Читать книгу Tiloumio - Maari Skog - Страница 10

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Das vertraute Knistern des Feuers umspielt mein Gehör, und ich bin im Begriff, zu glauben, dass ich träume. Doch dann kämpft sich meine Erinnerung durch Schwindel und Kopfschmerzen. Ich weiß, dass ich von Anfang an keine Chance gehabt hatte. Ich hätte mich auf Turias Intuition verlassen sollen. Wenn ich darauf gehört hätte, dann wäre ich nicht in die Wildnis gelaufen, dann hätte ich gewusst, dass die größte Gefahr dort lauert, wo man sie am wenigsten vermutet.

Er musste mich die ganze Zeit beobachtet haben, und ich war unfähig, es zu bemerken. Mir fällt die Gestalt ein, die in meinem Traum im Wald stand, und ich frage mich, ob das nicht tatsächlich geschehen ist. So wie auch die Äste und Zweige, die Turia in demselben Traum zerbrochen hat.

Ich liege auf meinen Armen und merke, dass sie taub sind. Eingeschlafen, von meinem eigenen Körpergewicht erdrückt. Meine Position ist halb liegend, und meine Sicht ist verschwommen, weshalb ich die Gestalt und das Feuer vor mir nur schemenhaft erkennen kann. Meine Augen brennen, Tränen laufen mir über die Wangen und ein bitterer, pelziger Geschmack liegt auf meiner Zunge. Ich habe das Bedürfnis, mich zu übergeben, doch ich kann mich nicht auf die Seite drehen, um meinen Magen zu entleeren. Ich versuche mich zu beherrschen und konzentriere mich auf die unnatürliche Müdigkeit, die mich an einen von Alkohol verursachten Kater erinnert. So verweile ich eine Zeit lang, mit der Gewissheit, meine Gliedmaßen nicht bewegen zu können und mich in Gesellschaft dieser bedrohlichen Gestalt zu befinden, deren Gesicht ich nicht erkennen kann. Ich schließe die Augen und verfalle in eine Art Dämmerzustand.

Ich weiß nicht, wie lange ich mich in diesem Zustand befand, denn als ich erwache, ist mein erster Gedanke, dass, wenn eine Situation unerträglich ist, eine Minute eine Ewigkeit währen kann. Ich weiß sofort, dass ich mich in einer fatalen Situation befinde und jemandem, aus unerfindlichen Gründen, ausgeliefert bin.

Bei dem kläglichen Versuch, mich aufzusetzen, stelle ich fest, dass der Platz am Lagerfeuer leer ist. Ich spüre eine Gänsehaut, als ich irgendwo hinter mir Schritte vernehme und gleich darauf ein hochgewachsener Mann mit einem Dreitagebart in mein Blickfeld tritt. Sein schwarzes Haar ist sorgfältig zurückgekämmt, und sein Gesichtsausdruck verrät, dass er sich ganz und gar nicht aus purer Lust in der Wildnis aufhält. Wasserblaue Augen unter dichten Augenbrauen sehen kaltblütig auf mich hinab. Das ist kein Verrückter oder ein degeneriertes Inzestmonster, wie sie in billigen B-Movies von der Filmindustrie in die Wildnis drapiert werden. Trotzdem geht von dem Mann etwas derartig Bedrohliches aus, dass ich den Atem anhalte. Ich starre zu ihm hinauf und merke, wie sich meine Nackenhaare sträuben. Ich will etwas sagen, doch meine Situation lässt nicht zu, großartig Fragen zu stellen. Ausserdem weiß ich ganz genau, wann es am besten ist, die Schnauze zu halten. Meine unbequeme Haltung ist eindeutig der Fesselkunst meines Gegenübers zu verdanken. Er hat mich von Kopf bis Fuß in ein Seil geschnürt, und ich kann, wenn überhaupt, mich nur noch kriechend wie ein Wurm fortbewegen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, verrät mir diese Tatsache auch noch, dass dieser Mann mich nicht nur wegen Geld oder sonstigen Wertgegenständen überfallen hat.

Doch es ist mir ein Rätsel, was er von mir will. Ich senke den Blick und höre, wie der Fremde neben mir in die Knie geht. Sein heißer Atem stinkt, als ob ihn eine eitrige Halsentzündung plagt. Das bemerke ich, weil sein Gesicht ganz dicht neben dem meinen ist.

»Hattest du jemals Lust, zu sterben?«, haucht der Mann mir ins Ohr und sieht mir anschließend prüfend ins Gesicht.

Ich weiß, warum er das tut. Er sucht einen Funken Angst in meinen Augen. Der Funken, der sich langsam aber sicher zu einem gigantischen Ungetüm aufbäumen wird. Wenn ich ihn diesen Funken sehen lasse, dann wird dieser Mann sadistische Freude empfinden. Er wird die immer größer werdende Panik in mir nutzen, meine Gedanken wie Puzzleteile zusammenzufügen. Dann wird es für ihn ein Leichtes sein, in mein Innerstes zu sehen und mich noch mehr zu quälen.

Unzählige Male musste ich meinen Funken versteckt halten und meinen Blick in Kälte verwandeln. Ich bin geübt darin, meine Angst zu verbergen, denn sie ist der Thrill, der meinem Feind den Höhepunkt beschert. Menschen sind grausam. Sie spielen, ebenso wie Katzen, mit ihren Opfern, bevor sie ihnen das Genick brechen. Tief in mir hat sich ein Beben eingestellt. Es ist äußerlich nicht zu sehen, aber ich spüre, wie mein Puls beschleunigt und meine Nerven erzittern. Fieberhaft überlege ich, ob ich dem Mann eine Antwort geben soll, entscheide mich dann aber dagegen, aus Angst, dass meine Stimme verräterisch zittert, sobald ich den Mund aufmache.

Der Mann steht auf und holt etwas Schwarzes aus seiner Jackentasche. Ich erkenne meine Brieftasche.

»In deinem Pass steht, dass du erst zwanzig Jahre alt bist. Da stellt sich mir die Frage, wieso du dich hierher zurückziehst. So ein junger Kerl wie du sollte Miezen flachlegen und sich mit Kumpels volllaufen lassen, oder?«

Der sarkastische Unterton bleibt mir nicht verborgen. Ich beschließe, auch dieses Mal nicht zu antworten und merke einen Sekundenbruchteil später, dass das ein Fehler ist. Der Mann dreht sich ruckartig um und stürmt auf mich zu. Der Lauf einer schwarzen Pistole ist auf meinen Kopf gerichtet. Ich schließe die Augen und bin wie gelähmt. Ich habe immer gedacht, dass ich im Angesicht des Todes um mich schlagen würde und, bei Gott, ich hätte es wahrscheinlich auch getan, wenn ich nicht so eingeschnürt wäre. Und trotzdem merke ich eine eigenartige Ruhe in mir aufkommen. Wie aus weiter Ferne nehme ich die kalte Mündung des Revolvers wahr, wie sie über meine Stirn bis zu meinem Mund hinunterstreicht und die Konturen meiner Lippen nachzeichnet.

»Schade, dass so ein hübscher Kerl wie du so früh sterben muss. Aber das macht nichts. Mich bereicherst du dadurch«, flüstert der Mann mir ins Ohr.

Sein eitriger Atem hinterlässt einen widerwärtigen Film auf meiner Wange und vermittelt mir schonungslos, dass ich den letzten Augenblick meines Lebens mit einem Menschen verbringen muss, den ich nie freiwillig an meinen intimsten Momenten teilhaben lassen würde. Das ist die alte Angst in mir, durch einen anderen Menschen zu sterben, und nun verhindern nur meine geschlossenen Augen, dass mir die letzte Würde genommen wird. Wenn er mir schon den Körper nimmt, dann wenigstens nicht meine Seele.

Das Metall des Revolvers wandert meine Wange hinauf und ruht nun auf meiner Schläfe. Es klickt. Der Spann ist gezogen. Ich halte den Atem an und warte auf die Dunkelheit des Todes. Doch nichts davon tritt ein. Ich höre es wieder klicken und dann löst sich die Mündung von meinem Kopf. Die Klamotten des Mannes rascheln, als er sich erhebt. Ich öffne die Augen, blinzele und sehe auf die Beine meines Widersachers, der boshaft zu lachen anfängt.

»Du hast Glück gehabt. So ein verdammtes Glück. Du hast Russisch Roulette gewonnen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass du auch die Jagd gewinnst«, lacht er höhnisch und zeigt mit dem Revolver auf mich.

Ein Speichelfaden läuft ihm am linken Mundwinkel hinunter. In seinen Augen liegt ein versessener, beinahe fanatischer Ausdruck. Eine Gier, wie ich sie schon öfters gesehen habe, die aber nichts mit mir zu tun haben sollte.

In mir steigt eine weitere Welle der Übelkeit auf. Ich hätte am liebsten geweint und meiner Angst freien Lauf gelassen, doch dann wäre ich verloren.

»Ich habe mir was überlegt«, säuselt der Mann und saugt den Speichel mit einem zischenden Geräusch ein.

Lange sieht er mich an, ohne ein Wort zu sagen. Sein Gehirn scheint an einem teuflischen Plan zu feilen. Der Wunsch, meinen Gegner abzuwehren, wird immer mächtiger, weil ich spüre, dass etwas im Gange ist, was schlimmer sein wird als der Tod.

Der Mann schlendert in meine Richtung, bleibt kurz vor mir stehen und hockt sich auf meine Oberschenkel. Ich wage nicht, meinem Widersacher in die Augen zu sehen und blicke an ihm vorbei.

Mein Brustkorb hebt und senkt sich sichtbar bei jedem Atemzug. Ein bisschen zu schnell. Verräterisch schnell. Ich spüre den musternden Blick, der einen panischen Schluchzer aus meiner Kehle zur Folge hat.

»Warum tust du mir das an? Lass mich doch bitte gehen«, winsele ich, ohne es wirklich zu wollen.

Aber mein Widerstand ist gebrochen, und ich sehe nur noch im Flehen die Möglichkeit, halbwegs unbeschadet mit dem Leben davonzukommen. Tränen laufen mir über die Wangen und ich schniefe, um den Rotz hochzuziehen, der mir aus der Nase läuft.

»Genau, deswegen«, höre ich die überhebliche Stimme meines Widersachers über mir, während ich so leise wie möglich weine, »Wenn du dich jetzt sehen könntest und nur ein bisschen von dem hättest, was in mir schlummert, dann würdest du mich verstehen.«

Mittlerweile läuft mir der Rotz über die Oberlippe. Ich spüre den salzigen Geschmack auf meiner Zunge. Mücken schwirren um mich herum. Ich bin mir sicher, hier sterben zu müssen. Es ist zu absurd, darüber nachzudenken und doch erschreckende Realität. Ein Wechsel von Hitze und Kälte lässt mich erzittern, und ich wünsche mir, aus meinem Körper fliehen zu können. Ich habe mal davon gelesen, dass es Menschen gibt, denen genau das in großer Not und Angst gelingt, sodass sie von dem, was ihnen geschieht, nur Zuschauer sind. Vielleicht ist das aber auch die Vorstufe des Todes, die sich auf diese Art bemerkbar macht. Eine Art Zauber, der den Abschied von dieser Welt erträglicher macht.

Ich schließe die Augen und versuche an etwas Schönes zu denken. Dabei fallen mir die Zeiten ein, die ich mit Turia bei unserem gemeinsamen Vater verbracht habe. Die Nächte, in denen meine kleine Schwester friedlich neben mir geschlafen hat, wenn wir mit dem Wohnmobil auf Reisen gewesen waren. Hitzige Sommer, die viel zu kurz waren, und über denen die Bedrohung der nahen Zukunft, wie ein tödliches Schwert über uns schwebte, ohne dass wir eine Ahnung davon hatten.

Ich schlage die Augen auf und bemerke, dass mein Widersacher vor mir kniet und mich anstarrt. Ein unkontrolliertes Wimmern entweicht meiner Kehle, und ich höre, wie sich der Mann wieder aufrichtet. Seine Füße scharren über den Waldboden, wie ein unruhiges Tier, während ich das Gefühl habe, in einer Sanduhr zu sitzen, an deren Wand ich mich nicht festhalten kann. Ich drohe in die Tiefe zu stürzen und verschüttet zu werden. Ein sandiges Grab, das ein Irrer für mich geschaufelt hat, dessen Beweggründe ein Fragezeichen für mich bleiben werden.

Plötzlich bekomme ich einen schmerzhaften Tritt, der mich so heftig trifft, dass ich zur Seite rolle und das kühle Erdreich an meiner Stirn fühle. Ich muss die Zähne zusammenbeißen, damit ich keinen Schmerzensschrei von mir gebe, gleichzeitig bereite ich mich auf einen weiteren Tritt vor.

Stattdessen packt mich der Mann an den Haaren und zwingt mich dazu, ihn anzusehen.

»Weißt du eigentlich, was mich dazu veranlasst, zu töten? Weißt du das?«, brüllt er.

Speichel spritzt mir ins Gesicht, und ich kann nicht anders, als meinem Gegner in die irrsinnigen Augen zu blicken. Etwas darin hat sich verändert. Was anfangs Sarkasmus war, ist in einen überdimensionalen Wahn übergegangen.

»Es ist die Macht, die ich fühle. In dem Augenblick, wo mich die Angst meines Opfers wie ein Peitschenhieb trifft, sinkt alles in mir in eine finstere Tiefe hinab, die mir ein unbeschreibliches Gefühl gibt. Dann laufe ich aus dem Ruder und bin nicht mehr ich selbst. Das ist wie eine Droge, von der ich immer mehr will. Verstehst du das?«

Die Stimme des Mannes ist ruhiger geworden, beinahe freundlich. Dennoch hält er mich immer noch an den Haaren fest, während er mit der freien Hand anfängt, mein Gesicht zu streicheln. Seine Augen bekommen fast einen mitleidigen Ausdruck, während er wieder das Wort erhebt.

»Ich werde dir jetzt die Fesseln an deinen Armen lösen und dann werden wir mein Lieblingsspiel spielen.«

Ich bin irritiert, warte auf die nächste Teufelei, auf einen Schlag ins Gesicht oder auf den Lauf der Waffe, der mir gegen die Schläfe gepresst wird. Doch nichts dergleichen passiert.

»Was für ein ... was für ein Spiel?«, stammele ich.

»Du hast mich schon verstanden. Ich werde gleich, sobald deine Arme frei sind, bis zehn zählen. So lange hast du Zeit, die restlichen Fesseln zu lösen und abzuhauen. Solltest du irgendeinen Blödsinn machen, schieße ich dir ins Knie und werde dich sofort fertigmachen.«

Mein Widersacher dreht mich auf die Seite und fummelt hinter meinem Rücken herum. Er ist nicht zimperlich, und ich verspüre einen schmerzhaften Ruck, als er mich von sich stößt, aufsteht und die Waffe auf mich richtet.

»Eins.«

Ich versuche die Arme zu heben, merke aber, dass das nicht möglich ist. Sie sind durch mein eigenes Gewicht blutleer und taub. Nur mit allerhöchster Konzentration schaffe ich es, sie zu bewegen, ohne dass ich es selbst spüre. Das einschießende Blut verursacht einen kribbelnden Schmerz, der sich bis in meine Fingerspitze vorarbeitet.

»Zwei.«

Mir bleibt keine Zeit mehr. Ich schüttele die Hände, um die Blutzirkulation zu beschleunigen und mache mich daran, mich zu entfesseln. Ich will aufstehen, doch bei dem Versuch, gerate ich ins Straucheln, und meine Knie geben nach. Ich packe das Seil, das um meinen Oberkörper gewickelt ist, und reiße es mit all meinen Kräften von mir. Doch es lässt sich nur schwer lösen. Der Fremde hat ganze Arbeit geleistet.

Hämisches Lachen erklingt.

»Drei.«

Ich fingere weiter an dem Seil herum. Mittlerweile ist es so locker, dass ich es über meine Hüfte schieben kann. Nur der Knoten an meinen Fußgelenken macht mir noch Sorgen. Ich riskiere einen kurzen Blick auf meinen Widersacher. Der Knoten hat sich endlich gelöst und ich kann sehen, dass der Mann darüber nicht im Geringsten beunruhigt ist.

»Vier«, flüstert er mit einem breiten Grinsen.

Hektisch reiße ich das Seil von meinen Beinen, stehe auf und strauchele erneut, bis ich mein Gleichgewicht halten kann. Dann laufe ich auf wackeligen Beinen los, ohne mir die Richtung zu überlegen. Hämisches Gelächter folgt mir, und ich will nur noch weg von diesem Irren. Büsche streifen mein Gesicht, die Bäume jagen an mir vorbei. Der Widerhall meiner Schritte lässt mich glauben, dass mein Verfolger unmittelbar hinter mir ist.

Ich schreie kurz auf und zucke im Lauf zusammen, als ein Schuss die Stille zerreißt. Gefolgt von einem siegessicheren Gebrüll.

»Ich kriege dich!«

Mir wird bewusst, dass ich nicht mehr lange durchhalten werde, wenn ich so weiterrenne. Es muss mir irgendwie gelingen, meinen Peiniger abzuschütteln. Ich bleibe im Dickicht stehen und sehe mich suchend nach einem Baum um, auf den ich klettern kann, oder nach einer Senke, in der ich mich unter Moos und Fichtennadeln verstecken kann.

Nun, wo ich mich wieder frei bewege, ist meine Verzweiflung verschwunden. Adrenalin flutet meinen Körper wie eisiges Wasser. Angst habe ich immer noch, doch sie beflügelt mich eher, als dass ich mich resigniert meinem Schicksal ergebe.

Ich laufe weiter, bis ich auf eine Mulde stoße, in die ich mich hineinwerfen und lauschen kann. Mein Atem hört sich wie das Zischen von Schlangen an und droht, meine Kehle zu zerreißen.

Außer dem Sirren der Mücken vernehme ich keinen Laut. Doch nach wenigen Augenblicken höre ich Schritte in der Ferne. Ich blicke vorsichtig aus der Mulde in das Dickicht aus Blaubeersträuchern und Birken. Die Schritte sind jetzt so laut, dass ich den unverkennbaren Widerhall des Waldbodens wahrnehmen kann.

Das Geräusch verstummt, und ich sehe, wie der Mann zwischen den Sträuchern auftaucht, den Kopf in den Nacken legt und die Nase in die Luft hält. Seine Nasenflügel beben, wie bei einem blutgierigen Hund, der Witterung aufgenommen hat. Das Gesicht ist zu einer irrwitzigen Fratze verzogen.

»Ich rieche dich«, säuselt er unverhohlen.

Ich ducke mich. Mein Herz klopft schmerzhaft gegen meine Rippen. Man muss mich meilenweit hören können. Meine Sinne sind aufs äußerste geschärft. Auf der Lauer liegend, sehe ich die Beine in der moskitoresistenten Hose meines Widersachers direkt vor mir stehen. Noch hat er mir den Rücken zugewendet.

Ich zittere. Doch dieses Mal ist es das Adrenalin, das darauf drängt, meinen Kräften endlich freien Lauf zu lassen. Ich warte nicht mehr. In blinder Verzweiflung packe ich die Beine des Mannes und reiße ihn zu Boden. In der nächsten Sekunde werfe ich mich mit wütendem Gebrüll auf ihn. Der Überraschungseffekt ist auf meiner Seite, sodass es mir gelingt, mich auf seine Oberarme zu setzen. Mit aller Kraft und einen hysterischen Schrei ausstoßend, ramme ich dem Kerl meine Faust ins Gesicht. Der Fremde gibt einen Schmerzensschrei von sich und bäumt sich auf, womit ich nicht gerechnet habe. Als würde ich vom Rücken eines Pferdes fallen, lande ich auf der kalten Erde. Beim Versuch mich aufzurappeln drückt der Mann mich mit seinem gesamten Gewicht nach unten.

Ich rieche den Waldboden unter mir und spüre mit Entsetzen, dass sich der Mann an meiner Hose zu schaffen macht. Die Schmerzen meines Schlages scheinen vergessen.

»Weißt du, wie lange es her ist, dass ich gevögelt habe? Da spielt es keine Rolle mehr, ob ich eine Frau vergewaltige oder du dran glauben musst«, keucht er wütend.

Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich wie gelähmt, doch dann nehme ich all meine Kräfte zusammen und versuche mich aufzurichten. In dem Moment merke ich, dass der Mann in seine Jackentasche greift und offensichtlich nach etwas sucht. Sein Gesicht nimmt einen erschrockenen Ausdruck an.

Ich nutze die minimalistische Ablenkung und verpasse meinem Widersacher mit der Handkante einen weiteren Schlag zwischen Schulter und Hals. Er fällt mit schmerzverzerrtem Gesicht zur Seite, sodass ich mich freikämpfen kann. Ich klettere aus der Mulde und laufe wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Bereits ein paar Sekunden später spüre ich den heißen Atem meines Verfolgers im Nacken und höre sein animalisches Keuchen.

Ich lege nochmals an Tempo zu und höre sanftes Rauschen irgendwo vor mir. Dort musste ein Bach oder ein Fluss sein. Ich halte darauf zu und sehe nach kurzer Zeit, dass sich vor mir ein Abgrund auftut. Ich weiß nicht, wie breit die Schlucht ist, doch ich habe keine andere Möglichkeit, als über den Abgrund zu springen. Jede andere Entscheidung kann meinen Tod bedeuten.

Ich schätze die Entfernung im Laufen ab, denke noch, dass ich es niemals schaffen werde, und sehe doch die einzige Chance darin, mein Überleben zu sichern, indem ich springe. Ich bin etwa zehn Meter vom Abgrund entfernt, als mich mein Verfolger von hinten anspringt und zu Fall bringt.

Meine Stirn prallt auf einen Stein. Warmes Blut läuft über mein linkes Auge und droht mir, die Sicht zu nehmen. Sterne flirren wie Fliegen um das Licht um mich herum. Ich zwinge mich dazu, nicht ohnmächtig zu werden. Wütend schlage ich mit der Faust nach meinem Widersacher, doch dieser wehrt die Schläge ab, grinst und beginnt, erneut an seinem Hosenbund herumzufummeln.

Panisch versuche ich mich unter ihm herauszuwinden und bemerke unter meiner rechten Schulter eine entsetzliche Leere. Ich liege direkt am Rand der Schlucht. Widerwillig schiebe ich meine Hand zwischen mich und den Irren und packe ihn mit aller Kraft zwischen seinen Beinen. Ein helles Kreischen folgt als Antwort.

»Guten Flug, du perverser Bastard«, brülle ich voller Enthusiasmus und stoße ihn in Richtung Abgrund.

Ein dumpfer Aufprall dringt an mein Ohr, gefolgt von einem unmenschlichen Schrei, der mir durch Mark und Bein geht. Eine trügerische Stille folgt, begleitet von dem Rauschen des Baches in der Schlucht, das wie höhnisches Kichern klingt.

Ich verharre einen Augenblick, weiß nicht, was ich machen soll. Letztendlich siegt die Neugier und ich schaue vorsichtig über den Rand des Abgrunds. Der Anblick, der sich mir bietet, lässt mich zurückzucken. Der Mann ist nicht, wie ich gehofft habe, von den Wassermassen mitgerissen worden. Er liegt am schlammigen Ufer, das rechte Bein ist zwischen Felsbrocken eingeklemmt, während das andere seltsam verdreht ist und meinem Widersacher das groteske Aussehen einer Marionette verleiht.

Ich wische mir mit zitternden Händen das Blut aus dem Gesicht und blicke noch einmal in den Abgrund. Der Fremde starrt mit schmerzverzerrtem Gesicht zu mir hoch. Erst jetzt fange ich an zu begreifen, dass mir mein Gegner ausgeliefert ist. Ich kann über Leben oder Tod entscheiden. Doch selbst jetzt, im Anbetracht der Tatsache, dass dieser Mann niemals gezögert hätte, mich zu töten, fällt es mir schwer, mich für diesen Weg zu entscheiden. Ich bin kein Ungeheuer. Auch wenn es für manche vielleicht den Anschein hat. Ich habe gelernt, meine Angst und den Respekt vor dem Leben zu verstecken und weiß, dass mein Blick oftmals etwas anderes – etwas Dunkles - erzählt, wenn ich den Menschen in die Augen sehe.

Meine Überlegung geht dahin, den Mann seinem Schicksal zu überlassen, aber dann ringe ich mich doch dazu durch, in die Schlucht zu klettern, um zu sehen, ob ich ihm nicht irgendwie helfen kann.

Ein paar Meter weiter finde ich einige Vorsprünge im Gestein, an denen ich sicheren Halt finde und gefahrlos herunterklettern kann. Wenn es eine Angst gibt, die ich nicht kenne, dann ist es Höhenangst. Schon als Kind war ich ein grandioser Kletterer. Wenige Minuten später erreiche ich den Grund und stelle fest, dass der graue Boden nicht so schlammig ist, wie es den Anschein gehabt hat. Ein Felsblock versperrt mir die Sicht auf den Mann, sodass ich dem brodelnden Wasser gefährlich nahe komme, als ich ihn umrunde. Vor mir eröffnet sich der Blick auf den Verletzten, und ich verspüre beinahe Erleichterung. Gleichzeitig erschüttert mich der Anblick auf eine absurde Art. Blut läuft dem Mann aus der Nase. Er röchelt wie ein sterbendes Tier und versucht den Kopf zu heben, was zur Folge hat, dass ein weiterer Schwall Blut aus seinen Mundwinkeln läuft.

»Hilf mir, bitte«, gurgelt er kaum hörbar.

Mir schießt durch den Kopf, was passiert wäre, wenn es die Schlucht nicht gegeben hätte. Er hätte mich vergewaltigt und anschließend ohne zu Zögern getötet. Die Vorstellung daran lässt mich erschaudern und erstickt mein Gewissen unter einem Kissen aus Hass und Rachegefühl. Ich bleibe reglos stehen. Ohne dass ich es verhindern kann, formen sich meine Lippen zu einem abfälligen Lächeln. Ich schüttele langsam den Kopf und stecke meine Hände in die Hosentaschen.

»Das werde ich nicht, du krankes Arschloch«, zische ich und blicke dabei zu Boden.

Ich kann ihm nicht in die Augen sehen.

Der Mann streckt seinen rechten Arm aus, als ob er nach mir greifen will. Doch es fehlt ihm an Kraft, und es bleibt bei dem Versuch. Ich mache trotzdem einen Schritt zurück und blicke auf die Steine unter der Oberfläche des Wassers, wo die Strömung den Bach zur Ruhe kommen lässt. Die Steine erscheinen mir fast lebendig.

»Ich kenne deine Schwester«, flüstert der Mann plötzlich.

Zuerst glaube ich, mich verhört zu haben. Doch dann wiederholt er, was er gesagt hat. »Ich kenne deine Schwester. Deine Turia.«

Entsetzt über die Worte fahre ich herum. Der Name meiner Schwester wirkt wie ein Schock auf mich.

»Woher kennst du Turia?«, frage ich drohend und greife mechanisch nach einem Stein, der in den Wellen schimmert.

Eiskaltes Wasser umspielt meine Hand. Gleichzeitig erkenne ich, dass ich nicht mehr mit einer Antwort rechnen kann. Der Mann sieht mich mit aufgerissenen Augen an. Er röchelt erneut, und unter all dem Blut ist nicht zu erkennen, ob er grinst oder vor Schmerz das Gesicht verzerrt. Ich gehe auf ihn zu.

»Woher?«, frage ich ihn trotzdem noch einmal.

Meine Stimme bricht.

Ein Gurgeln und Stöhnen kommt als Antwort. Die Lippen des Mannes zittern und formen mühselig ein paar Worte.

»Wenn ich ... wenn ich dich erledigt hätte, dann wäre sie als Nächstes dran gewesen. Diese kleine, geile Schlampe ... sie wäre ... ich hätte ... sie ...«

»Nein«, brülle ich und hebe den Stein.

Ich will den Satz nicht beendet wissen und schleudere den Stein mit aller Kraft auf den Kopf des Mannes. Ich höre ein Knacken und gleich darauf ein feuchtes Geräusch, als ob der Stein in Matsch geschleudert wurde.

Ich strauchele und falle auf die Knie. Grauer Schlamm klebt an meinen Händen und tropft auf den Boden. Ich starre auf meine Finger und bemerke, wie sehr sie zittern. Brennende Abschürfungen machen sich unter dem tropfenden Schlamm bemerkbar, und gleichzeitig beginnt die Platzwunde über meiner Braue zu pulsieren.

Ich starre wie betäubt auf den Leichnam, mit dem ich kurz zuvor noch verbissen gekämpft, und der den Namen meiner Schwester beschmutzt hatte. Etwas Weißes ragt aus dem blutigen Matsch, der mal eine Kopfhälfte mit dunklen Haaren gewesen ist. Es dauert eine Weile – vielleicht eine Ewigkeit - bis ich realisiere, dass ich dem Mann dem Schädel eingeschlagen habe.

Ich krieche auf den Toten zu und knie vor ihm nieder. Zögernd greife ich in seine Jackentaschen, in der Hoffnung, etwas zu finden, was den Mann vielleicht identifizieren kann. Ich besitze kaum noch Kontrolle über meine Finger.

Doch ich werde enttäuscht. Ich ergreife lediglich meine eigene Brieftasche. Erleichtert stecke ich sie ein und ertappe mich bei dem Gedanken, dass mich so niemand mit dem Toten in Verbindung bringen kann. Kalt und berechnend.

Über mir zieht ein tiefes Grollen durch die Wolken. Ich hebe den Kopf und bemerke, dass ein drohendes Unwetter den Himmel in ein düsteres Licht getaucht hat. Eilig klettere ich aus der Schlucht und stelle entsetzt fest, dass ich nicht mehr weiß, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Ich blicke in den Wald, dann nach rechts und bin mir nicht sicher, ob ich bachaufwärts gehen muss, um zu meinem Lager zurückzukommen.

Die Himmelsrichtung anhand der Sonne auszumachen ist unmöglich. Schwarze Wolken haben den Himmel bis zum Horizont für sich eingenommen. Lediglich an dessen Ende ist ein glühender Lichtstreifen zu erkennen. Schwere Regentropfen fallen auf mich herab. Erst vereinzelt, doch dann kräftiger und so dicht wie ein Vorhang, der mir zu allem Überfluss die Sicht nimmt. Ich beginne in die Richtung zu laufen, in der ich mein Lager vermute, dabei fährt mir ein stechender Schmerz in die linke Wade. Ich gerate ins Straucheln und lande im nächsten Augenblick auf der kalten, nach altem Feuer riechenden Erde. Ein hysterisches Schluchzen steigt meine Kehle empor.

Niedergeschlagen und entkräftet bleibe ich auf einem nassen Teppich aus Blättern und Erde liegen, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Es ist Zeit, überlegt vorzugehen, doch das ist im Moment unmöglich. Die einzige Gewissheit, die sogar den Schmerz in meinem Bein verdrängt, ist die Tatsache, dass ich ein Mörder geworden bin. Das ist mein letzter Gedanke, bevor sich ein dunkler Umhang über mich ausbreitet. Ich bin ein Mörder.

Tiloumio

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