Читать книгу Tiloumio - Maari Skog - Страница 13
ОглавлениеMittlerweile ist es Ende August. Ich habe mich weitestgehend von meiner Verletzung erholt und weiß nicht, was mich noch an diesem Ort hält.
Ich könnte weiterziehen, wohin auch immer. Doch meine Angst vor dem, was ich getan habe, hält mich davon ab. Jedoch ist das nicht der einzige Grund, der mich davon abhält, das Wildniscamp zu verlassen.
Seitdem Pascal mich gerettet hat, kommt es mir vor, als ob er mit mir auf eine ganz besondere Weise verknüpft ist. Ich habe mich in den letzten Wochen immer wieder dabei ertappt, dass ich versucht habe, ihn richtig einzuschätzen, und wie sich eine heimliche Bewunderung für meinen Retter eingeschlichen hat.
Egal, was Pascal macht, ihm scheint alles leicht von der Hand zu gehen. Er wird nie laut oder ungeduldig, noch verliert er seinen Humor, wenn etwas nicht so klappt, wie er es sich vorstellt. Vielleicht ist es aber auch seine unbekümmerte und diskrete Art, mit meiner Trübseligkeit umzugehen, die mich davon abhält, ihm Lebewohl zu sagen.
Ich muss mir eingestehen, dass ich beginne, ihm zu vertrauen. Zumindest ein klein wenig. Nur deshalb habe ich zugelassen, dass er mich seinem niederländischen Chef Michi vorgestellt und mir die Verantwortung für die Huskys übertragen hat, die zum Wildniscamp gehören. Von den Gästen des Camps halte ich mich jedoch eisern fern. Ich will und kann mit niemandem reden. Auch bei meinen Begegnungen mit Michi bleibt es meistens nur bei einem kurzen Gruß. Der kleinste Fehler würde eine Kettenreaktion an Fragen in Pascal und auch Michi auslösen, sodass ich in Gedanken eine Liste erstellt habe, an die ich mich in brenzligen Situationen halte. Ich hasse dieses Lügengebäude, das auf keinen Fall niedergerissen werden darf. Es fängt schon damit an, dass ich mich mit falschem Namen vorgestellt habe. Das ist mir fast zum Verhängnis geworden, als mich Pascal vor einigen Tagen gerufen hat. Ich war auf dem Weg zum Zwinger gewesen, und habe auf den Namen Andreas nicht reagiert. Erst als sich mir eine Hand auf meine Schulter legte, bin ich erschrocken zusammengefahren. In dem Moment habe ich geschaltet, dass Pascal mich meinte.
Ein weiteres Problem ist, dass ich behauptet habe, Deutscher zu sein. Noch hat mich Pascal nicht gefragt, woher ich genau aus Deutschland komme. Schließlich kenne ich mich nicht so gut aus mit Städten und Ortschaften in Deutschland. Die Wahrscheinlichkeit, irgendeine Stadt zu nennen, die Pascal gut kennt, in der er vielleicht selbst schon einmal gewesen ist, ist mir einfach zu hoch.
Zudem kommt das Problem, dass ich mich nicht damit verraten darf, wenn ich schwedische Zeitungen lesen will. Pascal geht bisher davon aus, dass ich der norwegischen und schwedischen Sprache nicht mächtig bin. Dabei hätte ich zu gerne mal einen Blick in die Regionalzeitung geworfen. Einfach nur, um in Erfahrung zu bringen, ob vielleicht schon die Leiche meines Widersachers entdeckt worden ist. So aber bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit der Ungewissheit abzufinden.
Manchmal ernte ich fragende Blicke von Pascal. In solchen Augenblicken distanziere ich mich von ihm und bleibe bis zum späten Abend vom Wildniscamp fern. Erst wenn ich mir sicher bin, dass mein neuer Freund schläft, schleiche ich in die Hütte zurück und lege mich auf die Couch.
Die Tage sind bisher in rauschender Unruhe und Vorsicht vergangen. Die einzige Sorge, die von mir abgefallen ist, ist die Panik vor dem absoluten Alleinsein. Aber sonst kommt es mir vor, als ob ich einen Stein in meinem Inneren mit mir herumtrage, den ich nicht mehr loswerde.
Ich sitze im Zwinger bei den Hunden und beobachte, wie sie miteinander balgen. Sie sind nicht mehr so träge, wie vor einigen Wochen, als die Hitzewelle nicht enden wollte. Der Winter hat angekündigt, dass er nicht mehr lange auf sich warten lässt, obwohl wir erst August haben. Vor einigen Tagen hat sich der erste Bodenfrost eingestellt und uns wissen lassen, dass die Uhren hier oben in Lappland anders ticken.
Ich blicke in den Himmel. Ein Wolkenschleier hat das Blau in nicht sichtbare Sphären gedrückt und kündigt anhaltenden Regen an. Mein Bein schmerzt. Ich reibe über die verheilende Wunde, die feuerrot und empfindlich wie Pergamentpapier ist. Aus Angst, dass sie erneut zu bluten beginnt, höre ich auf und verdränge die Vorstellung daran. Wenn ich an einen kaum besiegbaren Blutstrom denke, schieben sich automatisch Bilder in meinem Kopf, auf denen das Blut meines Angreifers in die graue Erde des Bachbettes sickert. Ich will nicht daran denken und merke gleichzeitig, dass es mir nicht gelingt, meine Gedanken davon abzulenken. Sie ermahnen mich, das Schweigen zu brechen und die Wahrheit zu sagen, um endlich die Schuldgefühle herauszulassen.
Ich blinzele und zwinge mich in die Wirklichkeit zurück, so bitter sie auch anmuten mag. Die Hunde lassen mich mein Schicksal für einige Augenblicke vergessen. Deshalb begnüge ich mich damit, ihnen weiterhin zuzusehen.
Einige der Tiere waren am Anfang an mir emporgesprungen und haben mir feuchte Küsse gegeben. Aber ich habe schnell herausgefunden, wie das Rudel funktioniert und wie es sich mit der Rangordnung verhält.
Ein Hund ist mir besonders ans Herz gewachsen. Eine zierliche, schwarze Hündin, deren Brust ein weißer Latz ziert. Ein Teil von ihrem rechten Ohr fehlt. Ich kann mir nur erklären, dass sie es bei einem Kampf verloren hat.
Mit einem Kloß im Hals beobachte ich, wie Flicki, so heißt die Hündin, verängstigt in alle Richtungen blickt, während sie zu den Fressnäpfen schleicht. Sie ist so demütig gegenüber den anderen Hunden. Wenn ich den Zwinger betrete, wartet sie immer ab, bis sich die anderen Hunde von ihrem Begeisterungssturm beruhigt haben. Erst dann kommt sie in geduckter Haltung zu mir, um sich ihre Streicheleinheiten abzuholen.
Die kleine Flicki erinnert mich an Turia. Es ist die Art, wie sie läuft und sich umsieht. Versteckte, geheimnisvolle Blicke, die unermüdlich in der Gegend umherirren, aber auch starr und gefroren in eine Richtung stieren können, regungslos und doch mit einem winzigen Rest von Stolz behaftet.
»Du brauchst dir keine Sorgen um sie machen.«
Ich zucke zusammen und richte mich erschrocken auf, falle aber sofort in die entspannte Haltung zurück, als ich erkenne, dass Pascal an der Ecke des Hundehauses steht und gelassen eine Zigarette raucht.
»Es gibt Neuigkeiten«, fährt er vergnügt fort und bläst Rauchringe in die Luft.
»Und die wären?«, frage ich, ohne den Blick von den Hunden abzuwenden.
»Michi muss für ein paar Tage weg. Er will Freunde in Värmland besuchen und hat mich gebeten, den Laden für die Zeit zu übernehmen. Willst du mir helfen?«
»Blöde Frage«, murre ich, »ich helfe dir doch schon die ganze Zeit, oder nicht?«
Meine schnippische Antwort tut mir gleich darauf leid. Ich streife Pascal mit einem schuldbewussten Seitenblick und bemerke, dass er sich von meiner schlechten Laune nicht aus der Ruhe bringen lässt.
»Ich weiß. Aber das meine ich nicht. Ich muss mich auch um den Souvenirshop kümmern und die Rezeption übernehmen, und da wollte ich dich fragen, ob du dich mit mir zusammen direkt um die Gäste kümmern willst.«
Ich strecke das schmerzende Bein aus und verschränke die Arme vor der Brust.
Alles in mir sträubt sich bei dem Gedanken, mit mehreren Menschen auf einmal in Kontakt treten zu müssen. Die Wunde am Bein beginnt zu pochen, und ich weiß im ersten Augenblick nicht, was ich antworten soll.
»Ich weiß nicht«, sage ich zögernd, »ich halte das für keine gute Idee. Ich kann kaum englisch, geschweige denn schwedisch, und außerdem kann ich nicht so gut … naja, ich habe einfach keinen Bock auf Geselligkeit und gespielte Freundlichkeit. Das liegt mir nicht.«
Ich weiche Pascals erwartungsvollem Blick aus, während er mir freundschaftlich in die Seite knufft.
»Nun komm schon. Lass es dir noch einmal durch den Kopf gehen. Heute Nachmittag bin ich in der Rezeption, und wenn du auch kommst, dann wartet da auch ein Kaffee von der Marke Herztod auf dich, okay?«
»Sehr witzig.«
Ich sehe in Pascals heiteres Gesicht und frage mich, weshalb er nicht enttäuscht ist.
»Ach komm schon, das wird lustig. Und wenn du mir nur Gesellschaft leistest, ohne mit den Gästen reden zu wollen«, versucht er mich weiter zu überzeugen.
Ich gebe mich letztendlich geschlagen, obwohl mir nicht ganz wohl bei der Sache ist.
»Na schön, wenn es dir so wichtig ist, dann komme ich nachher vorbei.«
Zum Dank bekomme ich einen weiteren Knuff an die Schulter.
»Super, ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann«, lacht Pascal und verschwindet ebenso schnell um die Ecke, wie er aufgetaucht ist.
Am Nachmittag mache ich mich mit gemischten Gefühlen auf den Weg zum Souvenirshop, der gleichzeitig die Rezeption umfasst. Doch vorher schalte ich mein Handy für einen kurzen Moment an, um nachzusehen, ob eine Nachricht von Turia eingegangen ist. Das habe ich bisher täglich getan, ohne, dass es Pascal bemerkt hat. Ihn nach einem geeigneten Ladegerät zu fragen, traue ich mich nicht.
Das Display leuchtet auf. Mein Herz fängt an zu rasen, als ich bemerke, dass der Akku nur noch minimale Leistung hat und mir damit deutlich macht, dass sich der Tag unvermeidlich nähert, an dem ich den Mund aufmachen muss. Das Handy stellt schließlich die einzige Kontaktquelle zu Turia dar, und die will ich auf keinen Fall verlieren.
Auch dieses Mal bleibt das Gerät stumm und signalisiert mir, dass sich meine Schwester nicht gemeldet hat. Sorge und Schuldgefühle nagen an mir. Es vergeht kein Tag, an dem mich nicht Angst und Schuld mit einer solchen Wucht treffen, dass ich das Gefühl habe, die Kontrolle über mich selbst zu verlieren. Ich versuche die damit einhergehende Verzweiflung von mir zu schieben, verharre einen Moment, damit ich nicht in Versuchung gerate, etwas Dummes zutun.
Dann verstaue ich das Handy in einer der Küchenschubladen und schlendere missmutig über die Wiese, hinüber zur Rezeption.
Die wenigen Camper, die sich auf der Wiese ausgebreitet haben, sind ausgeflogen, was mir nur entgegenkommt.
Als ich das Wäldchen durchquere, das Michis Wohnhaus und die Rezeption von der Campingwiese trennt, rieche ich, dass Pascal ein Feuer entfacht hat. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, versuche ich meinen Unwillen zu verbergen und sehe zu, wie er einen Kessel mit heißem Wasser von der Feuerstelle nimmt und mir einen Becher reicht, in dem der Kaffeesatz schwimmt.
Vorsichtig nehme ich einen Schluck, um mich nicht zu verbrennen.
»Willst du dich ein bisschen in der Rezeption umsehen? Ich zeig dir alles«, schlägt Pascal vor, erhebt sich und grinst spitzbübisch.
Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich kann mich nicht gegen das Gefühl wehren, dass Pascal unter seinem Lachen die Neugier und die Fragen versteckt, die er mir liebend gerne stellen möchte.
Die Tatsache mahnt mich zur Vorsicht, und ich nehme mir vor, mich besonders mürrisch zu geben, sodass er auch hoffentlich dieses Mal nicht den Mut aufbringt, mich in ein vertrauliches Gespräch zu verwickeln.
Der alte Holzboden knarrt, als wir die Rezeption betreten. Auf dem Tresen stehen kleine Ständer, an denen Schlüsselanhänger und anderer Nippes angeboten wird. Daneben befinden sich Postkarten und Stofftiere. Überwiegend Elche in allen Variationen.
An den Wänden sind Regale angebracht, die mit allen Arten von Wander- und Straßenkarten gefüllt sind. Beim näheren Hinsehen bemerke ich, dass sie pedantisch nach Ländern und Sprachen geordnet sind, und dass sich auch Abenteuer- und Reiseberichte darunter befinden.
Neben einer zerschlissenen Couch steht ein Kleiderständer mit Jacken, Hosen und Pullovern.
»Was für eine Souvenirnippesscheißhölle«, behaupte ich trocken und stelle mir vor, wie idiotische Touristen all die Dinge mit euphorischer Freude an sich reißen. Und das alles nur, um dem Rest der Welt beweisen zu können, wie naturverbunden sie doch sind.
Pascal scheint nicht gehört zu haben, was ich gesagt habe. Er steht hinter dem Tresen und schaut auf einen Schreibblock.
»Wofür ist das denn?«, frage ich und werfe einen Blick auf die Papiere.
Pascal blickt kurz auf.
»Das ist ein Anmeldeblock. Dient der Statistik und der Sicherheit für die Touristen. So was musst du auf jedem Campingplatz ausfüllen, wusstest du das nicht?«
»Nein«, antworte ich abfällig, »es liegt mir nicht, mich auf überfüllten Campingplätzen rumzutreiben. Kann sowieso nicht verstehen, was daran so toll sein soll, sich mehrere Wochen im Jahr in einem zu engen Haus aus Blech und Plastik aufzuhalten. Tür an Tür mit anderen Spinnern, die noch einen Gartenzaun um ihr dämliches Domizil ziehen.«
Pascal seufzt amüsiert und sieht mich dann schweigend, aber mit einem etwas unsicheren Blick an. Ich wende mich ab und gehe zum Bücherregal, wo ich wahllos einen Reiseführer herausnehme. Ziellos blättere ich darin herum, sehe mir Bilder von Stockholm und Göteborg an, ohne sie wirklich zu sehen.
»Mein Vater war Franzose. Er hat Yachten gebaut und ist viel in der Welt rumgekommen«, bricht Pascal plötzlich das Schweigen.
Ich horche auf und frage mich, warum er mir davon erzählt.
»Und jetzt macht er es nicht mehr?«, frage ich, ohne vom Reiseführer aufzublicken, um zu signalisieren, dass ich auf ein derartig persönliches Gespräch keine Lust habe.
Ich weiß jetzt schon, dass Pascal mich gleich nach meiner Familie fragen wird, und bastele mir schnell eine Halbwahrheit zurecht.
»Er ist vor fünf Jahren gestorben. Herzinfarkt«, antwortet Pascal knapp.
Ich sehe kurz auf.
»Tut mir leid«, sage ich und meine es auch so.
Pascal macht eine abwinkende Handbewegung.
»Was ist mit deinem Alten?«, fragt er.
»Er ist ein Penner«, antworte ich unvermittelt, »und er ist es nicht wert, über ihn zu sprechen.«
»Harte Worte«, meint Pascal leise und klingt betroffen.
»Ich weiß. Aber das spielt keine Rolle mehr«, breche ich das Thema ab und sehe aus der offenen Tür hinaus in den grauen Himmel. »Wollen wir uns noch ein bisschen ans Feuer setzen?«
Pascal ist einverstanden. Wir setzen uns nach draußen, trinken Kaffee und schweigen.
Wegen meiner abweisenden Antwort habe ich ein schlechtes Gewissen und suche krampfhaft nach einem unverfänglichen Thema, um das Schweigen zu brechen, doch mir fallen auf Anhieb keine Worte ein. Ich blicke zu dem Platz hinüber, wo sonst Michis Range Rover steht. Das Haus dahinter sieht verlassen aus und erinnert mich daran, dass auch die Hütte, in der Pascal und ich derzeit wohnen, so verlassen da stehen wird, wenn wir hier weg müssen. Diese Erkenntnis schmerzt. Obwohl mir alles wie ein Albtraum vorkommt, fühle ich mich an diesem Ort halbwegs sicher. Er ist so abgeschieden vom Rest der Welt und gleicht einer Oase inmitten der Gnadenlosigkeit, die mich beherrscht.
»Wann musst du hier eigentlich die Zelte abbrechen?«, frage ich.
Pascal schlingt die Arme um die angewinkelten Beine und starrt ins Feuer.
»Von Müssen kann nicht die Rede sein. Aber ich werde spätestens in vier Wochen nach Deutschland zurückfahren. Vielleicht werde ich noch meine Mutter in Frankreich besuchen. Sie wohnt in der Nähe von Antibes, falls dir das was sagt.« Er holt kurz Luft, bevor er fragt: »Und was wirst du machen?«
Ich zucke die Schultern und merke, wie mich leichte Panik erfüllt. Ich schlucke sie hinunter und sage mit so fester Stimme wie möglich: »Weiß ich noch nicht. Vielleicht werde ich, wie geplant, weiter gen Süden wandern und mich dann in Göteborg oder so ... vielleicht werde ich trampen. Keine Ahnung.«
»Wir können auch zusammen nach Deutschland zurückfahren. Dann hätte ich auf der langen Fahrt ein wenig Gesellschaft«, schlägt Pascal vor.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich will dir nicht noch mehr auf die Nerven gehen und außerdem muss ich mich ...«, ich unterbreche mich erschrocken. Beinahe hätte ich gesagt, dass ich mich um Turia kümmern muss.
Pascal steht auf und sieht mich mit prüfendem Blick an. Er sagt nichts, aber seine Augen sprechen Bände. Innerlich bereite ich mich darauf vor, dass er mir unverfroren ins Gesicht sagt, dass er weiß, was ich getan habe. Dass er alles von mir weiß und mir seine Freundlichkeit nur vorgegaukelt hat. Es wäre ein Schock, der mich dennoch nicht überraschen würde. Ich halte kurz den Atem an, als Pascal ansetzt und etwas sagen möchte, und atme erleichtert aus, als er lediglich meint, er will Holz holen, um das Feuer in Gang zu halten.
Er ist kaum hinter Michis Haus verschwunden, als ein roter Kleinwagen auf den Hof fährt. Mein Blick fällt auf das Kennzeichen, und es durchfährt mich eiskalt. Das junge Paar, das aussteigt kommt aus Norwegen und ich ärgere mich darüber, dass ein simples Auto aus meiner Heimat mir so einen Schrecken einjagt.
Unvermittelt stehe ich auf und begrüße meine beiden Landsleute.
»Hei«, rufen sie mir freundlich zu, »habt ihr vielleicht noch eine Hütte für uns frei? Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass es schon so kalt in den Nächten wird, und haben keine Lust mehr, im Zelt zu schlafen.«
Ich mustere die Beiden unauffällig. Sie sind kaum älter als ich. Braun gebrannt.
In gespannter Erwartung sehen sie mich an. Ihnen ist anzusehen, dass sie frisch verliebt sind. Das Mädchen greift nach der Hand des Jungen und streicht mit dem Daumen über seinen Handrücken. Ein Detail, das mich wünschen lässt, ein ebenso sorgenfreies Leben führen zu dürfen, wie dieses Paar, und mich schmerzlich daran erinnert, dass das nie so sein wird.
Ich räuspere mich umständlich.
»Ich werde mal nachsehen. Kommt mit rein, dann könnt ihr einen Kaffee trinken«, sage ich und gehe, ohne darauf zu achten ob sie mir folgen, in die Rezeption.
Nervös wühle ich in den Papieren, reiße einen Anmeldezettel vom Block und lege ihn auf den Tresen. Ich weiß, dass die winzige Hütte oberhalb vom Wäldchen noch frei ist, und suche nervös nach dem Schlüssel. Jetzt fluche ich innerlich, weil ich Pascal keine Gelegenheit gegeben habe, mir zu zeigen, wo alles liegt.
»Bist du auch aus Norwegen?«, fragt mich das Mädchen mit klarem Oslodialekt.
»Ja«, antworte ich, »ich arbeite die Saison hier. Macht Spaß, wenn man die Einsamkeit liebt.«
»Könnte ich mir auch vorstellen«, meint der Junge, »du kommst von der Westküste, stimmt´s?«
»Ja, hört man das etwa?«, frage ich dümmlich und schäme mich für meinen Dialekt.
Das Mädchen kichert und klemmt sich die blonden Haare hinter die Ohren, während sie die Postkarten auf dem Tresen betrachtet.
»Was kostet das pro Nacht?«, fragt sie, ohne auf meine Frage einzugehen.
»Dreihundertfünfzig Kronen. Wenn ihr länger bleiben wollt, ist das kein Problem. Mein Freund und der Chef bieten auch Trekkingtouren an. Grillabende gibt es auch, wenn ihr wollt«, sage ich jetzt freundlicher.
Den Schlüssel für die Hütte habe ich mittlerweile in einer Schublade unter dem Tresen gefunden. Ich schiebe ihn samt dem Anmeldeformular über den Tresen und bemerke einen Schatten im Türrahmen. Ich sehe auf. Pascal steht in der Tür und mustert mich mit einem erstaunten, wie auch entsetzten Ausdruck. Es durchfährt mich siedendheiß, weil mir erst jetzt bewusst wird, dass ich die ganze Zeit norwegisch gesprochen habe und Pascal es offensichtlich gehört hat.
Ich lasse bestürzt die Hände sinken, und ehe ich mich versehe, dreht sich Pascal um und verlässt die Rezeption. Seine Schritte hallen in meinen Ohren nach.
»Wer war das denn?«, fragt der Junge.
Ich habe in den letzten Sekunden fast vergessen, dass ich nicht alleine bin, und wende mich geistesgegenwärtig den Ankömmlingen zu.
»Das ...? Das ist Pascal. Er arbeitet auch hier. Eigentlich ist er für alles zuständig. Zumindest was die Gäste betrifft. Er wird euch helfen, wenn ihr Fragen habt.«
Ich sehe auf das Anmeldeformular, das mir das Mädchen ausgefüllt zugeschoben hat, während meine Gedanken das Tempo meines rasenden Herzens angenommen haben. Ich muss sämtliche Kräfte aufbringen, um mir nichts von meinem privaten Dilemma anmerken zu lassen.
»Dann herzlich willkommen. Wenn ihr länger bleiben wollt, dann sagt morgen einfach Bescheid«, sage ich mit belegter Stimme.
»Und wo ist die Hütte?«
»Ach ja. Ähm .. ich zeig´s euch.« Ich gehe mit den beiden hinaus und zeige den Hang hinauf zum Waldrand. »Wenn ihr den Schotterweg hinauffahrt, seht ihr die Hütte sofort. Davor könnt ihr auch parken.«
»Danke. Dann bis morgen«, lächelt das Mädchen, das laut Formular Janne heißt, und nimmt ihren Freund wieder an die Hand, als sie zum Auto gehen.
Ich sehe zu, wie sie einsteigen und den unbefestigten Weg hinauffahren, bis sie aus meinem Blick verschwinden. Nun bin ich wieder alleine mit meinem Lügengebäude, das nur noch einem Haufen Schutt gleicht.
Pascals Reaktion hat mir einen gehörigen Schrecken eingejagt, und es würde mich nicht wundern, wenn er mich jetzt zum Teufel jagt.
Ich schließe die Rezeption ab und gehe ziellos über das Gelände. Im Wäldchen setze ich mich auf einen Baumstumpf und rauche eine Zigarette. Alles in mir sträubt sich dagegen, zu Pascal zu gehen. Nicht nur weil ich Angst vor seiner Reaktion auf meine Lügen habe, sondern auch, weil ich nicht weiß, was ich ihm sagen soll. Eine neue Geschichte zu erfinden, ist unmöglich. Ich bin kein geborener Lügner, und es ist an sich schon ein Wunder, dass ich es bisher geschafft habe, Pascal und Michi etwas vorzumachen.
Ich versuche zwischen den Bäumen einen Blick zur Hütte zu erhaschen, aber einer der Wohnwagen versperrt mir die Sicht. In Zeitlupentempo stehe ich auf und schleiche hinüber, das mulmige Gefühl in der Magengegend niederkämpfend. Es wird das Beste für mich sein, einfach zu verschwinden. Dann muss ich nicht erzählen, was passiert ist, und niemand erfährt, dass ich in Wahrheit ein Mörder bin. Ich weiß nicht einmal, ob Pascal mich nicht der Polizei ausliefern würde, und rede mir ein, dass ich ihm keine Rechenschaft schuldig bin. In Gedanken sehe ich mich schon eingesperrt in einem Betonklotz, die Finger eines Staatsanwaltes anklagend auf mich gerichtet. Nichts wäre schlimmer als das. Ich will nicht eingesperrt sein und mich mit anderen Kriminellen messen müssen. Da kann ich mir gleich den Strick geben. Im Knast würde ich mir mit Sicherheit schnell wünschen, dass ich mich nicht aus den Klauen Stevens hätte befreien können. Wäre ich doch gleich erschossen worden. Ich höre wieder das metallische Klicken des Revolvers neben meinem Kopf und die zischelnde Stimme, die mir widerwärtige Drohungen ins Ohr flüstert.
Der Revolver. Der weiße Fleck, der mein Gedächtnis beeinträchtigt, bekommt plötzlich Risse. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das geträumt habe, aber mir kommt es vor, als ob ich den Revolver bei mir hatte. Irgendwann hatte ich dieses verdammte Ding in meine Tasche gesteckt, oder?
Wut und Angst lassen mich unkontrolliert und zornig schnauben. Ich stehe mitten auf der Campingwiese und spähe ein weiteres Mal unsicher zur Hütte hinüber. Doch ich kann nicht erkennen, ob sich Pascal in ihr aufhält. Ich will ungestört dabei sein, wenn ich ein paar Sachen einpacke und mich aus dem Staub mache. Aber mir ist klar, dass ich damit rechnen muss, dass Pascal mich davon abzuhalten versucht. Ich blicke mich unsicher um, nehme all meinen Mut zusammen und gehe mit entschlossenen Schritten zur Hütte. Mit rasendem Herzen reiße ich die Tür auf und stelle erleichtert fest, dass ich alleine bin. Schnell mache ich mich daran, den Kleiderschrank im Schlafzimmer nach etwas Brauchbarem zu durchsuchen, womit ich die Kälte in den Nächten vertreiben kann. Doch ich finde keine Klamotten, die einem richtigen Kälteeinbruch standhalten würden. Hektisch blicke ich mich ein weiteres Mal um und stelle mir die Frage, was für ein Tod mir lieber wäre. Kältetod oder Knasttod? Ich entscheide mich für Ersteres. Auf die paar Tage mehr oder weniger in diesem verdammten Leben kommt es jetzt nicht mehr an.
Ich bin gerade im Begriff, die Schranktür zu schließen, als ein Schatten von der Zimmertür hereinfällt.
»Was hast du vor?« Pascal steht im Türrahmen und hat die Arme verschränkt.
»Ich werde gehen«, sage ich leise mit unterdrückter Wut.
»Wirst du nicht«, antwortet Pascal mit samtener, beruhigender Stimme.
»Doch!«, begehre ich auf, »jetzt sofort. Und du wirst mich nicht daran hindern können.« Ich stehe, am ganzen Körper bebend, vor Pascal, der die Hände sinken lässt und sich scheinbar darauf gefasst macht, mich zurückhalten zu müssen.
»Es hat angefangen zu regnen. Du wirst dir den Tod holen, wenn du ohne Ausrüstung gehst.«
»Tod. Tod! Tot bin ich sowieso schon. Es ist egal, was ich tue. Mich hat der Tod schon längst geholt!«, schreie ich mit zitternder Stimme.
Ich bin den Tränen nahe. Pascals ruhiger, verständnisvoller Tonfall macht mir schwer zu schaffen. Es wäre leichter, wenn er mich rausschmeißen würde, als Strafe für meine Lügen. Es wäre nur gerecht. Stattdessen macht er einen Schritt ins Zimmer und sieht mich mitleidig an.
»Du wirst nicht gehen«, meint er überzeugt.
»Ich weiß nicht, was dich da so sicher macht«, knurre ich und gehe an Pascal vorbei in die Küche, wo ich mein Handy aus der Schublade im Küchenschrank nehme.
Ich werfe einen Blick auf das Display und stutze. Vier Anrufe in Abwesenheit. Eine SMS. Für einen Augenblick vergesse ich, dass Pascal hinter mir steht, und öffne die Message. Heiße Freude mischt sich in meine Angst, doch sie erstirbt, als ich Turias Botschaft lese. Ich drücke die Rückruftaste, bekomme aber zum wiederholten Male nur die Nachricht, dass der angerufene Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar ist.
»Scheiße«, fluche ich. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Verzweifelt drehe ich mich zu Pascal um, der immer noch im Schlafzimmer steht und den Mund aufmacht, um etwas zu sagen. Doch bevor er dazu kommt, stürze ich hinaus und knalle die Haustür hinter mir zu. Rastlos gehe ich auf der Veranda hin und her, setze mich schließlich auf den Boden und lehne mich an die Hauswand. Vor mir rauscht ein ergiebiger Regen auf die Erde nieder. In der Regentonne neben der Veranda versucht das plätschernde Wasser aus der Regenrinne, das Rauschen zu übertönen. In der einen Hand halte ich das Handy, während ich mir mit der anderen unentwegt die Tränen aus dem Gesicht wische. Ich kann nicht mehr. Es geht einfach nicht mehr weiter, und die einzige Möglichkeit, die ich habe, ist aufzugeben. Ich hasse meine lächerlichen Lügen, die kein Ausweg waren, wie mir heute klargeworden ist. Sie haben mich in die Enge getrieben. Und die Nachricht, die mir Turia zukommen ließ, schürt meine Schuldgefühle noch zusätzlich. Ich hätte ihr so gerne gesagt, wie leid es mir tut, dass ich sie im Stich gelassen habe. Nun war es dafür zu spät. Das Einzige, was ich noch tun kann, ist, ihr eine Nachricht zu schreiben.
Auch wenn ich nicht weiß, wann sie die erhalten wird. Es bereitet mir Sorge, dass sie ihre neue Nummer, die sie mir geschickt hat, versteckt halten muss. Es muss etwas passiert sein, und dieses Etwas steht mit Sicherheit in Verbindung mit meinem verfluchten Verfolger.
Mein Weinkrampf steigert sich, und die Bilder der Verfolgungsjagd kommen wieder hoch. Es kommt mir vor, als ob ich wieder mitten im Geschehen stecke, in der Grube im Wald sitze und Stevens Schritte dicht an mir vorbeiziehen. Ich schluchze lautlos und ringe nach Luft. Die Hände schützend um den Kopf gelegt sitze ich da. Ich weiß nicht wie lange. Irgendwann vernehme ich aus der Ferne wieder den rauschenden Regen und starre mit leerem Blick auf die Bäume. Es dämmert bereits, und die Gegend verschwimmt immer mehr im vom Regen unterstützten dunkler werdenden Grau.
Ich reagiere nicht, als ich höre, wie sich die Haustür neben mir leise öffnet. Erst als mir eine Flasche Bier gereicht wird, nehme ich diese entgegen, ohne aufzusehen. Pascal gesellt sich zu mir und lässt sich an der Wand hinuntergleiten. Er sitzt jetzt so dicht neben mir, dass ich seine Schulter an meiner spüre.
»Speechless terror«, beginnt er das Schweigen zu brechen, »stummes Entsetzen, das einen daran hindert, ein Ereignis zu beschreiben, das einem schwer zu schaffen macht. Darunter leiden viele, die ein schweres Trauma erlitten haben.«
Ich antworte nicht und versuche ruhig zu atmen, doch ich bringe nur ein abgehacktes Schnauben zustande und kratze beschämt an dem Etikett der Flasche herum.
»Ich gebe zu, nicht viel von dir zu wissen. Aber ich hatte immer eine Ahnung davon, dass du mir etwas verschweigst. Ich habe dich nur nie darauf angesprochen, weil ich das Gefühl hatte, dass du mir in gewisser Hinsicht vertraust. Wenn ich dich mit Fragen gelöchert hätte, dann hättest du dich zurückgezogen, soviel war mir klar. Meinst du nicht, dass es an der Zeit wäre, mir wenigstens jetzt die Wahrheit zu sagen? Zum Beispiel, wie dein richtiger Name ist?«
Ich fühle Pascals Blick wie eine Berührung auf mir ruhen. Obwohl ich nicht zur Seite sehe, weiß ich, dass es ein warmer, freundschaftlicher Blick ist, ohne Vorwurf oder Wut darüber, dass ich ihn angelogen habe. Ich frage mich, warum er so selbstlos ist und eine so schwer wiegende Lüge hinnimmt, ohne sich dabei in verletzte Gefühle zu verstricken. Ich selbst wäre wütend und enttäuscht gewesen, wenn mir jemand eine falsche Identität vorgegaukelt hätte. Ich wäre so misstrauisch geworden, dass ich den Lügner für immer aus meinem Leben verbannt hätte.
Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich nicht glauben kann, dass Pascal mich ernst nimmt.
Selbstzweifel und die Tatsache, dass ich mich selber verabscheue, knebeln meinen Mund, sodass ich weiterhin schweige und Pascal nur einen kurzen, schuldbewussten Blick zuwerfe.
Er lehnt den Kopf zurück und nimmt einen Schluck aus der Bierflasche, um sich mir dann wieder zuzuwenden.
»Ich weiß, dass das was ich jetzt sage, ziemlich sentimental und blöde klingt, aber du bist mir in den letzten Wochen ans Herz gewachsen. Wie ein kleiner Bruder, den ich nie hatte und gerne gehabt hätte. Stattdessen ist es bei zwei älteren Schwestern geblieben, die mich tagtäglich versuchten, in die Hölle zu schicken.«
»Und haben sie es geschafft?«, frage ich, froh darüber, dass Pascal das Thema auf sich gelenkt hat.
»Was geschafft?«
»Na, dich in die Hölle zu schicken.«
»Als Kind habe ich das geglaubt. Mittlerweile weiß ich aber, dass es schlimmere Orte als die Hölle gibt.«
»Und wo sollen diese Orte bitte sein?«
»In uns selbst zum Beispiel.«
Pascal streckt ein Bein aus und holt etwas aus seiner Hosentasche. Ich sehe mit Entsetzen, dass es ein Revolver ist, den er mir mit einem Lächeln präsentiert und mir damit die Gewissheit schenkt, tatsächlich dieses verdammte Teil eingesteckt zu haben.
Ich wende den Blick ab und starre in den Regen. Alles in mir bebt vor Erregung. Denn jetzt ist klar, dass Pascal von Anfang an wusste, dass ich ein falsches Spiel gespielt habe.
»Es ist manchmal nicht leicht, sich an Gesetze zu halten, wenn man Angst hat. Was veranlasst dich also dazu, eine Knarre mit dir rumzuschleppen?«
Ich antworte nicht sofort und suche verzweifelt nach einer plausiblen Erklärung, ohne dass ich von Steven erzählen muss. Ich sollte von vorne anfangen.
»Ein Vater, der dich achtzehn Jahre belogen hat, eine Mutter, die nie deine richtige Mutter war und sich zudem lieber mit Whisky- und Sektflaschen unterhalten hat, ein prügelnder Stiefvater und eine jüngere Halbschwester, die du über alles liebst, aber im Stich gelassen hast ... das ist die Hölle in mir«, presse ich verbittert hervor.
Pascal hält während des Trinkens inne, setzt nach einem kurzen Moment die Flasche ab und schweigt betroffen. Er scheint nach Worten zu suchen.
Ich ziehe währenddessen meine Brieftasche aus der Hosentasche, hole meinen Ausweis heraus und reiche ihn Pascal.
»Und das ... das ist meine wahre Identität«, flüstere ich. Die aufsteigenden Tränen schnüren mir die Kehle zu, und als mir Pascal tröstend die Hand auf die Schulter legt, breche ich hemmungslos in Tränen aus.
»Hast du deshalb eine Waffe bei dir? Hast du Angst vor deinem Stiefvater? Ist es das?«
Ich nicke kurz, wische mir den Rotz mit den Ärmeln ab und reibe mir die Augen, wie es ein Kind tun würde.
»Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn du Angst um dein Leben haben musst? Sogar dort, wo man eigentlich sicher sein sollte?«, sprudelt es aus mir heraus. »Ich habe nie ein richtiges Zuhause gehabt. Mein Vater hat sich von meiner Stiefmutter getrennt, als meine Schwester noch ein Baby war. Ich war damals gerade zur Schule gekommen und musste bei meiner Stiefmutter bleiben. Damals haben sie mich in dem Glauben gelassen, dass sie meine leibliche Mutter sei. Aber sie hat mich und meine Schwester spüren lassen, dass wir ihr nur im Weg waren. König Alkohol war ihr immer wichtiger gewesen. Sogar als sie ihren neuen Stecher kennenlernte und wir in das beschissene Angeberhaus gezogen sind. Turia ... sie hat Turia ...«, Bei der Erinnerung daran, was ich damals mit ansehen musste, breche ich ab.
»Turia? Ist das deine Schwester?« Pascal sitzt immer noch neben mir. Er hat meine Schulter losgelassen und hört mir mit einer Ernsthaftigkeit und Ruhe zu, die mich dazu veranlassen, weiterzureden.
»Ja«, flüstere ich, »sie und ich. Wir hatten nur einander, und nichts und niemand hat es geschafft, einen Keil zwischen uns zu treiben. Ich habe sie vor den Attacken ihrer Mutter geschützt, während sie mich davor bewahrte, dass unser Stiefvater mich verprügelte. Und jetzt ... jetzt bin ich einfach abgehauen. Weil ich endlich meinen Frieden haben wollte. Ich wollte nicht mehr unter Menschen sein. Deshalb bin ich bis nach Abisko gefahren und von dort aus in die Wildnis gelaufen. Und dann ...«, ich bin nicht in der Lage, noch mehr zu erzählen und gebe Pascal die Zeit auf das Gesagte zu reagieren. Er starrt an mir vorbei in den Regen, steht dann auf und versucht anscheinend mein Schicksal zu rekonstruieren, damit er Ordnung in mein schockierendes Geständnis bringen kann.
»Das, was dir und deiner Schwester passiert ist, ist ein Verbrechen an Wehrlosen«, sagt er schließlich leise, schüttelt ungläubig den Kopf und sieht mich an.
»Und was ist mit deiner richtigen Mutter passiert? Oder dein Vater? Hat der nicht gewusst, wie es euch ergeht? Und überhaupt ... wie, wie kommt es, dass du so gut norwegisch sprichst? Ich komme da nicht mit.«
Bei dem Gedanken an meine Kindheit beginne ich zu frösteln. Schon immer habe ich geglaubt, dass ich ein Todgeweihter bin. Ein Verlierer, der nicht alt wird und der jedem scheißegal ist. Abgesehen von Turia natürlich. Daher wundert es mich, dass Pascal so viel Interesse und Beistand für mein Schicksal zeigt. So wie er mich jetzt ansieht, schnürt es mir die Kehle zu. Sein Gesichtsausdruck strotzt vor Mitleid und Entsetzen, aber ich kann auch unbändige Wut darin erkennen.
»Ich bin eigentlich Norweger. Turias und mein Vater, also unser gemeinsamer Vater, ist Deutscher. Er ist vor fünfundzwanzig Jahren nach Norwegen ausgewandert. Dieses Arschloch. Er hat mir nie erzählt, wer meine richtige Mutter ist, oder was aus ihr geworden ist. Viel lieber ist er zur See gefahren, als sich um uns zu kümmern. Du weißt schon, mit den Trawlern, die bis nach Grönland fahren und wochenlang unterwegs sind. Das war und ist immer noch eine prima Möglichkeit, die Verantwortung für seine Kinder nicht übernehmen zu müssen. Es ist überhaupt ein Wunder, dass er sich in seiner freien Zeit, wenn wir bei ihm waren, die Mühe gemacht hat, uns deutsch beizubringen.«
Pascal stößt sich vom Geländer ab und setzt sich neben mich. Die Hände hält er wie zum Gebet gefaltet, weit von sich gestreckt.
»Glaubst du, dass alles, was passiert, vorherbestimmt ist?«, fragt er plötzlich.
Ich bin auf die Frage nicht vorbereitet. »Wie kommst du darauf?«
Pascal sieht auf die Öffnung seiner Bierflasche und klopft mit den Fingern auf den Flaschenhals.
»Kann ich dir nicht sagen. Ich habe nur so ein komisches Gefühl. Mir ist gerade durch den Kopf gegangen, dass wir uns nie begegnet wären, wenn Butz dich nicht gewittert hätte. Das ist, als ob es so sein sollte. Vielleicht will das Schicksal ja, dass ich dir helfe. Du solltest mit nach Deutschland kommen. Dort kannst du neu anfangen. Ich würde auch vorher mit dir nach Abisko fahren, um deinen Wagen zu holen.«
»Das geht nicht«, entfährt es mir schnell. Die Aussicht auf einen Neuanfang verlockt mich zwar, aber dass Pascal mit mir nach Abisko fahren will, behagt mir ganz und gar nicht. Ich spüre die aufkommende Erklärungsnot und greife nervös zu dem Päckchen Zigaretten in meiner Jackentasche.
»Für die Schrottgurke würde nichts mehr rausspringen, und weshalb sollten wir den Weg auf uns nehmen, wenn sowieso nur ein Verlustgeschäft entsteht?«, versuche ich zu argumentieren, »Außerdem muss ich mich um Turia kümmern. Ich habe sie im Stich gelassen. Das lässt mir einfach keine Ruhe.«
Eine Spur Enttäuschung huscht über Pascals Gesicht, weicht dann aber Verständnis.
»War sie es, die dir eine Nachricht geschrieben hat?«, fragt er und mustert mich eingehend.
Offensichtlich ahnt er, dass ich ihm immer noch Einiges verschweige. Ich weiche seinem Blick aus. Es ist nicht nur die Furcht davor, dass mich Pascal möglicherweise für meine Tat verurteilen könnte, sondern auch die Angst, dass genau das Gegenteil von dem passiert.
Mein Bauchgefühl sagt mir, dass er sich zu etwas Unüberlegtem hinreißen lassen würde, wenn er erfährt, was ich getan habe.
Etwas, was zu meinen Gunsten ausfallen und meine still gehegten Rachegelüste zwar abmildern, aber Pascal in etwas hineinziehen würde, was ihn eventuell zum Verhängnis werden könnte.
Ich schüttele abwehrend den Kopf.
»Sie hat mir nur ihre neue Handynummer durchgegeben. Aber sie geht nicht ran.«
»Dann versuch doch, sie zuhause anzurufen. Bei deinem Vater oder bei deinen geisteskranken Stiefeltern.«
Ich stütze die Ellenbogen auf den Beinen ab und rauche hastig. Die Zigarette in meiner Hand zittert.
»Würde ich ja gerne. Aber es geht nicht. Ich kann nicht. Verstehst du? Ich kann das einfach nicht. Sie hat mir geschrieben, dass ich das nicht machen soll«, versuche ich zu erklären.
Pascals Augen verziehen sich zu schmalen Schlitzen und signalisieren mir, dass er mir nicht glaubt.
»Vertraust du mir? Wenn es so ist, dann erzähl mir alles. Ich merke nämlich, dass da etwas ganz gewaltig zum Himmel stinkt.«
Ich vergrabe mein Gesicht zwischen den Knien und antworte nicht. Ich will nicht, dass Pascal enttäuscht von mir ist, und gleichzeitig merke ich, wie eine kalte Wut in mir hochsteigt, immer hitziger wird und zu brodeln beginnt.
»Du spinnst ja. Was willst du denn hören? Ich kann einfach nicht so agieren, wie ich gerne möchte. Ich kann einfach nicht«, wiederhole ich und merke, wie ich mehr und mehr in die Ecke gedrängt werde.
»Und wieso zum Teufel kannst du nicht? Warum willst du nicht deinen Wagen abholen und bei deiner Schwester anrufen? Glaubst du etwa, dass dein Daddy oder dein Stiefdaddy dir durch den Hörer den Schädel einschlagen werden? Erkläre es mir, damit ich es verstehe.« Pascal ist unnatürlich laut geworden, und ich kann es voll und ganz nachvollziehen.
Ich halte mein Gesicht weiterhin zwischen den Knien verborgen und balle die Hände zu Fäusten, beschämt wie ein kleiner Junge, der etwas ausgefressen hat.
»Was ist denn jetzt?«, höre ich Pascal ungeduldig fragen. »Warum kannst du das alles nicht? Was ist denn, verdammt noch mal, passiert? Wolltest du jemanden mit der Knarre umbringen?«
Er packt mich an den Schultern. Ich schlage seine Hände weg, stehe in Windeseile auf und will vor ihm in den Regen flüchten. Doch Pascal ist schneller und versperrt mir den Weg.
»Sag die Wahrheit«, fordert er eindringlich. »Wolltest du, oder hast du vielleicht sogar ...?«
Ich lasse ihn den Satz nicht zu Ende bringen.
»Ja, ich habe! Ich habe jemanden getötet, und ich musste es tun! Ich wurde gejagt wie ein Vieh und ich musste ... ich konnte nicht ...«, schrie ich die Worte heraus, die mich augenblicklich aus der Ecke befreien, in die mich Pascal zuvor gedrängt hat.
Ich hebe die Arme und stoße ihn von mir, um anschließend die Hände schützend vor mein Gesicht zu halten.
»Ich sollte umgebracht werden. Ich habe mich doch nur verteidigt. Ich will nicht ins Gefängnis. Ich will da nicht hin, dann bringe ich mich lieber um.«
Durch einen Tränenschleier sehe ich den Revolver auf dem Boden liegen. Ich hebe ihn auf und halte ihn mir an den Kopf.
»Du kannst mich töten. Töte mich! Ich wollte das nicht, aber mir blieb keine andere Wahl«, sprudelt es aus mir heraus.
Die letzten Worte schluchze ich nur noch.
Unter mir beginnt sich der Boden zu drehen, sodass ich auf die Knie falle.
Wimmernd richte ich mich wieder auf.
»Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht ...«, schluchze ich wieder und wieder, überzeugt davon, dass mich Pascal der Verdammnis aussetzen wird.
Doch dann fühle ich, wie er mir den Revolver aus der Hand nimmt und die Arme um mich schlingt.
»Ach du Scheiße. Scheiße«, höre ich ihn leise flüstern.
Ich dem Moment weiß ich nicht, ob ich mich schämen, oder einfach nur erleichtert sein soll. Meine Beine fühlen sich wie Gummi an und lassen mich fast zu Boden gehen. Doch Pascal hält mich weiterhin fest.
Zu lange habe ich das gewichtige Geheimnis mit mir herumgetragen, es kommt mir fast wie ein schonungsloser, aber unrealistischer Albtraum vor. Nun trifft mich die Realität mit voller Wucht. Das Karussell in meinem Kopf hindert mich daran, einen klaren Satz zustande zu bekommen.
»Er wollte sich durch meinen Tod bereichern. Ein Spiel ... ich hatte die Knarre am Kopf und ... der wusste alles von mir, und ich weiß nicht warum. Woher ...«, schluchze ich haltlos und grabe mein Gesicht noch fester in Pascals Flanellhemd.
Das Reden kostet mich zu viel Kraft.
»Bei Gott im Himmel, was für eine Scheiße«, flüstert Pascal entsetzt und will mich vorsichtig von sich schieben.
Doch ich lasse ihn nicht los.
»Ist okay«, sagt er leise und legt wieder die Arme um mich. »Was für ein verdammtes Spiel? Was ...«, er spricht nicht weiter, weil ihm wahrscheinlich die Worte vor Fassungslosigkeit fehlen. »Du wirst nicht in den Knast wandern«, sagt er nach kurzem Schweigen schließlich. »Von mir wird niemand etwas erfahren. Du musst keine Angst haben, okay?«
Ich nicke und ziehe den Rotz hörbar hoch. Ein Stück weit beruhigt löse ich mich von Pascal und wische mir mit dem Jackenärmel übers Gesicht. Mein Atem geht immer noch stoßweise, und ich wage nicht, meinen Freund anzusehen.
Pascal umfasst meine Schulter.
»Ich gebe dir mein Ehrenwort darauf, dass ich dir helfen werde, die ganze Scheiße zu bereinigen. Ich werde dir erst mal etwas zu essen machen und dann ... Mann, Scheiße, ich muss das sacken lassen. So eine Scheiße ... verdammt.«
Wenig später sitze ich vor einem Teller mit Gulasch und Nudeln. Ein appetitanregender Duft steigt mir in die Nase, und ich merke, wie hungrig ich bin. Der Klotz in meinem Magen, der mich daran gehindert hat, etwas Essbares aufzunehmen, hat sich in einen Schwall Wörter verwandelt und ein hohles Gefühl hinterlassen. Das Loch wartet darauf gestopft zu werden, und ich stürze mich gierig auf das Gulasch. Es ist heiß.
Jeder Millimeter meiner Speiseröhre wird mit Hitze ausgefüllt. Sie breitet sich im Magen aus, und mein Hals beginnt zu schmerzen.
Pascal stellt gekühltes Bier auf den Tisch, faltet die Hände und tippt unablässig mit den Fingerknöcheln gegen seine Oberlippe. Ich kann sehen, wie es hinter seinen brombeerschwarzen Augen arbeitet und sein Gehirn damit beschäftigt ist, eine Reihenfolge in alles hineinzubringen. Er greift nach der Flasche neben sich und genehmigt sich einen Schluck, um sich danach nachdenklich übers Kinn zu streichen.
»Geht es dir besser?«, fragt er ruhig und sieht mir dabei zu, wie ich den letzten Rest Soße vom Teller lecke.
Ich nicke.
»Meinst du, du schaffst es mir detailgetreu zu erzählen, was passiert ist?«
Ich nicke wieder und zünde mir eine Zigarette an.
»Ich glaube schon«, beginne ich langsam und denke daran, wie schwer die kommenden Stunden werden.
Vor allem wenn ich daran denke, darüber sprechen zu müssen, was Steven vorhatte, bevor er mich umbringen wollte. Ich schlucke ein paarmal und spüle die Scham mit einem gewaltigen Schluck Bier hinunter.
»Ich glaube, dabei will ich mich betrinken«, sage ich leise, in der Hoffnung, dass der Rausch meine Hemmschwelle mindert.
»Gut«, antwortet Pascal und holt noch mehr Flaschen aus dem Kühlschrank, »dann betrinken wir uns.«
Ich trinke schweigend eine Flasche auf ex. Ein wohlig warmes Gefühl befällt mich und legt sich wie ein Seidenvorhang auf mein Trauma. Darunter verliert es seine Bedrohlichkeit und wirkt, während ich zu erzählen beginne, nicht mehr so hart, kantig und beschämend. Es gelingt mir, alles emotionslos hervorzubringen und in klare Worte zu fassen. Ich fädele das Erlebnis wie kostbare Perlen auf ein dünnes Band. Eine neben die andere. Manchmal glaube ich, so etwas wie Zorn in Pascals Augen lesen zu können, manchmal Besorgnis.
Als ich fertig bin, schweigen wir eine Zeit. Ich lehne mich zurück und schließe erschöpft die Augen.
»Ich habe eine Idee«, höre ich Pascal wie durch einen Schleier sagen. »Einen todsicheren Plan, was wir machen werden.«