Читать книгу Tiloumio - Maari Skog - Страница 11

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Ich blinzele verwirrt und sehe mich um, ohne zu wissen, was mich aus der Ohnmacht geholt hat. Die Erinnerung trifft mich wie ein Faustschlag und beschleunigt meinen Herzschlag, sodass ich eine unnatürliche Hitze in mir verspüre. Nach wie vor liege ich auf dem Boden, irgendwo mitten im Wald und hasse mich dafür, dass ich offensichtlich über keinerlei Kaltblütigkeit verfüge. Wäre ich abgefuckt genug, hätte mein schlechtes Gewissen nun keine Chance gehabt, mich mit quälenden Schuldgefühlen zu beschmutzen. Im Gegenteil. Ich bin sogar erschrocken darüber, dass ich so viel Brutalität entwickelt habe.

Du bist ein Mörder, schießt es mir durch den Kopf, doch dann gibt mir eine winzige Stimme zu bedenken, dass ich aus Notwehr gehandelt habe. Zumindest bis zu dem Punkt, an dem ich den Mann in die Schlucht gestoßen habe. Danach hätte ich ihn seinem Schicksal überlassen können. Der durch den Regen ansteigende Bach hätte den Rest erledigt. Mir wird bewusst, was mich dazu getrieben hat, meinem Widersacher den Schädel einzuschlagen. Es war nicht um meinetwillen. Er hatte Turias Namen erwähnt und er wollte sie ... ich wage nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Dieses Schwein hat offen zugegeben, dass er mich umbringen wollte, und ich hätte ebenso gut geschändet und ermordet werden können. Irgendwo hier draußen im Wald.

Ich stehe auf und wische mir die Hände an der Hose ab, als ob ich damit meine Tat einfach wegwischen kann. Das Atmen fällt mir schwer. Es fühlt sich an, als ob eine eiserne Hand meinen Brustkorb umklammert.

Das Gewitter hat sich verzogen. Die Sonne hat einen fahlen Schein angenommen und wirkt wie gelbes Gift, das sich die größte Mühe gibt, das Unwetter als Illusion abzutun. Die Regentropfen an den Fichtennadeln leuchten silbern und hinterlassen eine klimpernde Melodie, während sie auf den Boden fallen. Sie untermalen die Sommerstille ebenso wie das Sirren der Mücken.

Ich muss versuchen, meinen Kopf freizubekommen. Auch wenn alles in mir in einer chaotischen Flut zu ertrinken droht, wird mir bewusst, dass ich nichts überstürzen darf.

Langsam mache ich ein paar Schritte und bemerke erst jetzt, dass meine Klamotten völlig durchnässt sind. Auch wenn mir nicht kalt ist, so muss ich doch ein Feuer entfachen, damit sie trocknen. Dafür muss ich zu meinem Lager, wo die Streichhölzer liegen. Mit geschlossenen Augen stütze ich mich an einem Baum ab und versuche mich darauf zu konzentrieren, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Dann gehe ich ein Stück in den Wald hinein, bis zu dem Punkt, an dem ich die Grube vermute, in der ich gesessen habe. Sie kann nicht so weit von dem Bach entfernt sein. Tatsächlich entdecke ich die Vertiefung, die mir zu Hilfe gekommen war. Überall sind die Spuren meines Kampfes zu sehen. Die Erde ist aufgewühlt. Die Blaubeersträucher in der näheren Umgebung sind zertreten. Am Rand der Grube entdecke ich einen glänzenden Gegenstand. Ich bücke mich, was eine Welle gleißender Schmerzen in meinen Beinen nach sich zieht, und halte überrascht die Pistole in der Hand, die mir mein Widersacher an die Schläfe gehalten hatte. Ich möchte sie von mir schleudern, überlege es mir dann aber anders und stecke die Waffe in meine Hosentasche.

Auch wenn ich damit nicht umzugehen weiß, glaube ich, dass sie mir eventuell noch nützlich sein kann. Ich stolpere über Wurzeln und Steine, sehe hier und da platt getretene Sträucher und aufgewühlten Waldboden. Daran kann ich mich orientieren und weiß, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen habe.

Wenig später entdecke ich mein Einmannzelt zwischen den Bäumen. Ich zögere, checke die Gegend in Windeseile ab, um mich zu vergewissern, dass sich nicht irgendwo jemand verborgen hält und mich beobachtet. Ein paar Meter von meinem Lager entfernt, liegt ein größerer Gegenstand, der mich erschaudern lässt. Zuerst denke ich, dass dort ein Mensch am Baum gelehnt kauert, doch dann erkenne ich, dass es ein Armeerucksack ist. Neugierig geworden hole ich das Gepäckstück und trage es zu der Feuerstelle, wo ich das Feuer mit wenigen Handgriffen wieder in Gang bringe. Dann mache ich mich daran, den Inhalt des Rucksackes zu inspizieren. Der Gestank von Moder und feuchter Erde schlägt mir entgegen.

Im Hauptfach finde ich die üblichen Dinge, die jemand in die Wildnis mitnimmt. Regenschutz, Ersatzklamotten und Proviant. Ein schwacher Geruch geht vom Inhalt des Rucksackes aus, der mir vertraut ist, den ich aber trotzdem nicht einordnen kann. Ich weiß nur, dass er keine guten Erinnerungen birgt.

Im Deckelfach stoße ich schließlich auf interessantere Dinge. Eine Tourenkarte fällt mir entgegen, aus der sich ein zusammengefaltetes Papier löst, während ich nach der Brieftasche greife, die sich ebenfalls im Deckelfach befindet. Das Papier kommt mir erschreckend bekannt vor, und als ich es auseinanderfalte, erkenne ich die Skizze wieder, die ich vor Aufbruch von meiner Tour angefertigt habe. Ich selbst habe sie gezeichnet. Es ist meine Route, die ich grob eingeschlagen habe. Es ist eine alte Angewohnheit, alle von mir geplanten Routen noch einmal zu Papier zu bringen. So prägen sie sich besser in mein Gedächtnis ein, und ich kann mich im Notfall auch ohne Kartenmaterial orientieren. Meine Hände verkrampfen sich. Die Skizze hatte im Haus meines Vaters gelegen. Ich habe sie anscheinend vergessen, bevor ich losgefahren bin. Maßloses Entsetzen ergreift mich. Offensichtlich hat mein Vater etwas mit dem Mann zu tun, der mich töten wollte.

Fassungslos öffne ich die Brieftasche, in der Hoffnung noch mehr Indizien zu finden. Die Mühe, jedes Fach einzeln zu durchsuchen, spare ich mir. Stattdessen schüttele ich den Inhalt auf die Erde und starre verblüfft auf ein bisschen Bargeld, auf diverse Kreditkarten, einen amerikanischen Pass und ein Foto von mir und Turia.

Endlich hat mein Widersacher einen Namen. Steven Mahony. Das Gesicht blickt mir in all seiner Abscheulichkeit vom Passbild entgegen. Eine emotionslose Fratze, der man auf den ersten Blick nicht ansieht, was für ein Monster hinter ihr verborgen liegt.

Der Schnappschuss von Turia und mir hat die letzten Jahre in meiner Schreibtischschublade gelegen. In meinem Zimmer, das ich bei meinem Vater immer mal wieder kurzweilig bewohnt habe.

Ich bin zutiefst verwirrt und erschüttert und gehe in Gedanken noch einmal die vergangenen Stunden durch, auf der Suche nach Details, die mir vielleicht helfen können, zu einem Ergebnis zu kommen. Doch nichts tut sich vor mir auf, was von Wichtigkeit sein kann. Die Sinnlosigkeit des Geschehenen wird mir nur noch bewusster und ist nur der Anfang von dem, was mich in den folgenden Tagen, Wochen und vielleicht sogar bis zu meinem Lebensende quälen wird.

Zu meinen Schuldgefühlen mischt sich ein Schamgefühl, wie ich es noch nie zuvor verspürt habe. Bilder tun sich vor mir auf, die mir zeigen, was passiert wäre, wenn ich nicht die Oberhand behalten hätte. Sie drängen sich mir auf, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Ich sehe mich selbst in einer erniedrigenden Pose vor meinem Peiniger. Den Schmerz, der meine Gedanken einnimmt, kann ich dabei beinahe körperlich spüren. Doch es ist nicht nur diese Scham, die mir derart zusetzt. Vielmehr ist es das Gefühl des Ausgeliefertseins. Das Gefühl, dass mich jemand berührt.

Mir ist es schon immer schwergefallen, offenherzig und selbstverständlich mit meinem Körper umzugehen, wenn es um Sexualität geht. Diese Hemmungen besaßen ihre Wurzeln bereits in meiner Kindheit. Damals, als es angefangen hatte mit den Schlägen und den miesen, schmutzigen Worten, die mir suggeriert hatten, dass ich nichts wert bin. Dass ich ein Stück Dreck bin, und Dreck nichts mit so etwas Mächtigem wie Sexualität zu tun hat, geschweige denn mit anderen Trieben, die die Welt zusammenhalten oder auch auseinanderbrechen lassen können.

Mein Blick fällt erneut auf das Foto, auf dem ich mit Turia im Boot sitze und vergnügt in die Kamera lächle. Ihr Blick ist verwischt. In ihren grüngrauen Augen ist ein beißender Kummer ertrunken, den man nur sieht, wenn man sie genauer betrachtet. Ich habe auf der Fotografie meinen linken Arm um sie gelegt und stelle fest, dass sie der einzige Mensch ist, der mich berühren darf. Es ist ihre ganz eigene Art meinen Beschützerinstinkt in mir zu wecken, der sie in meinen Augen so ehrlich und friedlich erscheinen lässt. Mir wird plötzlich bewusst, was ich mit meinem Verschwinden angerichtet habe. Ich habe sie im Stich gelassen. Dem einzigen Menschen, der mir was bedeutet, habe ich seine Träume und Hoffnungen genommen und in meinem Egoismus ertränkt.

»Es tut mir leid«, flüstere ich. »Es tut mir so unendlich leid.«

Ein Weinkrampf schüttelt mich. Die fürchterliche Schuld, die ich gegenüber Turia empfinde, beginnt sich wie flüssiger Zement in mir auszubreiten.

In diesem Moment wird mir etwas ins Bewusstsein gerufen. Sie ist in Gefahr. Es ist etwas Schlimmeres im Gang, als ich je vermutet habe, und das wird gerade jetzt, wo ich sie in Stich gelassen habe, angekurbelt.

Plötzlich komme ich mir beobachtet vor. Mit von Tränen verschleierten Augen versuche ich mich umzusehen. Vielleicht waren es lediglich meine überstrapazierten Nerven, die mir einen Streich gespielt haben. Es ist lächerlich, zu denken, dass noch jemand wie Mahony in meiner Nähe sein könnte, doch das ungute Gefühl bleibt. Deshalb packe ich eilig meine Sachen zusammen, werfe den Rucksack samt Brieftasche, Tourenkarten und meiner Skizze ins Feuer und warte, bis alles vollständig verbrannt ist.

Ich will nur weg von diesem Ort, der mir eigentlich meinen inneren Frieden geben sollte und ihn mir stattdessen zunichtegemacht hat. Der herkömmlichen Route beschließe ich, nicht mehr zu folgen. Mein nächstes Ziel ist es, Turia zu kontaktieren. Dafür muss ich irgendwohin, wo ich mit dem Handy Empfang habe, und die nächstgrößere Stadt ist Jokkmokk.

Ich stelle mich darauf ein, dass ich über kurz oder lang durchdrehen werde. Nicht in absehbarer Zeit, aber irgendwann wird es einen Funken geben, im Grunde genommen eine Nichtigkeit, die mich komplett um den Verstand bringen wird.

Was dann passiert, liegt nicht mehr auf der nachvollziehbaren Seite des gesunden Menschenverstandes. Dessen bin ich mir mehr als bewusst.

Bevor ich mir weiter darüber Gedanken mache, rufe ich mir ins Gedächtnis, in welche Richtung ich gehen muss, schultere meinen Rucksack und mache mich auf den Weg.

Ich bemühe mich, mich an Fakten zu halten und an das zu denken, was kommen wird, sobald ich die Zivilisation erreiche. Auf keinen Fall darf ich zur Polizei gehen. Sie würden meine Glaubwürdigkeit überprüfen, und, wenn ich Pech habe, mich wegen Mordes anklagen. Ich will nicht eingesperrt werden. Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte. Mit niemanden werde ich über die Geschehnisse des Tages reden können, und doch ist mir klar, dass ich mit jemandem sprechen muss, damit ich mit meinen quälenden Gedanken nicht alleine bin.

Der Mann, Steven, ist von jemandem geschickt worden. Ich gehe davon aus, dass mein Vater etwas damit zu tun hat.

Mir ist nie in den Sinn gekommen, auf einem Seil zu balancieren, das die Grenze zwischen meinem bis zu diesem Tag legal geführten Leben und der Illegalität darstellt. Ich habe mich immer auf der einen Seite aufgehalten, und nun gehöre ich durch den Tod von Steven zu denen, die auf der anderen Seite ihr Unwesen treiben. Dort, wo kriminelle Energie und grausame Ideen wie Unkraut wuchern und zu einer undurchdringlichen Hecke heranwachsen.

Aber bin ich wirklich ein Mörder? Weil ich mein eigenes Leben verteidigt habe? Die Frage spukt ununterbrochen in mir herum. Was war dieser Steven für ein Mensch gewesen? Jemand, der auf jeden Fall glaubte, besser zu sein, weil er sich einer geordneten Gesellschaft nicht beugen wollte. Sofern man noch von geordnet reden kann.

Ich stehe auf einem Blockfeld und werfe einen Blick auf den Horizont. Vor mir sind nur Berge, Höhenzüge und dazwischen vergletscherte Gipfel. Ich seufze resigniert, weil ich davon ausgegangen bin, dass der Weg mir nicht so unendlich erscheinen würde.

Die Sehnsucht nach einem Telefonat mit meiner Schwester dehnt sich dadurch noch mehr aus. Mein Redebedarf ist in den letzten Stunden ins Unermessliche gewachsen, und Turia ist die Einzige, der ich mich anvertrauen kann. Ich vermisse sie so sehr, dass mir ein scharfer Schmerz wie die Klinge eines Messers ins Herz sticht. Es klingt paradox, aber ausgerechnet dieser Schmerz bewahrt mich davor, in die Irre zu laufen. Ich will sie bei mir haben und meine Arme schützend um sie legen. Ich stelle mir ihre Atmung vor, wenn sie neben mir schläft, glücklich darüber, bei mir in Sicherheit zu sein. So war es immer gewesen. Und genau diesen Schutz habe ich auch immer bei ihr genossen. Ich brauche ihn jetzt. Mehr als jemals zuvor.

Ich sehe auf meine Schuhspitzen hinab und auf den riesigen Stein, auf dem ich stehe. Erstaunt blicke ich zurück und dann wieder nach vorn. Um mich herum sehe ich nichts als Gestein. Ein Wunder, dass ich nicht abgerutscht und mit einem Fuß in einer Spalte hängengeblieben bin. Ich bin so in Gedanken gewesen, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass ich schon die Hälfte des Blockfeldes überquert habe. Trotzdem habe ich jeden Schritt gut überlegt. Vielleicht, so rede ich mir ein, werde ich dann auch den Rest schaffen. Ich darf meiner überempfindlichen Phantasie keinen Raum mehr geben und den daraus resultierenden Albträumen auch nicht. Ich muss weiter, immer nur weiter ...

Am Stand der Sonne kann ich erkennen, dass es Abend wird. Zeit, mich ein weiteres Mal nach einer geeigneten Stelle umzusehen, wo ich übernachten kann. Ich habe keine Ahnung, wie viele Tage ich seit meinem Aufbruch in Abisko schon unterwegs bin. Es sind auf jeden Fall zu viele, um mich noch an den ständigen Wechsel der Übernachtungsstätten zu erfreuen. Davon mal abgesehen wird der Drang, mit Turia zu reden immer mächtiger.

Eisige Schauer jagen mir über den Rücken. Um mich herum werden die Geräusche zu einem Flüstern, sodass ich erneut den Eindruck bekomme, verfolgt zu werden. Ich sehe mich hektisch um. Gewöhnliche Baumstümpfe und Felsen sehen plötzlich wie menschliche Gestalten aus, die mich unentwegt anstarren. Ich bin übermüdet, aber ich gebe dem Verlangen nach erholsamen Schlaf keinen Raum.

Ich blinzele meine finsteren Gedanken fort und stelle fest, dass ich das Blockfeld überwunden habe. Vor mir ist ein lichter Birkenwald, der weiter talwärts zu einem ausgedehnten Nadelwald wird. Dort muss ich hinunter, wenn ich nicht vom Kurs abkommen möchte. Mir ist das nur recht. So bin ich nicht mehr der Sonne ausgesetzt, ebenso wenig dem Wind, der oberhalb der Baumgrenze ziemlich unangenehm ist. Ich bin unendlich müde. Aber es ist keine Müdigkeit, die man in den Knochen spürt, wenn man den ganzen Tag in Bewegung ist. Auch die spärliche Nahrungsaufnahme ist nicht das, was mich erschöpft. Es ist eine andere Art von Erschöpfung. Eine, die tief aus meinem Inneren herrührt. Ich möchte tief und lange schlafen, aber ich fürchte mich, davon zu träumen, wie Steven mit zertrümmertem Kopf durch den Wald schleicht. Wie er zwischen jungen Birken und Blaubeerbüschen an mir vorbeigeht, den Gestank des Todes mit sich führend. Mit leisen Schritten, und die Nase prüfend in die Luft erhoben, wie ein Jagdhund der seine Beute wittert. Außerdem habe ich Angst davor, dass sich mir jemand nähert, sobald ich schlafe. Ich muss in Zukunft vorsichtig sein, wenn ich anderen begegne. Ich muss misstrauisch bleiben und mir ein Lügengebäude erstellen. Niemand soll wissen, wer ich wirklich bin und woher ich komme.

Hinter einem Felsen setze ich mich. Hier fühle ich mich einigermaßen sicher vor den Blicken eingebildeter Gespenster. Die Gurte vom Rucksack haben meine Schultern wundgescheuert. Sie brennen, doch ich achte nicht weiter darauf. Meine Hände kramen im Rucksack nach dem Spirituskocher und einem Nudelgericht, dass ich mit heißem Wasser aufgieße.

Nachdem ich gegessen habe, schalte ich das Handy ein und blicke gebannt auf das Display, in der Hoffnung, Empfang zu haben. Als ich sehe, wie sich der Empfangsbalken langsam aufbaut, durchfährt mich heiße Freude. Unwillkürlich stoße ich einen kurzen Schrei aus.

Ich will gerade Turias Nummer wählen, als das Handy vibriert.

Mit zitternden Händen lese ich die SMS. Es sind abgehackte Sätze, die typisch sind für diese Art von Mitteilungen und besonders typisch für Turia, die sie verfasst hat.

Sie schreibt zusammenhangslos, und ich weiß nicht, was ihre Nachricht mir sagen soll. Ich kneife die Augen zusammen, scrolle zurück und lese sie noch einmal.

›Sie haben es auf dich abgesehen!!!

Papa hat dich als vermisst gemeldet!

Du fehlst mir so sehr, bitte melde dich bei mir!

Ich weiß, dass du nicht tot bist.‹

Die Sätze lösen augenblicklich Beklemmungen und Schuldgefühle in mir aus. Turia hat etwas mitbekommen. Etwas, was ich nicht fassen kann. Mir fällt ein, wie sie mir im Traum erschienen ist, was mir beweist, dass wir unabdingbar miteinander verbunden sind. Ein unsichtbares Band, das sich nicht an physikalische Regeln und Gesetze hält. Etwas, was nicht zu hinterfragen ist.

Turias Nachricht bestand aus mehr, als nur Worten und Warnungen. Dort stand auch Verzweiflung. Sie fleht mich an, zu ihr zu kommen. Sie hat Angst. Das spüre ich ganz deutlich. Es ist eine kalte Angst, die auch mich befallen hat. Ich beginne zu frieren und wähle mit zitternden Händen ihre Nummer.

Freizeichen. Ich lasse es klingeln, aber niemand geht ran. Ich versuche es erneut. Wieder dasselbe. Das beunruhigt mich, und ich starte weitere Versuche mit demselben Ergebnis. Sie geht nicht ran, und eine Mailbox hat sie nicht eingerichtet. Ich frage mich, warum sie nicht an ihr Handy geht. Sie hat es immer bei sich, sobald sie das Haus verlässt, und auch sonst wacht sie darüber, als ob ihr Leben von diesem Ding abhängen würde. Da muss etwas Gravierendes passiert sein. In Anbetracht der Tatsache, dass ich getötet werden sollte, wundert es mich nicht, dass sie höchstwahrscheinlich in Schwierigkeiten steckt. Vielleicht ist sie in Gesellschaft, die nicht mitbekommen soll, wenn ihr Telefon klingelt. Unser Vater zum Beispiel oder Erik und Turias verkommene Mutter Bente. Aber wieso zum Teufel schreibt sie, dass unser Vater mich als vermisst gemeldet hat? Ich verstehe das alles nicht. Es ist doch paradox, dass ausgerechnet er mich als vermisst meldet, wenn er mich gleichzeitig aus dem Weg räumen will.

Ich versuche noch einmal anzurufen. Mittlerweile bin ich den Tränen nahe und das Freizeichen hallt in meinem Kopf wider.

Als ich es nochmals versuche, ertönt eine blecherne Stimme, die mir mitteilt, dass der angerufene Teilnehmer nicht erreichbar ist. Offensichtlich ist der Akku von Turias Handy leer, und wenn ich nicht aufpasse, wird dasselbe mit meinem Handy passieren. Resigniert schalte ich es aus. Ich muss den Akku schonen, bis ich eine Bleibe gefunden habe, wo es Strom gibt.

An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Die Ungewissheit treibt mich dazu, meine Sachen in den Rucksack zu werfen und weiterzulaufen. Heiße Tränen laufen mir über die Wangen. Was ich getan habe, muss ich immer noch mit mir alleine herumschleppen. Ich weiß, dass es mein Verschulden ist, wenn Turia etwas zugestoßen ist. Es ist alles meine Schuld. Ich habe ihr nie helfen können. Jetzt nicht und damals ... ja, damals habe ich auch nur zugesehen, wenn ihre Mutter sie ... Wenn ich jetzt eine falsche Entscheidung treffen sollte, wird Turia mit darunter leiden müssen. Ich bereue es, nie den Mund aufgemacht zu haben, und ich verstehe nicht, warum nie jemand unsere stummen Hilfeschreie erkannt hat. Waren wir so geschickt darin, das eigentlich Offensichtliche zu verbergen? Jetzt ist es zu spät, um eine Antwort darauf zu bekommen. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich immer auf der Hut sein muss. Selbst wenn mir jemand begegnen sollte, der mir wohl gesonnen ist, darf ich nichts Falsches sagen.

Immer auf der Hut sein. Sei auf der Hut! Die Worte wiederholen sich in mir, schwellen an zu einem einlullenden Singsang und verfrachten mich in einen merkwürdigen Zustand zwischen wachen und schlafen. Ich überlege, ob es so etwas wie eine Zwischenebene gibt, auf der sich Wirklichkeit mit Fiktion miteinander vereinen.

Dann wird es plötzlich dunkel um mich herum, und ich fühle nichts mehr.

Tiloumio

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