen sie bei Vollmond dort drüben ein, und dann suchen sie noch die nördlichen Siedlungen hier heim.«
»Ich muss schon sagen..«, Bajan nickte Roar anerkennend zu, »ihr beide habt euch wirklich Mühe gegeben. Darüber sollten wir ausführlich beraten.«
»Ja, und zwar jetzt gleich.« Roar stand auf. Sinnend sah er auf die beiden Jungen herab. »Das solltest du im Kreis der Männer vortragen, Phelan.«
Augenblicklich erhob sich Protest: »Warum ich, Fürst? Das stammt von Jeldrik.«
»Ich bin noch nicht fertig, Vater!«, fauchte dieser und sprang ebenfalls auf. Er war wütend und verletzt, dass es wieder Phelan war, dem sein Vater den Verdienst ihrer Erkenntnisse zuschrieb.
»Setzt euch, alle beide«, sagte Bajan ruhig. Er wartete, bis beide seiner Bitte Folge geleistet hatten. Unversöhnlich funkelten Vater und Sohn sich an. »Jeldrik, du hast doch sicherlich auch eine Idee, wie wir diesen Überfällen entgegen wirken können.«
Jeldrik wandte den Kopf zum Zeichen, dass er ihn gehört hatte, ohne den Blick von seinem Vater zu lösen. Plötzlich war es ihm egal, was Roar von ihm dachte. Er wollte endlich beweisen, dass er etwas konnte. »Ja, das haben wir. Die Goi greifen mit Fackeln an, weil man sie durch die Bäume erst im letzten Moment sieht. Was wir brauchen, sind keine Forts. Wir brauchen Türme, hohe Türme, von denen man, verborgen in den Baumwipfeln, die Geröllhalden einsehen kann..«
»..platziert sie vor jeder Siedlung in Richtung der Täler, durch die sie immer einfallen, dann seht ihr sie so rechtzeitig, dass sich die Männer aus jeder Siedlung zusammenziehen und sie abfangen können, bevor sie in der Lage sind, in die Wälder einzudringen. Seht, dies sind die Siedlungen.« Jeldrik sprach am folgenden Morgen vor den versammelten Männern. Er deutete auf die Karten, die sie auf einem langen Holzbrett draußen auf dem Versammlungsplatz ausgebreitet hatten. »Die Türme müsste man in dieser Siedlung hier.. und hier bauen. Ich habe einen der kleinen Jungen auf die Bäume klettern lassen, um herauszufinden, von wo man das Tal am besten einsehen kann. Ihr kommt in dieser Siedlung mit zwei Türmen aus. Sie brauchen viel weniger Holz und vor allem weniger Männer als ein ganzes Fort«, ergänzte er in Richtung seines Vaters und seiner Männer.
Verblüfftes Schweigen herrschte nach den Worten Jeldriks. Bajan und Phelan hatten sich in schweigendem Einverständnis an den Rand des Geschehens zurückgezogen und ließen ihn machen. Jeldrik wartete scheinbar regungslos auf eine Reaktion seitens seiner Zuhörer. Nur Phelan ahnte, wie sehr er sich anspannte.
»Gut gesprochen, Jeldrik Roarsfalir!«, sagte schließlich einer. Er erntete zustimmendes Nicken und Gebrumm.
»Ja, du kannst zwar nicht richtig kämpfen, bist aber ein kluger Kopf!«, dröhnte der neben ihm stehende Clansführer, Corin war sein Name. Sie lachten, und Jeldrik erhielt nicht nur einen Schlag auf die Schulter. Er ließ es mit regungsloser Miene über sich ergehen, nur seine Augen, die etwas heller leuchteten als sonst, verrieten seine Erleichterung.
»Wenn das so einfach ist, dann habt ihr meine volle Unterstützung«, sagte Corin zu Roar. »Wir probieren es einfach aus, und zwar sofort.«
Forschend betrachtete Roar seinen Sohn. Er mochte immer noch nicht glauben, dass dies alles von ihm stammte, sondern er hegte den Verdacht, dass es Phelan war, der ihm aus Mitleid half. »Das halte ich für eine gute Sache«, nickte er. Die Männer hielten sich nicht lange auf. Sie holten ihre Werkzeuge hervor, und Jeldrik zeigte ihnen, welchen Platz er sich für den Turm ausgesucht hatte. Kurze Zeit später waren die Schläge von Äxten im Wald zu hören.
»Gut gemacht«, sagte Bajan leise zu Jeldrik, als dieser wieder zu ihnen zurückkehrte. »Ich denke, dein Vater wird dir nun ein Wort im Rat einräumen.«
»Glaube ich nicht. Habt Ihr seinen Blick gesehen? Er glaubt immer noch, dass es Phelan ist, von dem das alles stammt. Ach, verdammt!« Jeldrik ging wütend seiner Wege. Gleich darauf hörten sie sich entfernende galoppierende Hufe.
Wie recht er hatte, zeigte sich am Abend. Die Männer hatten es binnen eines Tages geschafft, den Turm zu bauen, Trümmerholz gab es ja genug dafür. Es war eine einfache Konstruktion aus geraden und quer liegenden Balken, wie bei einem Baugerüst.
»Dir gebührt der erste Schritt«, sagte Clansführer Corin zu Jeldrik.
Dieser sah sich nach Phelan um. »Willst du mitkommen?«, fragte er, weil er fand, dass es Phelan genauso verdient hatte wie er. Ohne dass er es beabsichtigt hatte, bestärkte er damit Roars Verdacht, der stirnrunzelnd den Jungen hinterher sah.
»Puh«, sagte Phelan schon nach wenigen Stufen und legte den Kopf in den Nacken. »Ob ich das schaffe?«
»Du wirst es schaffen, und wenn ich dich trage!«, befahl Jeldrik streng. Er wollte nicht alleine dort hinauf, koste es, was es wolle.
»Vergiss es!«, grinste Phelan und biss die Zähne zusammen. Als sie oben angelangten, keuchte er schwer und war schweißüberströmt, doch der Ausblick, der sich ihnen bot, ließ ihn alles Ungemach vergessen. »Oh, sieh dir das an!«
Die Sonne ging gerade unter. Tiefrot ragten die schroffen Felsen über das Meer der Bäume hinaus, so nahe, als könne man danach greifen. Weiter oben wurden sie strahlend hell, dort, wo der Schnee begann. »So nah..« Phelan streckte die Hand aus.
»Als bräuchten wir nur kurz dort rauf, und dann wären wir bei..«, Jeldrik sah sich kurz um, aber noch waren sie allein, »bei Currann.« Phelan nickte mit zusammengepressten Lippen. Selten, jedenfalls seltener als an die Mädchen, musste er an seinen Bruder denken, doch wenn es soweit war, schnürte es ihm jedes Mal die Kehle zu.
Schritte hinter ihnen ließen sie zusammenfahren. Roar und Bajan kamen die Stufen herauf. »Das ist ein Anblick, mein Freund«, sagte Bajan beeindruckt zu Roar.
»Eine gute Wahl«, nickte dieser, aber in Phelans Richtung. Die beiden Jungen versteiften sich und tauschten einen schnellen Blick. Was sollte das? War Roar immer noch nicht überzeugt?
Ihr Verdacht bestätigte sich sogleich. Roar wandte sich um. »Phelan, ich habe beschlossen, dass es dir künftig erlaubt ist, im Rat der Männer anwesend zu sein und zu sprechen.«
Die Jungen standen stumm und fassungslos vor ihm. Bajan wollte schon eingreifen, da fragte Phelan: »Und Jeldrik?«
Roar packte seinen Sohn so schnell und hart, dass dieser keine Möglichkeit mehr hatte, ihm auszuweichen. »Solange du nicht lernst, dass es schändlich ist, die Einfälle eines anderen für deine eigenen auszugeben, hast du dort nichts zu suchen!« Roar schüttelte ihn, doch diesmal ließ es sich Jeldrik nicht mehr gefallen.
Mit einem Ruck riss er sich los. »Das ist nicht wahr!« Er beherrschte sich, sah seinen Vater nur funkelnd und mit eiskalter Miene an.
»Roar..« Bajan wollte eingreifen.
»Es ist nicht wahr!«, rief nun auch Phelan.
Roar ließ es nicht gelten. »Es gereicht dir zur Ehre, dass du meinem Sohn helfen willst, aber das dulde ich nicht.«
»Ich kann mir sehr gut selbst helfen, Vater!«, zischte Jeldrik.
Phelan fügte hinzu: »Ja, das kann er. Habt Dank für Euer Angebot, aber ich werde nicht im Rat zugegen sein, wenn Jeldrik es nicht auch ist«, lehnte er entschieden ab.
»Phelan!« Bajan sah sofort an Roars Miene, dass dieser einen schweren Fehler begangen hatte. So etwas lehnte man nicht ab. Kein Saraner unter keinen Umständen hätte das gewagt.
Dementsprechend finster wurde Roars Miene. »Du wirst tun, was ich sage, junger Mann! Niemand lehnt die Berufung eines Clansführers in den Rat ab! Das ist mein letztes Wort!« Drohend kam er auf ihn zu.
Phelan wich nicht zurück. So entschlossen und unnachgiebig, wie er dort stand, erinnerte er Bajan mit einem Mal sehr an seine Mutter. »Ihr mögt Clansführer sein, ich aber bin der Sohn einer Königin, und als solcher lehne ich es ab, unter falschen Voraussetzungen die Ehre eines Ratsmitgliedes zu empfangen. Dies ist mein letztes Wort, Fürst!«, sagte er schneidend. »Komm, Jeldrik, wir gehen!«
Er hielt die Luft an, während sie sich mühsam an den Abstieg machten. Auf halbem Weg kamen ihnen mit ungläubigen Mienen Roars Männer entgegen. Phelan drängte sich entschlossen an ihnen vorbei, und nicht nur einer nickte den Jungen achtungsvoll zu. Sie hatten alles gehört.
Phelan zitterte erschöpft, als sie endlich in der Hütte ankamen. »Es tut mir leid«, flüsterte Jeldrik, während er ihm half. »Alles nur wegen mir!«
»Nein!«, protestierte Phelan schwach. Ihm war wieder schwindelig von der ganzen Anstrengung. »Du wirst dir nicht die Schuld wegen der Fehler deines Vaters geben, verstanden? Ich halte zu dir, koste es, was es wolle.«
»Er kann dich dafür hinauswerfen.« Jeldrik hob lauschend den Kopf, weil sie draußen Roars wütendes Gebrüll hörten.
Phelan hatte die Augen geschlossen. »Oh je, gleich kommt er«, murmelte er. Alles drehte sich in ihm, aber er schaffte es nicht mehr, die Augen aufzubekommen. Als die Tür aufflog und Roars Unheil verkündende Gestalt darin erschien, sackte sein Kopf zur Seite.
Jeldrik stand langsam auf. Er drehte sich um, und diesmal war er es, der sich schützend vor seinen Freund stellte. »Er ist bewusstlos, Vater.«
»Lasst mich durch!« Bajan drängte sich an ihm vorbei und beugte sich besorgt über Phelan. »Du hast recht.. das war viel zu viel für ihn.« Ohne auf die Mienen von Vater und Sohn zu achten, schob er sie hinaus. Er duldete nicht mehr, dass sich jemand anderes dem Jungen näherte außer der Heilerin. Auf einmal gewann Bajans Bedürfnis, Phelan zu schützen, die Oberhand. Er wurde nachdenklich, so nachdenklich, dass er sich an diesem Abend nicht zu den Männern ans Feuer begab.
Roar ertränkte seine schlechte Laune im Met. Dementsprechend übel gelaunt war er auch am nächsten Morgen. Da Jeldrik ihm jedoch aus dem Weg ging und Bajan Phelan nicht allein ließ, fand seine schlechte Laune kein Ziel. Clansführer Corin ließ ihm keine Zeit für eine weitere Auseinandersetzung mit seinem Sohn. Er rief die benachbarten Clansführer zusammen und stellte ihnen vor, was die Jungen herausgefunden hatten. Da Bajan seinem Schützling strengste Ruhe verordnete, war es Jeldrik, der von den Männern hinzugerufen wurde. Er war nach Phelans Zuspruch soweit wieder hergestellt, dass er sich vollends im Griff hatte, sprach ruhig zu den Männern, beantwortete geduldig ihre Fragen und ignorierte seinen finster dreinblickenden Vater völlig. Bajan sprach ihm hinterher ein ehrlich gemeintes Lob aus, das Jeldrik jedoch unwirsch zurückwies. Er wollte keine Almosen, auch wenn sie noch so gut gemeint waren.
Die restliche Zeit, bis Phelan wieder reisefähig war, verbrachten die Männer damit, in die umliegenden Siedlungen zu reiten und dort die Türme zu errichten, und sie nahmen Jeldrik stets mit.
Phelan blieb tagsüber völlig allein, denn auch Bajan ritt mit ihnen. Es war ihm mehr als recht. Er brauchte Ruhe vor diesen ganzen ungerechten Aufmerksamkeiten und Zeit zum Nachdenken, Zeit, ihre Lage von allein Seiten betrachten zu können. Zunächst war er wütend, furchtbar wütend auf Roar. Am liebsten hätte er ihn angebrüllt, was ihm eigentlich einfiel, seinen Sohn derart zu behandeln. Als die erste Wut verrauchte, kam die Nachdenklichkeit. Warum hatte Bajan Jeldrik nicht geholfen? Phelan wusste die Antwort sofort. Weil Bajan sich dadurch offen gegen Roar gestellt hätte. Es ging einmal mehr darum, dass der Clansführer nicht sein Gesicht verlor. Phelan erkannte, dass er zu einem Spielball geworden war, und dies wollte er unter keinen Umständen.
Aber was wollte er dann? Dies war die Frage, über die er am längsten nachgrübelte. Es war unendlich schwierig. Davonlaufen wie Jeldrik? Vielleicht sogar bei Regnar anheuern? Damit würde er Jeldrik nicht helfen, im Gegenteil. Es war keine Lösung, obwohl es ihn lockte, konnte er doch Althea und Noemi wiedersehen. Wollte er zu Bajan stehen? Natürlich! Roar? Hier kamen ihm Zweifel. Er verstand den Clansführer einfach nicht. Also eher nicht zu Roar.. aber damit schadete er Bajan.. es war zum Verrücktwerden! Phelans Gedanken drehten sich im Kreis. Es wurde so schlimm, dass er sogar fiebrig wurde.
»Du zu schwere Sorgen«, rügte die Ethenierin denn auch jedes Mal, wenn sie ihn besuchte. Seit sie alleine waren, gab sie sich offen und gar nicht ängstlich.
Phelan wurde etwas von seinen Sorgen abgelenkt. »Ich hätte Wunsch, ich weiß deinen Namen«, flüsterte er mit zusammengebissenen Zähnen, denn sie löste gerade die Verbände.
»Nicht sagen kann. Ist Schwur..«
»Ein Schwur?« Phelan merkte auf. Sie nickte. »Aber wie ich dich dann nennen darf? Ich nicht will respektlos sein.«
»Oh, du niemals respektlos, Phelan aus Gilda!«, lächelte sie. Sie sah auf. »Du ehrenvoll, wie auch dein Vater.«
»Mein Vater..« Er bemühte sich um eine möglichst ausdruckslose Miene. Sie ahnte ja nicht, an welcher Wunde sie mit diesen Worten rührte. Er schloss lieber die Augen, als würden ihn ihre Verrichtungen allzu sehr schmerzen.
Dennoch schien sie etwas zu ahnen. »Verzeih«, flüsterte sie leise.
»Braucht dir nicht leidtun. Ist sehr schwierig Lage wir hier! Ach verdammt, ich wünschte, ich könnte richtig mit dir reden!«, brach es auf Gildaisch aus ihm heraus. Sie verstand zwar nicht die Worte, aber den Sinn dahinter und nickte. Phelan verstand es als Zeichen, dass sie etwas offener wurde, und traute sich zu fragen: »Warum du nennst Jeldrik Geisterauge?«
Durch sie ging ein Ruck. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nicht sprechen, niemals!«
»Warum nicht? Bitte, ich sehe alle Ethenier Angst haben vor Jeldrik, will verstehen.«
Sie wich zurück, ließ ihn sogar mit halb verbundenem Oberkörper sitzen, was noch nie vorgekommen war. »Ich nicht wie andere Ethenier, ich nicht kann sagen, holt hierher blaues Licht!«
»Blaues Licht?« Phelan erstarrte. Das hörte sich ja fast an.. »Hast du schon mal..«
»Nein, nicht!!!« Sie schrie auf und presste sich die Hände an die Schläfen. Ihre Augen flackerten, sie warf den Kopf in den Nacken, ihr Mund öffnete sich.. Phelan rappelte sich mühsam auf. Jetzt würden ihre Augen schwarz werden.. aber das waren sie ja schon, doch sie wurden so weit, dass man fast nichts anderes mehr erkennen konnten. Sie begann sich vor und zurückzuwiegen, murmelte Worte in einer fremden Sprache. Trotz seines Schreckens wusste Phelan, was er zu tun hatte. Er kniete sich vor sie und hielt sie mit seinem gesunden Arm fest, damit er sie auffangen konnte, falls.. da brach sie auch schon zusammen und blieb als gekrümmtes Bündel in seinem Arm hängen. Phelan blieb nichts anderes übrig, als sie vorsichtig zu Boden gleiten zu lassen und in eines der Felle einzurollen. Mit schmerzenden Knochen blieb er neben ihr sitzen und passte auf, dass sie ruhig atmete, während seine Gedanken sich überschlugen.
Sah sie dasselbe wie Althea? Wenn dem so war, dann musste er unbedingt mehr herausfinden. Die andere Möglichkeit jagte ihm einen eiskalten Schrecken ein. Sie könnte auch eine Dienerin des Bösen sein. Aber dann würde sie das doch verbergen! Wie sollte ihm gelingen, mehr von ihr zu erfahren, ohne dass er Gefahr lief, ihr allzu viel von den Ereignissen in Gilda zu verraten? Noch mehr Fragen, die sich in seinem Kopf drehten. Er musste unbedingt Fürst Bajan sprechen, so schnell wie möglich!
Bevor er aufspringen konnte, hielt ihn sein Gewissen zurück. Ihr Wohl war jetzt wichtiger. Wenn er recht behielt, dann würde sie binnen kürzester Zeit wieder aufwachen und dann Durst haben.
Er musste fast lachen, als sie bald darauf die Augen aufschlug und verwirrt auf den Becher vor ihrer Nase starrte. Nichtsdestotrotz trank sie ihn sofort in einem Zug leer. Erst dann bemerkte sie, dass sie auf dem Boden lag. Sie fuhr hoch, starrte den dicht vor ihr sitzenden Phelan ungläubig an.
»Du haste eine.. Traum«, sagte er vorsichtig, um sie nicht weiter zu verschrecken.
Ihre Augen weiteten sich. »Woher weißt du..?«, keuchte sie und brachte so schnell wie möglich Abstand zwischen sie. Sie presste sich mit dem Rücken an die Tür.
»Ich kenne eine Junge. Hat genauso Träume von.. schrecklich Bilder.« Hinter ihr wurde die Tür aufgerissen, von Roar, der ihr wütend einen Tritt versetzte. Sie schrie auf, rollte sich herum und floh ins Dunkel.
»So, und jetzt werden wir uns unterhalten«, knurrte Roar und warf die Tür mit einem lauten Krachen hinter sich zu. Er sah finster auf die am Boden liegenden Felle hinab.
»Es gibt nichts zu unterhalten«, antwortete Phelan leise und stand mühsam auf. »Wo ist Fürst Bajan?«
Roar packte ihn derart roh an der Schulter, dass Phelan vor Schmerz aufkeuchte. Er konnte den Met in seinem Atem riechen, so dicht zog der Clansführer ihn an sich heran. »Warum, bist du nicht mutig genug, es allein mit mir aufzunehmen?«
»Warum sollte ich es mit Euch aufnehmen? Ich habe mich entschieden, und dabei bleibe ich!« Phelan stand aufrecht vor ihm und ließ sich mit keinem Wimpernzucken anmerken, wie sehr ihn der betrunkene Clansführer beunruhigte.
Sie kamen nicht mehr dazu, ernsthaft aneinanderzugeraten. Hinter ihnen flog die Tür erneut auf. »Was geht hier vor?« Mit strengem Blick drückte Bajan langsam und unerbittlich Roars Hand von Phelan fort. Hinter ihm tauchte Jeldriks angespannte Miene aus dem Dunkeln auf, nicht sicher, ob seine Hilfe noch rechtzeitig gekommen war.
»Scheint, als hätte ich dich bei etwas gestört«, knurrte Roar und nickte auf die Felle herunter. Phelan verschlug es die Sprache bei dieser Andeutung. »Wir werden jetzt reden!«
»Solange Ihr angetrunken seid und Phelan verwundet? Das denke ich nicht! Ich muss Euch bitten zu gehen«, sagte Bajan mit aller Autorität, die er aufbringen konnte. Er drängte sich an Roar vorbei und nahm Phelan besorgt in Augenschein. »Warum bist du nicht verbunden?«
Phelan kam langsam wieder zu sich, so lange hatte er Roar angestarrt. Erst jetzt merkte er, dass sein Arm nicht in der Schlinge hing und schmerzte und er fast unbekleidet war. »Wir wurden gestört, Fürst.« Langsam wich er zurück und setzte sich auf die rettende Liege.
Roar knurrte einen Fluch. Er drehte sich um und stieß Jeldrik beiseite, der sich immer noch abwartend in der Tür herumdrückte. Gleich darauf war er im Dunkeln verschwunden.
»Was ist passiert?« Jeldrik kam herein und schloss fest die Tür hinter sich.
»Nichts!« Phelan winkte ab. »Du hast Fürst Bajan gerade noch rechtzeitig geholt. Dein Vater hat die Heilerin vertrieben.« Er dankte ihm mit einem bitteren Lächeln.
»Lass mich das machen«, sagte Bajan, als Jeldrik nach den Verbänden greifen wollte. »Würdest du uns frisches Wasser besorgen?« Er wartete, bis Jeldriks Schritte draußen verklungen waren. »Erzähl, schnell!«, flüsterte er Phelan rasch zu.
»Euch kann ich nichts vormachen, oder?« Phelan erhielt eine auffordernde Geste als Antwort. »Diese Heilerin, sie ist wie Thea! Sie..«
»Was meinst du damit?«
»..sie hat Träume, Visionen. Sie sagte, Jeldrik hat Geisteraugen. Sie träumt von einem blauen Licht, aber ich weiß nicht, ob sie nicht eine Dienerin von IHM ist, versteht Ihr? Ich habe ihr nichts von Thea erzählt«, flüsterte Phelan eine hastige Zusammenfassung, ohne sich von Bajans Ausruf unterbrechen zu lassen.
Dieser hob lauschend den Kopf. »Dann hast du sie also nicht angerührt?«, fragte er laut, und richtig, draußen waren Schritte zu hören.
Phelan tat empört: »Natürlich nicht, Fürst! Sie hat das Fell ausschütteln wollen.«
Jeldrik kam mit einem Kübel Wasser herein. »Vater denkt, du hast versucht, sie zu nehmen. Das hat er eben am Feuer gesagt. Er muss wirklich betrunken sein«, meinte er kopfschüttelnd. Phelan wusste nicht, ob er über dieses zweifelhafte Lob empört oder erleichtert sein sollte, dass Jeldrik nichts gemerkt hatte, also schnitt er ihm nur eine Grimasse und sagte nichts.
»Das wird noch eine ernste Auseinandersetzung mit ihm geben«, brummte Bajan, während er Phelan einsalbte und den Brustkorb neu verband.
»Ich bleibe bei dem, was ich sagte!«, antwortete Phelan stur.
Bajan seufzte nur. Er hatte es schon geahnt, und tief in seinem Innern stimmte er Phelan sogar zu. Die Bräuche und die Ehre eines Saraners waren jedoch auch etwas, das sie nicht außer Acht lassen durften. »Das ist auch gut so, ich wünschte nur, du hättest es Roar auf eine etwas diplomatischere Weise gesagt.«
»Blöde Diplomatie«, murrte Phelan und biss die Zähne zusammen.
Am folgenden Morgen verkündete Roar finsterster Laune, dass er, bis Phelan wieder reisefähig war, auch noch die weiter entfernt liegenden Siedlungen in den Bergen aufzusuchen gedachte. So war Phelan plötzlich ganz allein. Die Ethenierin ließ sich nicht mehr bei ihm blicken, dafür kamen die anderen Kinder, Mädchen und Frauen, versorgten ihn und lauschten fasziniert den Geschichten über seine Heimat. Bei all diesen Aufmerksamkeiten und der Ruhe vor Auseinandersetzungen blieb ihm gar nichts anderes übrig, als gesund zu werden. Sobald er einigermaßen wieder hergestellt war, stand er regelmäßig auf. Für seinen Arm konnte er wenig tun, für den Rest jedoch.. stetig blieb er länger auf, und wenn er genug Kraft hatte, stieg er auf einen der Türme. Hier war er tagsüber fast allein, bis auf das eine oder andere neugierige Kind, das sich zu ihm hinaufschlich. Den meisten Frauen und Mädchen war die Höhe nicht geheuer. Bei all ihren Aufmerksamkeiten war ihm die Einsamkeit des Turmes ganz recht, hier konnte er in Ruhe nachdenken oder seinen Gedanken nachhängen, den Blick stets dorthin gerichtet, wo sein Bruder jetzt sein musste.
Phelans Prellungen verfärbten sich langsam in alle möglichen Gelb-und Grüntöne, als die Männer schließlich zurückkehrten. Ihm fiel sofort eine große Veränderung in Jeldrik auf. Er wirkte sehr viel selbstsicherer als vorher, es schien, als hätte er von den Männern jede Menge Zuspruch erhalten. Seinen Vater behandelte er mit einer Höflichkeit, die eindeutig gildaischen Ursprungs war und wie sie eisiger nicht sein konnte. Roar schien es ihm heimzuzahlen, indem er ihn einfach ignorierte.
Jeldrik berichtete Phelan am Abend von seinen Erlebnissen: »Sie hören mir alle zu. Keiner unterbricht mich, niemand spottet oder dergleichen. Sie nehmen mich ernst. Das ist..« Er suchte nach einer Beschreibung.
»Es lässt einen gleich doppelt so groß vorkommen, nicht wahr?«, half ihm Phelan.
»Jaahh..« Jeldrik grinste verlegen, doch sein Grinsen verblasste schnell, als er fortfuhr: »Es ist, als hätten die Männer mich längst im Rat akzeptiert.«
»Die Clansführer der anderen Siedlungen nehmen sogar an, dass du im Rat bist.« Bajan hatte seine letzten Worte gehört. Er kam mit seinen üblichen Utensilien herein. »Zeit, deinen Verband zu wechseln, Phelan.«
»Och, kann ich den um meine Brust nicht weglassen? Er juckte die ganze Zeit.« Phelan verzog das Gesicht.
»Wo ist denn die Heilerin?« Jeldrik sah hinter Bajan, konnte sie aber nicht entdecken.
»Sie versteckt sich«, sagte Phelan mit einem Schulterzucken und einem schnellen Blick auf Bajan.
»Wegen mir?«
»Nein, das wohl nicht«, brummte Bajan. »Diese Heilerin ist mir ein Rätsel. Es scheint, dass niemand sie mehr gesehen hat. Mach schon, Phelan. Morgen reiten wir zurück, da wirst du die Stütze um deine Brust brauchen.« Phelan ergab sich seufzend seinem Schicksal.
»Fürst, warum vermuten die Clansführer, dass ich im Rat bin?« Diese Frage beschäftigte Jeldrik schon die ganze Zeit.
»Es liegt zum einen daran, wie du das Wort ergreifst. Niemand würde auf den Gedanken kommen, dass dies das erste Mal für dich ist. Du machst das hervorragend«, lobte Bajan. Jeldrik wurde rot, und Phelan grinste. Bajan drückte Phelans Oberkörper mit einem strengen Blick zurück, begann ihn einzusalben und fuhr an Jeldrik gewandt fort: »Zum anderen hat ihnen niemand etwas gesagt. Nur die Männer deines Vaters haben etwas von eurer Auseinandersetzung mitbekommen, und sie schweigen aus Treue zu ihm.«
Jeldrik wirkte erleichtert. »Dann schade ich ihm nicht damit?«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Es ehrt dich, dass du immer noch an sein Ansehen denkst, aber du wirst noch schnell genug in die Lage kommen, wo du darauf keine Rücksicht mehr nehmen kannst. Dreh dich um, Phelan.« Bajan nahm sich seinen Rücken vor. »Ich glaube, Jeldrik, dass er im Grunde sehr stolz auf dich ist, nur will er unter allen Umständen den Eindruck vermeiden, er verhätschle dich. Er beobachtet dich genau, wenn keiner hinsieht.«
»Aber Ihr seht es.« Jeldrik senkte den Kopf, um das Leuchten seiner Augen zu verbergen.
»Alte Kundschafterangewohnheit«, brummte Bajan. »War dein Vater heute schon hier?«
»Nein, aber die anderen Mädchen.« Jeldrik lachte, als er zu Abwechslung einmal Phelan rot werden sah.
»Soso!« Bajan schmunzelte. »Jeldrik, ich könnte etwas zu trinken vertragen. Würdest du wohl..?«
»Natürlich, Fürst.«
Bajan wartete, bis er weit genug fort war. »Das mit der kleinen Heilerin gefällt mir nicht. Ich würde sie gerne unter näherer Beobachtung halten, um mehr über sie herauszufinden«, sagte er leise zu Phelan.
»Ihr wollt sie mitnehmen? Glaubt Ihr denn, die Leute hier lassen sie gehen?«
Bajan rieb sich über den Bart. »Hmm.. wenn du die Heilerin bräuchtest, um völlig gesund zu werden.. lass mich nur machen.«
Phelan protestierte: »Oh nein, Fürst, die Saraner würden sie einfangen und sie zwingen.. ich werde sie fragen. Ihr wisst doch, wie sie hier verehrt wird und..«
»..und dennoch ist sie Besitz des Clansführers! Du musst lernen, ihre Sitten zu respektieren, sonst wirst du nicht weit kommen«, unterbrach Bajan ihn streng.
Phelan kniff die Lippen zusammen und schwieg, bis Bajan fertig war. »Kann.. ich werde sie trotzdem fragen!«
Bajan schmunzelte und erhob sich. »Natürlich wirst du das, und ich mache mich auf die Suche nach dem Clansführer.. danke, mein Junge.« Er nahm dem verdutzten Jeldrik einen Becher aus der Hand und ging hinaus.
Phelans gut gemeinte Absicht scheiterte. Sie versteckte sich vor ihm, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, sie wirklich einzufangen, als Clansführer Corin bei ihrem Aufbruch überraschend verkündete, er würde die Heilerin Phelan zum Geschenk machen. Es war sein Dank dafür, dass durch seine Einfälle die Siedlung befestigt worden war. Phelan tat es in der Seele weh zu sehen, wie sie das schreiende und sich windende Mädchen kurzerhand fesselten und auf ein Pferd banden. Es sorgte für einen Aufstand unter den dunklen Leuten, die mit Gewalt daran gehindert werden mussten, ihr zu helfen.
»Es tut mir leid«, flüsterte Phelan so leise, dass niemand sonst es hörte, als er umständlich ihre Zügel an sein Pferd band. Sie fauchte etwas in ihrer Sprache und spuckte voller Verachtung aus, nicht nur zufällig in Richtung seines Gesichts. Phelan wischte sich langsam mit dem Handrücken sauber. Sie duckte sich in Erwartung eines Schlages. »Ich sage noch einmal, keine Angst hab vor mir. Irgendwann ich dir werde erklären.« Er wandte sich ab und ließ sich von Jeldrik aufs Pferd helfen. Besser, sie kamen hier weg und sie hatte erst einmal Zeit, sich zu beruhigen. Den restlichen Tag beachtete er sie nicht mehr.
Die Reise zurück wurde für Phelan zur Qual. Nicht nur, dass er mit seinen Verletzungen zu kämpfen hatte, auch Roar bedachte ihn mit dem einen oder anderen finsteren Blick, bei dem er befürchtete, dass es noch nicht ausgestanden war. Er ließ die Heilerin nicht von seiner Seite – die Erfahrungen mit Rana hatten ihn das gelehrt – sie jedoch schwieg. Nach ihrem ersten Ausbruch ließ sie alles mit einer ruhigen Würde über sich ergehen, die selbst den härtesten Männern Respekt einflößte. Sie versorgte Phelans Wunden und auch die Blessuren der anderen und machte keinerlei Versuche zu fliehen, sodass sie ihr die Fesseln bald abnehmen konnten. Die meiste Zeit saß sie regungslos da, zu Pferd oder auf dem Boden, und sagte nichts. Nur Bajan fiel auf, dass sie stetig blasser wurde, und eines Nachts fand er heraus, dass sie nicht schlief. Er fand sie dem Mond zugewandt vor, die Hände erhoben und summend zu unbekannten Göttern flehend.
Sie war auf jeden Fall eine Priesterin, kamen Bajan und Phelan am nächsten Tag überein, als sie sich darüber unterhielten.
Das Verhalten der dunklen Leute in den Siedlungen schien ihren Verdacht zu bestätigen. Sie sahen Erschrecken, teilweise sogar Wut bei ihnen, als sie der kleinen Heilerin ansichtig wurden, und es verneigten sich ausnahmslos alle vor ihr, sodass sie ernsthaft ins Grübeln kamen, wen sie dort eigentlich mitgenommen hatten. Phelan kamen Zweifel, ob dies wirklich ein so guter Einfall gewesen war. Er war heilfroh, als endlich die Ausläufer Sarans in Sicht kamen. Vielleicht fand Rana ja etwas mehr über sie heraus.
Sobald Saran in Sicht kam, verrenkte Phelan sich fast den Hals, weil er sehen wollte, ob er Regnars Schiff entdecken konnte. Vergebens, das Gewirr der Masten war einfach zu dicht. Das Frühjahr war eine der geschäftigsten Zeiten des Jahres, dann, wenn die Winterfahrer aus weit entfernten Ländern zurückkehrten und eine Vielzahl Waren und mancherlei Beute mitbrachten. Regnar war schon bei ihrem Aufbruch überfällig gewesen, zumindest nach den Maßstäben der gildaischen Pünktlichkeit, und obwohl er ihnen im letzten Herbst bereits angekündigt hatte, er würde als Erstes einen Hafen in der Nähe Temoras ansteuern. Er musste inzwischen einfach angekommen sein, sonst war etwas Ernsthaftes geschehen. Voller Unruhe spähte Phelan voraus.
Bald hatten auch die ersten Bewohner die Ankommenden entdeckt. Sie strömten zusammen. »Tu mir einen Gefallen und halte mir Jorid vom Leib«, raunte Phelan Jeldrik zu, als das Gewühl immer dichter wurde und er mit Schrecken erkannte, dass die meiste Aufmerksamkeit ihm galt. Kein Wunder, so, wie er aussah.
»Warum?«, fragte Jeldrik erstaunt, oder hörte Phelan da nicht eine kleine Portion Belustigung in seiner Stimme?
»Tu’s einfach, ja?«
»Willst du nicht, dass sie dich gesund pflegt? Mit.. ah, persönlicher Aufmerksamkeit?« Jeldrik gab sich keine Mühe mehr, seinen Spott zu verbergen, wusste er doch genau, wie sehr Jorid Phelan immer in Verlegenheit brachte und er sich hütete, allein mit ihr zu sein.
»Hm..«, machte Phelan, »ähm.. denk an ihre Augen. Ich will nicht, dass sich das Mädchen noch mehr erschreckt«, sagte er abwesend und starrte mit ausdruckslosem Gesicht in die Menge. Er suchte..
»Keine Sorge.« Ein Stoß Jeldriks lenkte ihn ab, doch dieser kam nicht mehr dazu, sein Versprechen abzugeben.
»He, Kleiner, bist du vom Pferd gefallen?«
»Oder der Tochter eines Clansführers zu nahe getreten?«
»Haltet den Mund!«, fauchte Jeldrik in Richtung der drei Unholde, die mit spöttisch verschränkten Armen am Weg standen. Sie lachten.
»Eure Stunde wird noch kommen«, murmelte Phelan, ohne die Lippen zu bewegen, und so leise, dass nur Jeldrik es hören konnte. Die Männer nahmen es jedoch persönlich. Bado wurde mit einer Ohrfeige zurück in die Gassen geschickt. Oren und Haldar flohen johlend hintendrein.
Kaum waren sie fort, entdeckte Phelan im Schatten einer Hüttenwand den Schmied Bryn und neben ihm.. er stieß erleichtert die Luft aus. Regnar. Der alte Seeräuber zog unmerklich die Brauen über den schrägen Augen hoch, als er seiner ansichtig wurde. Gleich darauf war er in der wartenden Menge verschwunden, eine breite Schneise zurücklassend, wo die Menschen ihm ausgewichen waren.
»Du wirst ihm jetzt nicht folgen«, sagte Bajan plötzlich leise neben ihm.
Phelan zuckte zusammen. War ihm das so deutlich anzusehen gewesen? Er musste vorsichtiger sein! »Ja, Fürst!« Er zwang sich, wieder unbeteiligt nach vorne zu sehen. Hoffentlich hatte niemand seinen stummen Austausch mit Regnar bemerkt. Zum Glück ritten sie jetzt den Hügel hinauf und wurden unter lauten Begrüßungsrufen der Frauen und Kinder auf dem Platz vor der Halle des Clansführers in Empfang genommen. Die kleine Heilerin erschrak vor dem Trubel und lenkte ihre Stute dicht an Bajan und Phelan heran. ›Sieh an, wie bei Rana!‹, dachte er. Vorsichtshalber hielten sie ein wenig Abstand zu den restlichen Männern, denn jetzt drängten alle heran, und dann schob sich auch schon eine große, schlanke und seltsam helle Mädchengestalt nach vorne durch und hielt auf sie zu.
»Was ist passiert?!«, rief sie aus.
Phelan fluchte lautlos, als er das Mädchen neben sich zusammenzucken und sich ducken sah. Jeldrik reagierte sofort, er sprang von seiner Stute und fing seine Schwester ab. »Jorid, warte! Bleib zurück!«
»Aber, was..?« Sie versuchte, an seiner Schulter vorbei einen Blick auf Phelan zu erhaschen.
Dieser war längst von seiner Stute herunter und hatte das Mädchen ebenfalls in Sicherheit vor dem Anblick der vermeintlichen Geisteraugen gebracht. »Es ist schon wieder fast verheilt«, rief er über die Schulter in ihre Richtung. Das Mädchen duckte sich hinter ihm. »Fürst, lasst uns..«
»Schleppst du schon wieder ein Mädchen an?!« Plötzlich stand Sylja vor ihnen. Das Mädchen sah mit schreckgeweiteten Augen auf. Die große Frau mit den in die Hüften gestemmten Armen war ein beeindruckender Anblick, nicht nur, wenn man sie das erste Mal sah. Sie musterte Phelan von oben bis unten. »Ich muss schon sagen..«
Phelan wusste sie längst zu nehmen. Er unterbrach sie einfach: »Bitte lass uns einen Moment in Ruhe, Sylja. Fürst, wir bringen sie in unsere Hütte, da ist sie erst einmal sicher und.. he, was ist denn nun..?« Alarmiert sah er sich um.
Die Wut und die Empörung der dunklen Leute, die in den anderen Siedlungen nur unterschwellig zu spüren gewesen war, trat hier mit einem Schlag zutage. Während dort nur wenige Geiseln waren, lebten in Saran weitaus mehr, und plötzlich waren die Heilerin und ihre Begleiter umringt und getrennt von den anderen, und die Sklaven verneigten sich alle, flüsterten ein Wort, immer und immer wieder.. »Yenene.. Yenene..«
Phelan und Sylja wurden von vielen Händen davongezerrt, die eindeutig nicht sanft mit ihnen umgingen, sie sogar traktierten, sodass Phelan zu Boden ging und Syljas schmerzhafter Aufschrei noch eher die Männer auf den Plan rief als die Warnrufe Bajans und Jeldriks. Was als freudige Begrüßung begonnen hatte, endete in einem wüsten Aufstand der dunklen Leute, den die Männer mit aller Gewalt unterbanden. Phelan wusste nicht, wie ihm geschah, so schnell ging alles, doch da half ihm eine kleine Hand auf und zog ihn in die Sicherheit einer Hüttenwand. Die Ethenierin keuchte mit schreckgeweiteten Augen, während sie sich an Phelan klammerte. »Sollen aufhören..«
»Ja, sollen sie!« Phelan rappelte sich mühsam auf. »Aufhören!«, brüllte er, und das Wort wurde von einer durchdringenden, hellen Stimme in einer fremden Sprache wiederholt. Bei diesem fremden Laut fuhren alle zu ihnen herum. Ungläubig starrten sie auf die beiden kleinen dunkelhäutigen Gestalten an der Hüttenwand.
Die Ethenierin rief etwas in ihrer Sprache: »Ich ihnen gesagt, freiwillig hier wegen dir«, erklärte sie leise.
Phelan sah, dass die Ethenier augenblicklich die Gegenwehr einstellten und dies von den Saranern sofort ausgenutzt wurde, sie endgültig unter Kontrolle zu bringen. Nicht nur einer der dunklen Leute war böse verletzt. Das brachte Phelan auf. »Sie nicht böse gemeint haben. Dies Mädchen hier ihre Priesterin ist und wollten geziemend begrüßten. Loslassen, sofort!« Er hielt die Luft an. Würden sie es tun?
»Es war nur ein Missverständnis«, drang Bajans Stimme durch die Menge. Er hatte nicht gekämpft, sondern die Kinder in Sicherheit gebracht, saranische wie ethenische. Jetzt stand er mit verschränkten Armen vor der Menge und wirkte denkbar ungehalten. »Hört endlich auf.«
»Lasst sie gehen«, befahl Roar. Sein Grollen war so weit zu hören, dass er nicht einmal die Stimme heben brauchte. Mit finsterem Blick marschierte er auf Phelan und seine Geisel zu. Er teilte die Menge wie ein Schwert, und die dunklen Leute nutzen die Gelegenheit, sich in alle Richtungen davonzumachen.
»Nichts als Ärger hat man mit dir!«, grollte er in Phelans Richtung, half Sylja auf und brüllte ein paar Befehle. Augenblicklich brach alles in hektische Aktivität aus. Die Pferde wurden wieder eingefangen und fortgebracht, und alle wandten sich wieder ihren Aufgaben zu. Roar fixierte das Mädchen mit einem derart drohenden Blick, dass es sich duckte. »Ich dulde keine Unruhestifter hier auf meinem Sitz. Sperrt sie ein!«
»Nein, Fürst!« Phelan stellte sich schützend vor sie.
»Vater, das war doch alles nur ein Missverständnis..«
»Du hältst dich da raus!«, knurrte Roar in Jeldriks Richtung und dann in Phelans: »Wir werden uns unterhalten, und zwar jetzt gleich.« Es fehlte nicht viel und Roar hätte Phelan am Kragen seines Hemdes gepackt.
»Das halte ich für einen guten Vorschlag, denn ich habe auch noch etwas mit Euch zu bereden.« Bajans ruhige Stimme sorgte wie immer für Beschwichtigung. »Lasst uns eben unser Gepäck hineinbringen«, und leise fügte er hinzu: »Phelan, bring sie in die Hütte, mach schon!« Er wollte das Mädchen so schnell wie möglich aus dem Weg haben, bevor noch ein Unglück geschah. Sie hatten die Lage gründlich unterschätzt und jetzt ein gewaltiges Problem.
»Tut, was Ihr nicht lassen könnt!«, knurrte Roar und ließ sie einfach stehen. Phelan nutzte die Gelegenheit, das Mädchen durch die angrenzende Tür zu schieben. Aufatmend lehnte er sich dagegen. »Puh!« Er atmete aus und lauschte nach draußen.
Dort hielt Jeldrik gerade seine Schwester zurück: »Nein, du lässt sie in Ruhe. Sie hat Angst vor uns beiden. Warum, das erkläre ich dir später.«
Phelan folgte der Heilerin mit den Blicken durch den Raum. Sie ließ sich zögerlich auf der umlaufenden Schlafbank nieder. »Was nun tun?«, fragte sie leise.
»Ich weiß nicht. Roar wird mich.. er ist böse auf mir. Habe beleidigt. Vielleicht ich..« Er wurde beiseitegeschoben, als Bajan die Tür aufdrückte und ihr Gepäck hereinreichte.
»Ich habe jemanden mitgebracht«, sagte er und winkte die dunkle Frau herein, die Phelan damals schon mit Rana geholfen hatte. Stumm und ehrfurchtsvoll verneigte sie sich vor dem Mädchen.
»Du bitte bleiben bei ihr bis wir zurück von Roar, ja?«, bat Phelan sie. Sie nickte stumm und kniete sich vor das Mädchen, das ihr regungslos entgegen sah.
»Nun denn..« Bajan befahl Phelan mit einem ernsten Blick mitzukommen. Die dunkle Ahnung, die Phelan schon die ganze Zeit befallen hatte, bewahrheitete sich, und der dicke Kloß in seinem Magen wurde zu einem Felsbrocken, als er Bajan zur großen Halle folgte.
Gedrücktes Schweigen herrschte dann auch, als sie die sonst so geschäftige Halle betraten. Diejenigen Frauen und Kinder, die nicht mit den Männern nach Hause gegangen waren, hielten mit ihren Verrichtungen inne und sahen ihnen stumm entgegen. Die dunklen Leute hatten das Weite gesucht. Sie fürchteten ihre Vergeltung auf den Angriff von eben, zu Recht. Phelan taten sie leid, denn er wusste, dass nicht nur einer heute unter den Schlägen seines Herrn zu leiden haben würde.
Fürst Roar erwartete sie allein. Er sah nur kurz auf, als sie eintraten, keine Begrüßung, nichts. Wo war Jeldrik? Phelan sah sich unauffällig um, und als hätte er es geahnt, öffnete sich die Tür gegenüber einen winzigen Spalt. Er lauschte, oder war es Jorid?
Roar lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Ein knappes Nicken in Bajans Richtung, und dieser verstand es richtig und setzte sich. Phelan dagegen blieb aufrecht und wachsam vor ihm stehen. »Einen schönen Fang habt ihr da gemacht. Was hast du nun mit ihr vor?«
Damit hatte Phelan nicht gerechnet. Er blieb auf der Hut. »Es kommt darauf an.«
»Worauf?«
»Was mit mir geschieht.« Phelan beschloss, gleich in die Offensive zu gehen. »Ihr habt mich doch nicht hierherbefohlen, um mit mir über das Mädchen zu reden, oder?«
Roar stand ganz langsam auf. »Gut, wie du willst, aber erst einmal..« Er fuhr herum und riss die Tür auf. »Was habt ihr hier zu suchen?!«, knurrte er.
Jorid flüchtete sofort, aber Jeldrik blieb. Er trat seinem Vater ruhig gegenüber. »Ich möchte wissen, weshalb du Phelan zu dir gerufen hast«, entgegnete er ohne eine sichtliche Regung, und dann ging er einfach um ihn herum und stellte sich neben Phelan. Sie tauschten einen kurzen einvernehmlichen Blick, so schnell, dass es schon wieder vorbei war, als Roar sich vor ihnen aufbaute.
»Was geht dich das an!« Die Pranken landeten krachend auf dem Tisch. Roar funkelte seinen Sohn an.
»Phelan ist mein Freund«, sagte Jeldrik schlicht, und Phelan ergänzte: »Ich kann nicht Ehrbezeichnungen für etwas annehmen, das mir nicht gebührt, jedenfalls nicht mir allein.«
»Ich werde nicht akzeptieren, dass du Jeldrik in Schutz nimmst, und wenn er dir hundertmal versucht hat zu helfen. Es ist eines Saraners nicht würdig!«
»Vater, ich..«
»Fürst..«, Phelan hob seine gesunde Hand, und Jeldrik verstummte, »ich bin kein Saraner, ich bin Gildaer. Ich stehe tief in Jeldriks Schuld, und dies ist es, was mich zwingt, Eure Einladung abzulehnen, auch wenn dies bedeutet, dass ich gegen Eure Sitten verstoße. Ich kann nicht anders.«
»Dann«, Roar fixierte seinen Sohn, was diesen sofort den Kopf heben ließ, »erklär deinem ach so treuen Freund einmal auf, was mit denjenigen geschieht, welche die Berufung in den Rat ablehnen.«
Jeldrik schluckte nicht, nur seine Augen verrieten, was er dachte. »Sie werden des Herrschaftsgebietes des Clansführers verwiesen«, sagte er leise.
Phelan zuckte mit keiner Wimper, und sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos, als er erwiderte: »Dann weiß ich, was ich zu tun habe!« Er deutete eine leichte und selbst für Roar gut sichtbar verächtliche Verbeugung an und ging hinaus.
»Vater, das kannst du doch nicht machen!«, zischte Jeldrik.
»Du hältst dich da raus! Wenn..«
»Nein, das werde ich nicht!«
»Es ist gut, Jeldrik.« Bajans ruhige Autorität brachte sie einmal mehr auseinander. »Ich bin sicher, wir werden eine für alle Seiten akzeptable Lösung finden. Bitte folge ihm und sieh zu, dass er keine Dummheiten macht, einverstanden?«
Sobald die Tür hinter seinem Sohn zufiel, ließ sich Roar auf seinen Sitz fallen und rieb sich über das auf einmal müde wirkende Gesicht. Bajan schwieg und wartete, dass er zu sprechen begann.
»Ich wollte wissen, wie weit er geht.« Es klang wie eine Entschuldigung. »Ich muss schon sagen, Phelan hat wirklich einen Dickschädel.«
»Er ist nicht gerade diplomatisch vorgegangen«, rügte Bajan, und auch diese Worte enthielten eine leise Entschuldigung.
Roar schnaubte. »Nicht diplomatisch?! Ich hätte mein Gegenüber wahrscheinlich angebrüllt oder Schlimmeres. Jeder andere Saraner auch. Er ist wirklich beherrscht und geht bis zum Letzten, um seinen einmal eingeschlagenen Weg zu verteidigen.«
»Was erwartet Ihr? Er ist der Sohn seiner Mutter.« Bajan musste trotz der ernsten Lage fast schmunzeln.