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Kapitel 3
ОглавлениеVom Adrenalin angetrieben, pumpte Evelyns Herz ihr Blut in Schallgeschwindigkeit durch ihre Adern. Wohin sollte sie fahren? Was sollte sie machen? Wer war das? Was wollten die? Woher wussten die überhaupt, dass Andreas und sie im Labor waren? Was war mit Andreas? Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf und auf keine wusste sie auch nur annähernd eine Antwort. Automatisch lenkte sie ihr Auto in Richtung ihrer Wohnung.
Von weitem drangen Feuerwehrsirenen an ihr Ohr, die mit großem Alarm Richtung Labor ausrückte. Das war die Reaktion auf den von ihr ausgelösten Feueralarm. Die werden das Labor aufsuchen und Andreas helfen, tröstete sie sich. Vom letzten Fehlalarm wusste sie, dass die Jungs von der Feuerwehr den Alarmauslöser aufsuchten und der befand sich in ihrem Labor. Vielleicht bräuchte sie sich nur ein bisschen in ihrer Wohnung zu verkriechen, bis die Polizei eintraf und sie sich dann bei denen melden könnte.
Auf dem Weg nach Hause brach sie alle Geschwindigkeitsrekorde. Dummerweise versäumte sie es, früh genug in ihre Straße, in der sie wohnte abzubiegen, daher blieb ihr nichts anderes übrig, als einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen und von hinten an ihr Haus heranzufahren. Mit pochendem Herzen ließ sie ihr Auto auf dem Hof hinter dem Haus stehen und hastete mit den aus dem Labor mitgenommenen Sachen nach oben in ihre Wohnung in der ersten Etage.
Im Haus war alles still. Klar, es war Wochenende. Die Nachbarn über ihr machten bestimmt wieder einen Ausflug mit den Kindern, wahrscheinlich in den Zoo, wie Sarah, deren Tochter ihr gestern stolz berichtet hatte. Und der Nachbar unter ihrer Wohnung befand sich in der Türkei im Urlaub.
Endlich erreichte sie außer Atem ihre Wohnungstür. Umständlich kramte sie mit ihren Fingern in der Handtasche zwischen den Ampullen nach den Wohnungsschlüsseln. Auf den Tastsinn ihrer Finger vertrauend, heftete sich ihr Blick auf ihre Wohnungstür. Irgendetwas stimmte nicht. Der Türgriff war schief und ein schmaler Spalt klaffte zwischen dem Türrahmen und der Tür.
Langsam, wie in Zeitlupe, hörte sie auf in ihrer Tasche zu suchen und drückte vorsichtig gegen ihre Haustür. Ohne Widerstand schwang sie weit auf. Die soeben noch gespürte vermeintliche Sicherheit und Ruhe sowie der Beschluss in ihrer Wohnung auf die Polizei zu warten, löste sich umgehend in Luft auf. Lauschend stand sie im Flur, ängstlich darauf horchend, ob vielleicht noch jemand in ihrer Wohnung wäre. Doch alles war still. Mit weichen Knien betrat sie schließlich ihr Appartement.
Auf dem Boden der Diele lagen die Jacken, die vorher an der Garderobe hingen, dass Wohnzimmer war durchwühlt und befand sich in einem heillosen Chaos. Alles was vorher in ihren Schränken war, lag nun kreuz und quer auf dem Boden verteilt. Die Blumen waren von der Fensterbank gerissen und lagen geknickt mitsamt der Erde zwischen ihren Büchern. Zerbrochenes Glas und Porzellan knirschte unter den Sohlen ihrer Stiefel.
Auch im Schlafzimmer bot sich ein Bild der Verwüstung. Das Bettzeug lag zusammen mit ihrer Kleidung aus dem Kleiderschrank auf dem Boden. Alle Schubladen und Schränke waren aufgerissen und gähnten in beraubter Leere.
Das Laptop welches sich in Eves Nachtschrank befand, fehlte. Ebenso die Speichersticks die in einer Blumenvase im Wohnzimmerschrank gelagert waren.
Oh mein Gott, durchfuhr es sie. Die wissen wo ich wohne. Keine Frage, der Einbruch im Labor stand mit diesem Chaos in Verbindung. Das hieße, dass die Männer nur eins und eins zusammenzählen mussten um zu wissen, wo sie sich befand. Schlagartig erwachte sie aus ihrer Schockstarre. Vor ihren Füßen lag eine Sporttasche die sie seit Wochen nicht mehr benutzt hatte. Dank der unbekannten Einbrecher war sie von dem Sportzeug entleert. Hastig ergriff sie die Tasche und stopfte ein paar Klamotten hinein.
Nur das Nötigste um vielleicht zwei oder drei Tage irgendwo zu übernachten. Den Reisepass fand sie zwischen der Kakteenerde und dem, was einmal ein schöner großer Kaktus war. Ganz oben in die Tasche legte sie das Notebook mit dem Stromkabel.
Im Hinausgehen fand sie ihr altes Glassparschwein, in dem sie über Jahre hinweg Geldscheine gesammelt hatte. Heute war der Tag an dem es dran glauben musste. Beherzt zerschlug sie das Glas und stopfte sich das Geld in die Handtasche. Danach setzte sie ihre Flucht aus der Wohnung fort und lief mit der Sporttasche an der Hand wieder herunter in den Keller zum Hinterausgang. In ihrer Eile vorhin, hatte sie vergessen, ihr Auto abzuschließen, somit konnte Eve direkt in ihr Auto einsteigen, ohne es vorher aufzuschließen. Die Sporttasche und die Handtasche warf sie auf den Beifahrersitz.
Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde startete sie zitternd ihr Auto. Ihre Gedanken rasten, wohin sollte sie bloß fahren? Zu ihren Eltern? Nein, auf keinen Fall. Die wollte sie nicht in Gefahr bringen. Genauso wenig wie ihre Freundin Monika. Die Polizei! Die sollte ihr helfen können. Genau. Erleichtert, dass ihre grauen Zellen doch noch nicht komplett den Dienst verweigerten, fuhr sie vom Hof und bog auf die Hauptstraße ein. Es war wenig los auf der Straße und so brauchte sie an der Einmündung gar nicht lange warten.
Vor ihrem Haus stand ein schwarzer Golf, der ihr völlig unbekannt war. Aus den Augenwinkeln heraus sah Evelyn im Vorbeifahren zwei Männer darin sitzen. Zwei Männer in einem Auto, die den Eingangsbereich zu ihrem Haus beobachteten, reichten in dieser Situation vollkommen aus, um Evelyns Adrenalinpegel weiterhin auf Rekordniveau zu halten und ihrer Panik einen festen Platz in ihrer Gefühlspalette zuzuordnen. Die beiden Typen in dem Golf schauten erstaunt auf sie und ihr Auto, während sie an denen vorbei fuhr. Allerdings reagierten sie viel cooler, als es bei ihr selbst der Fall war.
Wie Evelyn nicht anders erwartete, nahm der Fahrer des Golfes mit laut aufheulendem Motor die Verfolgung auf. Du lieber Himmel, stöhnte sie entsetzt am Lenkrad ihres kleinen Nissans, mir bleibt aber auch nichts erspart. Die Ampel vor ihr sprang auf Rot um. Sie beschloss, nicht anzuhalten, denn sonst, das wusste sie instinktiv, wäre sie geliefert. Also trat sie das Gaspedal durch und fuhr mit vollem Risiko über den Kreuzungsbereich.
Die Autofahrer rechts und links hupten. Doch da auf Grund des Wochenendes nicht viel auf den Straßen los war, hatte sie Glück und nichts passierte. Leider war das Glück auch dem Golffahrer hinter ihr hold, denn der blieb dummerweise hinten an ihrem Fahrzeugheck kleben. Mit dem Mut der Verzweiflung fuhr Eve über jede rote Ampel, missachte alle Vorfahrtsregeln und hüpfte wie eine Gehirnamputierte auf Drogen zwischen den Fahrzeugen hin und her, um den Abstand zu ihrem Verfolger zu vergrößern.
Es war wie verhext. Obwohl sie mit ihrem Auto zu einem mobilen Gegenstand öffentlichen Ärgernisses und einer Gefahr für die Allgemeinheit mutierte, war nicht ein einziger Streifenwagen zu sehen, der ihr zu Hilfe hätte eilen können. Wenn man die Jungs einmal brauchte, waren sie nicht da und sonst hockten sie hinter jedem Busch, um die ahnungslosen Autofahrer zur Kasse zu bitten. Ihr Unglück verdammend und mit einer Reihe Schimpfworten auf den Lippen setzte sie ihren Weg zur Polizeiwache des Stadtteils fort.
Endlich erreichte sie die Polizeistation. Auf dem Parkplatz vor dem Wachgebäude war kein Auto zu sehen. Im Gegenteil, der Parkplatz schien regelrecht verwaist zu sein. Die Wache war unbeleuchtet und machte einen geschlossenen Eindruck. Auch das noch! Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Vage viel ihr ein, dass sie vor vielleicht zwei oder drei Wochen in der Stadtteilzeitung gelesen hatte, dass die Polizeidienststellen aus Kostengründen zusammengestrichen und zentralisiert wurden. Diese Wache gehörte offensichtlich auch zu den betroffenen Stationen. Tränen der Verzweiflung bahnten sich den Weg. Das konnte doch alles nicht wahr sein!
Hinter Evelyn fuhr der schwarze Golf auf den Parkplatz und blockierte die Ausfahrt. Ganz langsam. Klar, er hatte alle Zeit der Welt, schließlich wäre sie gezwungen, an ihm vorbei zu fahren um den Parkplatz zu verlassen. Was diese Typen aber ganz sicher nicht zulassen würden, da war sie sich ziemlich sicher. Wenn die schon so dreist waren, ihre waghalsigen Fahrmanöver eins zu eins mitzumachen, dann hätten die vermutlich auch kein Problem damit, sie in aller Öffentlichkeit anzugreifen. So ein Mist! Ärgerte sie sich über sich selbst, sie hatte totalen Mist gebaut. Wie sollte sie jetzt noch entkommen?
Siegessicher hielt der Fahrer des Golfs an und aus der geöffneten Beifahrertüre stieg ein Gorilla von einem Mann. Dem breiten Grinsen nach zu urteilen, war er sich absolut sicher, seine Beute in die Enge getrieben und erwischt zu haben. Vor Aufregung biss sich Eve auf die Unterlippe und betrachtete voller Angst den Mann, der auf sie zu lief. Dann sah sie, dass er in einer Hand eine Pistole hielt. Ohne dass der Typ sein Vorhaben in Worte fassen musste, war ihr klar, was der Kerl im Sinn hatte. Dieser Anblick veranlasste Evelyn schlagartig ihre Verzweiflung bitter herunter zu schlucken und nach einem Ausweg zu suchen. An diesem Punkt angekommen war ihr so ziemlich alles egal.
Mit einem lauten Ratschen legte sie den ersten Gang ein und fuhr wieder an. Im Rückspiegel sah sie den Typen von hinten auf ihr Fahrzeug zu laufen, sogar im Rückspiegel konnte sie sein selbstgefälliges Grinsen erkennen, dass förmlich von einem Ohr zum Anderen ging. Mit dem Mut der Verzweiflung quälte sie mit aufheulendem Motor und protestierendem Getriebe ihren Nissan über die Bordsteinkante des Parkplatzes, quer über ein Beet mit diversen Grünpflanzen, anschließend über den Bürgersteig und schlitternd weiter über die angrenzende Bushaltestelle auf die Straße. Die Aktion war bestimmt nicht ohne Folgen für ihr Auto geblieben, da war sich Evelyn ziemlich sicher. Der nächste TÜV Termin dürfte teuer werden. Wenn sie überhaupt noch einen TÜV brauchte….
Die Autofahrer die ihre Aktion kopfschüttelnd und unter einem Hupkonzert begleitet hatten, setzen ihre Fahrzeuge um sie herum wieder in Bewegung. Ohne die Zeit zu haben, auf das entrüstete Kopfschütteln über ihr Verhalten zu reagieren, fuhr Eve in halsbrecherischem Tempo weiter, denn die Verfolger nahmen ihre Fährte wieder auf. Doch zum ersten Mal war sie ihnen so weit entwischt, dass sie sich außerhalb deren Sichtweite befand. Durch diverse Nebenstraßen fuhr sie möglichst unauffällig in Richtung Autobahn. Sie hatte Glück und erreichte unbemerkt die Auffahrt in Richtung Düsseldorf.
Unterwegs kramte sie ihr Handy hervor und versuchte einen Notruf abzusetzen. Irgendwie musste sie die Polizei ja erreichen. Doch anstelle eines Freizeichens oder eines Anrufes erklang immer wieder die Ansage:
››Dienst oder Dienstmerkmal nicht möglich.‹‹
So schnell ihr kleiner Wagen es zuließ, fuhr sie auf der Autobahn in Richtung Düsseldorf. Plötzlich klingelte ihr Handy. Erschrocken zuckte sie beim ersten Laut zusammen. Den Verkehr im Auge behaltend warf sie einen Blick auf das Display. Dort wurde ihr der Anruf eines unbekannten Teilnehmers angezeigt. Wenn das eines ihrer saublöden Dates war, würde er gleich sein blaues Wunder erleben.
››Ja!‹‹ Bellte sie förmlich in das Mikrofon ihres Handys.
››Hören Sie gut zu Fräulein Dexter‹‹, augenblicklich erstarrte Evelyn innerlich zur Salzsäule, dass war die Stimme des Mannes, mit dem Andreas im Labor geredet hatte, die würde sie im Leben nicht mehr vergessen, ››ich sage Ihnen das nur ein Mal, ein zweites Mal wird es nicht geben. Halten Sie augenblicklich an und geben mir Ihre Position durch. Wir werden Sie aufsuchen und Sie übergeben uns alle Ihre Unterlagen, das Notebook und den Wirkstoff. Wenn Sie kooperieren wird Ihnen nichts geschehen.‹‹
Evelyn holte tief Luft. Nie im Leben würden die Typen sie laufen lassen. Sie hatte einen von denen vor der Polizeiwache gesehen und könnte ihn identifizieren. Ihren Anrufer würde sie jederzeit an seiner Stimme erkennen. Nein, das war nur eine faule Ausrede die sie dem Mann nicht abnahm. Aus einer plötzlichen Aufwallung von Mut antwortete sie:
››Hören Sie mir mal gut zu. Erstens bin ich nicht so blöd und vertraue Ihnen. Zweitens können Sie sich Ihre Warnungen dahin stecken wo die Sonne nie scheint und drittens, werde ich zu verhindern wissen, dass sie auch nur einen Buchstaben meiner Aufzeichnung oder den Wirkstoff in die Hände bekommen.‹‹
Am anderen Ende der Leitung ertönte augenblicklich ein wütender Schrei, bevor sie das Gespräch durch Auflegen grußlos beendete. Die vermeintlich freundliche Option hatte sie mit ihren Worten gründlich verwirkt. Also musste sie jetzt handeln. Über ihrem Kopf tauchten die ersten Schilder zum Flughafen Düsseldorf auf. Aus einem nicht erklärbaren Impuls heraus folgte Eve den Schildern. Allerdings fuhr sie nicht auf das Flughafengelände, sondern bog vorher in das angrenzende Gewerbegebiet ein. An der Straße lag ein Aldi Markt, dessen Parkplatz vollkommen leer vor ihr lag. Mit quietschenden Reifen bog sie von der Straße ab und lenkte ihren Nissan in die hinterste, von Büschen umgebene Ecke des Parkplatzes. Dort war sie von der Straße aus nicht zu sehen.
Erneut versuchte sie zu telefonieren, nur um festzustellen, dass ihr Handy oder besser gesagt, ihr Provider seine Unterstützung verweigerte. Es würde sie nicht einmal wundern, wenn die Typen ihr Mobiltelefon lahm gelegt hätten, so gut wie die informiert waren. Schnell transferierte sie alle Kontakte die sich auf der SIM Karte und dem Handyspeicher befanden auf die innenliegende Mikro SD Karte. Danach schaltete sie das Telefon aus, baute das Telefon auseinander, entnahm die SIM Karte und die Mikro SD Karte.
Die SD Karte steckte sie in das Reißverschlussfach in der Innenseite ihrer Handtasche. Das Handy verstaute sie unter der Fußmatte ihres Autos. Dann machte sie sich zu Fuß auf den Weg zu den Terminals. Weit konnte sie nicht davon entfernt sein, denn sie sah vor sich die diversen Hinweisschilder für die einzelnen Parkhäuser. An einer Bushaltestelle warf Eve ihre SIM Karte in den Plastikabfallbehälter unter der Tafel mit den Abfahrtzeiten. Jetzt, so hoffte sie, konnte man sie nicht mehr orten. Leise klimperten die Ampullen in ihrer Handtasche. Die musste sie auch dringend entsorgen.
Es wäre zwar etwas mühselig, aber an Hand der Aufzeichnungen könnte sie den Wirkstoff erneut herstellen. Mit einem Griff in ihre Handtasche nahm sie die Ampullen und warf sie so fest sie konnte auf dem Asphalt. Die Ampullen platzten mit einem dumpfen Knall auf und zerbrachen in viele kleine Glassplitter. Einen wehmütigen Augenblick schaute sie der hellblauen Flüssigkeit zu, die den Asphalt benetzte und bald verdunstet wäre.
Dann hastete sie weiter in Richtung der Terminals. Egal was sie jetzt machte, sie würde dringend mehr Bargeld benötigen. Das bekäme sie heute nur aus einem Automaten. Evelyn hatte Glück. Direkt vor dem Terminal Eins der Lufthansa befand sich neben der Ausfahrt eines Parkhauses ein vereinsamter Geldautomat. Schnell schob sie ihre EC Karte in den Schlitz und hob den Höchstbetrag – immerhin 1000 Euro – ab.
Das Geld steckte sie in das Innenfach zu der SD Karte und machte sich weiter auf den Weg in Richtung Terminal. Nach kurzer Zeit erstreckte sich der untere Bereich, des Flughafens vor ihr. Dort standen jede Menge Taxen, um die angekommenen Reisenden zu ihren Zielorten zu bringen. Durch eine der Glastüren betrat Eve das Innere des Gebäudes und nahm die nächste Treppe nach oben in den Abflugbereich. Helles Licht aus den Deckenfenstern erhellte die Abflughalle und ließ den hellen Boden noch heller strahlen. Ein wenig verloren stand sie vor der Tür des Treppenaufganges und wusste auf einmal nicht, was sie machen sollte. Über ihrem Kopf knackte ein Lautsprecher und dann ertönte eine Durchsage:
››Letzter Aufruf für die Passagiere Tekin, Müller und Antkowiak für den Flug mit Air Berlin nach Rom. Bitte begeben Sie sich umgehend zu Gate 32.‹‹
Ohne auf ihre Umgebung zu achten setzte sie langsam einen Fuß vor den anderen. Was wäre, wenn sie von hier wegflöge und Deutschland verließ? Damit würde sicherlich niemand rechnen. Vielleicht könnte sie von außerhalb einfacher Hilfe erreichen als es heute der Fall war. Den Ausweis hatte sie dabei, theoretisch sollte das funktionieren. Vor einem Schalter der AIR Berlin blieb Evelyn stehen. Außer den reinen Flugangeboten waren hier auch diverse Pauschalreisen an der Pinnwand aufgehängt. Kaum dass sie stehen blieb, richtete die Dame auf der anderen Seite des Schalters schon ein freundliches, unverbindliches Lächeln auf sie.
››Guten Tag. Kann ich Ihnen behilflich sein?‹‹ Die Dame trug ein knallrotes Kostüm, hatte ihre Hände mit gepflegten Fingernägeln locker auf der Fläche ihres Schreibtisches liegen und strahlte Evelyn mit ihrem schönsten Sonntagslächeln an.
Eve räusperte sich, bevor sie ihren Wunsch formulierte.
››Guten Tag. Ich ... ähm ... habe zwei Wochen Urlaub und vor einer Stunde erfahren, dass meine ursprüngliche Planung gegenstandslos geworden ist. ... Man hat mir schon so viel über spontane Reisen erzählt, dass ich das gerne einmal ausprobieren möchte. Könnten Sie mir sagen, welches Pauschalangebot Sie haben, welches als allernächstes angeflogen wird?‹‹
Die Dame lächelte Evelyn gleichbleibend freundlich an, so, als ob jeden Tag dreißig Leute mit spontanen Urlaubsabsichten vor ihrem Schreibtisch stehen blieben. Ihre Finger fuhren über die Tastatur ihres Rechners. Dabei zog sie ihre Stirn ein wenig kraus, was ihrem Gesicht eine strenge, lehrerinnenhafte Note verlieh. Schließlich schnalzte sie mit ihrer Zunge und spitzte die Lippen.
››Ja‹‹, sagte sie gedehnt, ››ja, ich hätte da etwas für Sie. In einer Stunde geht ein Flug nach Gran Canaria. Wir haben dort in einem Hotel in der Playa Taurito noch ein freies Zimmer. Allerdings wäre das nur für zehn Tage und nicht für zwei Wochen.‹‹ Ihr Blick wanderte vom Bildschirm hoch und musterte Evelyn fragend.
››Zehn Tage sind auch in Ordnung.‹‹ Beeilte sich Eve schnell zu versichern. ››Das nehme ich gerne. Könnten Sie die Unterlagen für mich fertig machen?‹‹
››Ja, das ist überhaupt kein Problem. Könnte ich bitte einmal ihren Personalausweis oder Ihren Reisepass haben? Wenn Sie möchten, können Sie hier gerne warten, während ich die Unterlagen fertig mache.‹‹
Sie deutete auf eine kleine, von der Abflughalle nicht einsehbare Sitzgelegenheit, für die Evelyn in diesem Moment dankbarer war als es die freundliche Dame der AIR Berlin auch nur ansatzweise vermuten dürfte. Sie übergab ihr den Personalausweis und ließ sich erschöpft in den tiefen Sessel in der Sitzecke gleiten. Routiniert gab die Dame in dem roten Kostüm alle Daten ein.
››Wie möchten Sie denn bezahlen Frau Dexter?‹‹ Eve reichte ihr ihre Visa Karte und die Dame nahm die Abbuchung darauf vor. Zehn Minuten später stand Evelyn mit allen ausgedruckten Unterlagen zu ihrem Flug, den Hoteldetails, dem Ticket inklusive einer Sitzplatzreservierung an der Sicherheitskontrolle.
Da ihr Gepäck mehr als überschaubar war, kam sie schnell durch den Sicherheitsbereich und suchte nach ihrem Abfluggate. Es war noch nicht geöffnet und das Bodenpersonal telefoniert noch. Also hatte sie noch ein wenig Zeit. Direkt hinter ihr befand sich eine dieser teuren Flughafenboutiquen. Da sie so gut wie nichts anzuziehen dabei hatte, entschloss sie sich, noch einmal ihre Kreditkarte zu plündern und sich ein bisschen Wechselgarderobe zuzulegen. Alles was sie an Kleidung gebrauchen konnte, legte sie unter den Augen der immer misstrauischer werdenden Verkäuferin an der Kasse auf einen Haufen.
››Soll ich Ihnen alles in die Umkleidekabine legen, Fräulein?‹‹ Bot die Verkäuferin eher halbherzig an. Dazu hatte Evelyn leider keine Zeit. Kopfschüttelnd drückte sie der Verkäuferin die Kreditkarte in die Hand und bat sie, die Kleidung abzurechnen und zu verpacken. Während die Angestellte der Boutique den Einkauf abrechnete und die Kreditkarte damit belastete, wurde Eves Flug aufgerufen.
Sofort versammelte sich eine riesige Schlange von Passagieren, die sich geduldig vor dem Schalter einreihten. Dankend nahm Evelyn den Kaufbeleg, zwei große Plastiktüten und ihre Kreditkarte von der Verkäuferin entgegen. So lang wie die Schlange war, hatte sie immer noch ein wenig Zeit. Also startete sie einen schnellen weiteren Durchlauf. Dieses Mal kaufte sie sich ein neues Handy, eine Uhr, Sportschuhe und Badeschlappen.
Gerade noch rechtzeitig erreichte sie den Schalter und drückte der verdutzten Stewardess die Flugunterlagen in die Hand. Diese kontrollierte die Unterlagen und wünschte ihr bei der Rückgabe einen angenehmen Flug.
Evelyn gesellte sich zu den anderen Passagieren, die in dem Finger vor der Flugzeugtüre standen. Sie war die letzte Passagierin, die an Bord ging. Ihre Plastiktüten stießen immer wieder rechts und links an den Sitzen oder Knien der Mitreisenden an, bis sie ihren Platz in der letzten Reihe erreicht hatte. In den Ablagefächern über ihr war nicht mehr allzu viel Platz, darum verstaute sie den Rest ihrer Taschen, die oben nicht mehr hereinpassten, auf dem Nebensitz, der zum Glück nicht belegt war.
Endlich wurden die Flugzeugtüren geschlossen und der Zugangsfinger wurde zur Seite gerollt. Der Flug ins Ungewisse begann und ihre Verfolger waren nicht an Bord.