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1920

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Piłsudski suchte vergeblich nach einem weder weißen noch roten, demokratischen „dritten Russland“, das einen polnischen Staat mit Grenzen jenseits von Bug und San anerkannt hätte. Stattdessen fand er den politischen Bankrotteur Symon Petljura, den 1919 von Polen wie von den Roten geschlagenen war lord, der nun die Reste der vereinigten Truppen der Ukrainischen und Westukrainischen Volksrepublik befehligte. Anfang 1920 umfassten sie einige Tausend Soldaten. Der größte ukrainische Warlord, Nestor Machno, verfügte über zehnfach stärkere Banden.

Am 21./22. April 1920 schloss die Republik Polen einen Geheimvertrag mit der – angeblich von Petljura repräsentierten – Ukrainischen Volksrepublik. Polen erkannte die Ukraine an. Die Ukraine gab den Anspruch auf Ostgalizien und das westliche Wolhynien auf. Die polnische Regierung überließ der Ukraine das Territorium östlich dieser Gebiete bis an die polnischen Grenzen von 1772, „die Polen schon besitzt oder auf militärischem oder diplomatischem Wege von Russland zurückgewinnen wird“. Es handelte sich also um einen klassischen Angriffspakt, allerdings zwischen höchst ungleichen Partnern: Polen trat als Imperium auf, Petljura hatte nichts in der Hand. Gleichwohl agierten seine Unterhändler weitaus vernünftiger als ihre Vorgänger zwei Jahre zuvor in Brest. Die Polen forderten den Abschluss eines Wirtschaftsabkommens im Stil des Brester Vertrags. Den Inhalt fasst Jan Pisuliński lapidar so zusammen:

Es ging u.a. um die Erlaubnis zum Export von Bodenschätzen (darunter Eisenerz und Mangan) und Agrarprodukten (Zucker, Vieh) sowie um Konzessionen zum Betrieb dreier Eisenerz- und Manganbergwerke im Krywbass (für 99 Jahre). Der [polnische] Entwurf sah auch die Einrichtung zollfreier Zonen in den Schwarzmeerhäfen (Nikolajew, Odessa) vor. Um die Nutzung zu ermöglichen sollte die ukrainische Regierung zudem Konzessionen für Bahnlinien nach Polen und zu den Schwarzmeerhäfen erteilen und sogar fehlende Teilstrecken bauen.37

Der von den polnischen Kolonialmachtsansprüchen an die Wand gedrängte David zögerte die Verhandlungen hinaus. Die ukrainischen Unterhändler beharrten auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und unterschrieben letztlich auch in den folgenden Gesprächsrunden nicht, bis im August die Gesprächsprotokolle im Archiv der Diplomatiegeschichte verschwanden.

Von Beginn an war nämlich klar, dass alles vom Ausgang des Polnisch-Sowjetischen Kriegs abhing. Nur Petljuras Erfolge konnten ein solides Fundament für die künftigen wirtschaftlichen und sonstigen Beziehungen schaffen. Seine Armee sollte von den Polen ausgerüstet werden und unter polnischem Kommando dienen. Am 24. April wurde ein geheimes Militärabkommen unterzeichnet, das die Bedingungen der ungleichen Freundschaft präzisierte. Es wurde erwartet, dass die Besetzung der Ukraine Petljuras – großspurig Divisionen genannten – Einheiten Zulauf verschaffen würde. Petljura zählte auf die Errichtung eines ukrainischen Staates unter seiner Führung. Das war in etwa so, als hätte ein polnischer Politiker 1918 den Vertrag von Brest-Litowsk in der Hoffnung unterzeichnet, dass er damit die Macht in Warschau gewinnen werde. Doch so dumm war kein polnischer Politiker. Für die große Mehrheit der Ukrainer, die sich überhaupt für diese Fragen interessierten (eine Minderheit der nicht ganz existierenden Nation), kam die Abtretung Ostgaliziens und eines Teils von Wolhynien einem Verrat durch Petljura gleich.

Am Tag darauf begann die polnische Offensive. Am 26. April veröffentlichte Piłsudski einen Appell an das ukrainische Volk:

An alle Einwohner der Ukraine!

Die Armee der Republik Polen ist auf meinen Befehl weit auf das Gebiet der Ukraine vorgerückt. Der Bevölkerung dieser Gebiete gebe ich bekannt, dass die polnischen Truppen die fremden Invasoren, gegen die sich das ukrainische Volk zum Schutz ihrer Ansiedlungen vor Gewalt, Raub und Plünderung mit der Waffe in der Hand erhob, aus den von der ukrainischen Nation bewohnten Gebieten entfernen wird.

Die polnischen Truppen werden so lange in der Ukraine bleiben, bis eine rechtmäßige ukrainische Regierung diese Gebiete übernehmen kann. Sobald der Nationalrat der Ukrainischen Republik eine Staatsregierung beruft, sobald an den Grenzen Streitkräfte des ukrainischen Volkes stehen werden, die das Land vor einem neuen Überfall zu schützen vermögen, und sobald die freie Nation fähig sein wird, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden – hat die polnische Armee die ehrenvolle Aufgabe des Kampfes für die Freiheit der Völker erfüllt und wird in die Grenzen der Republik Polen zurückkehren.

Gemeinsam mit den polnischen Truppen kehren unter der Führung des Obersten Atamans Symon Petljura die Reihen der tapferen Söhne des Landes in die Ukraine zurück, die in den Tagen der schwersten Prüfung für das ukrainische Volk in der Republik Polen Zuflucht und Hilfe fanden.

Ich glaube daran, dass die ukrainische Nation alle Kräfte aufbieten wird, um mit der Hilfe der Republik Polen die eigene Freiheit zu erkämpfen und der fruchtbaren Erde ihres Heimatlandes Glück und Wohlstand zu sichern, an dem ich mich nach der Rückkehr zur Arbeit und zum Frieden erfreuen werde.

Die Truppen der Republik Polen werden allen Einwohnern der Ukraine ohne Unterschied des Standes, der Herkunft und der Religion Schutz und Obhut gewähren.

Ich rufe die ukrainische Nation und alle Bewohner dieser Gebiete dazu auf, dass sie geduldig die Lasten tragen, welche die schwere Zeit des Krieges ihnen auferlegt, und die Armee der Republik Polen, so gut es in ihrer Kraft steht, im blutigen Kampf für ihr eigenes Leben und ihre eigene Freiheit unterstützen.38

Der Appell erwies sich als genauso wirksam wie ein Jahr zuvor die Ansprache an die Bevölkerung des Großfürstentums Litauen oder der in der Literatur zu Recht übergangene Aufruf an die Weißrussen. Niemand interessierte sich dafür.

Die Polen wurden als „Herren“ gesehen. Die Angst vor der Wiedereinführung der Leibeigenschaft und der Rückforderung des Landes aus dem großen Grundvermögen, das die Bauern bereits unter sich aufgeteilt hatten, waren letztlich größer als die Angst vor den Bolschewiki. Der junge französische Verbindungsoffizier Charles de Gaulle verstand die Ursachen ebenso gut wie seine Kollegen aus der II. Abteilung des Generalstabs der polnischen Armee, die mehrfach mahnten, man dürfe nicht auf die Unterstützung des ukrainischen Dorfes hoffen:

Wenn ein Soldat nach Wasser oder nach dem Weg fragt, antwortet der Ruthene langsam, mit gleichgültiger Miene. Von Lemberg bis zur Wolga ist der Bauer – der zu viel gelitten, der Familie und Habe verlor – in sich verschlossen und trachtet nur darauf, die Requisition der letzten Hühner, des letzten Ferkels oder das alten Pferdes, die ihm noch blieben, zu verhindern […]. In tiefster Seele des Landwirts wohnt nur ein Gefühl: Hass gegen den Soldaten, gleich, ob er Lenin, Petljura, Denikin oder Piłsudski dient. Dieselben Städte erhoben sich nacheinander gegen jeden. In denselben Wäldern wurden einzelne Bolschewiki, Polen und Russen, gefoltert und massakriert.39

Ähnliche Eindrücke notierte der nationaldemokratische Gutsbesitzer Juliusz Zdanowski, ein entschiedener Gegner Piłsudskis, in einem Tagebucheintrag vom 28. April, als sich polnische Einheiten fast im Tempo des deutschen Eisenbahnfeldzugs zwei Jahre zuvor nach Osten bewegten:

Die Würfel sind gefallen, doch es wird einem angst und bange. Dieser Appell [Piłsudskis] erinnert sehr an den 5. November [1916] und Petljura an unsere Ronikiers [ein Symbol der Nachgiebigkeit gegenüber Deutschland]. Wir versuchen denselben Betrug, der den Deutschen bei uns fast geglückt wäre, in Bezug auf den Osten aber komplett gescheitert ist. Wir verlängern unsere Front. Mit einer Handvoll Einheiten wollen wir ein wildes, feindliches, bewaffnetes und anarchistisches Volk befreien. Auf diesem Territorium grassiert das schreckliche Fleckfieber, das wir schon an der festen Front nicht aufhalten konnten. Und der Bauer behandelt jeden, der etwas von ihm will, als Banditen, weil er andere Konzepte als Raub nicht versteht.40

Kaum anders präsentierte sich die Situation aus der Sicht eines gewöhnlichen Feldwebels, Jerzy Konrad Maciejewskis. Er nahm an zahlreichen Requisitionen teil und sah, wie ein Teil der konfiszierten Güter in die Quartiermeisterei wanderte und der Rest in den Tornistern der Soldaten verschwand. Als seine Kompanie die ehemalige habsburgisch-russische Grenze überschritt, traf sie im ersten Dorf „auf einige Hochzeiten, die schnell endeten, weil die Bevölkerung die Polen fürchtet“. Nach Medschybisch gelangte Maciejewskis Einheit mit dem zweiten Schwung. „Das 40. Infanterieregiment der Lemberger Schützen war früher in das Städtchen einmarschiert, daher waren alle Läden auf dem Markt schon geplündert. Die Vierziger hatten die Taschen und Brotbeutel voll mit Zucker, Bonbons, getrockneten Pflaumen, Äpfeln etc. Die 2. Kompanie besetzte eine geräumige Wohnung im ersten Stock bei einem reichen Kaufmann, einem Juden. Alles war schon geplündert worden. Als wir eintrafen, schlugen gerade zwei Galiläer [Galizier] aus dem 40. Infanterieregiment mit den Gewehrkolben Fensterscheiben ein – con amore. Wir verjagten sie auf der Stelle.“ Anschließend gingen die Soldaten der 2. Kompanie selbst auf die Suche nach Nahrungsmitteln. Sie fanden einiges. Die Vierziger beneideten sie um ihre Beute. Es entspann sich ein Streit, dann eine Schlägerei, bald griffen die Soldaten zu den Waffen. Herbeigeeilte Offiziere trennten die beiden Gruppen. Der Feldwebel resümierte: „Die Zivilisten konnten eine hohe Meinung von uns haben: Banditen, Diebe, und außerdem schlagen sie sich untereinander. Nach den ersten Tagen unserer Herrschaft hieß es, die Polen seien sogar schlimmer als die Bolschewiki.“41

Der nationaldemokratische Intellektuelle und der Feldwebel stimmten in einem weiteren Punkt überein. Piłsudski glaube, so Zdanowski, dass die Bolschewiki ohnehin einen Angriff auf Polen planten, also müsse man ihnen zuvorkommen. „Wenn wir daher vorangehen müssen, bleibt uns nur, nach dem Strohhalm zu greifen, und sei es Petljura. Besser einen solchen Verbündeten als keinen. Aber es ist genau derselbe Versuch, den schon die Deutschen unternahmen.“ Die ukrainische Offensive sei zum Scheitern verurteilt:

… hunderttausende Quadratkilometer einzunehmen ohne Möglichkeit, sie zu besetzen, ist ein seltsam abenteuerliches Unterfangen und Petljuras Hilfe bietet nicht die geringste Garantie, dass sich mit den Ukrainern ein Frontabschnitt besetzten ließe; und es ist nicht möglich, einen Pakt mit ihm zu schließen und ihn abseits der Front auf einem ihm bestimmten Territorium zurückzulassen […], ein Angriff ändert nichts daran. Den zurückweichenden Feind wird er nicht zum Frieden zwingen, er verlängert unsere Front um viele Kilometer, entfernt diese Front bei schon unmöglichen Kommunikationsbedingungen und stellt sie vor unüberwindliche Probleme. Petljura wird die Etappe nicht sichern. Es gibt die Ukrainer nicht. Man kann nicht auf eine Nation zählen, mit der einen nur die gemeinsame Tradition des Kolijiwschtschyna-Aufstands42 verbindet und der man ausgerechnet den Teil ihres Territoriums nicht zurückgeben will, in dem die einzige etwas gebildetere und mit diesem Territorium (scil. Ostgalizien) verbundene Gesellschaft existiert […]. Man kann nicht immer und überall Wunder verlangen und das Risiko übersteigt alle denkbaren Aussichten auf einen guten Ausgang […]. Die Bauern verkaufen nichts, sondern tauschen nur, wofür uns die Tauschware fehlt, und laut sagen sie, sie wären schon der zaristischen, des Hetmanats und der bolschewistischen Mobilisierung entkommen, also seien sie auch weiter dazu imstande.43

Der Feldwebel Maciejewski fasste die Sache direkter: „Warum dieser Krieg? Gewinnen wir die Kresy zurück? Aber in diesen ‚Kresy’ sind doch 80 Prozent der Bevölkerung Ruthenen, Juden oder Russen, das heißt – Feinde. Wenn ich nicht Soldat wäre, würde ich Anarchist.“44

Der Nationaldemokrat und der Feldwebel bildeten im ersten Kriegsmonat eine Ausnahme. Kaum jemand sonst bewahrte sich einen derart klaren Kopf. Die polnische Armee griff die Rote Armee auf einer Frontlänge von 450 Kilometern an, mit überwältigendem Erfolg. Beide bolschewistische „Armeen“ (die Bezeichnung ist noch willkürlicher als im Fall von Petljuras Divisionen; in Wirklichkeit zählte eine so viele Soldaten wie eine Division, die zweite hatte die Stärke einer Brigade) wurden zerschlagen, generell wichen die Bolschewiki aber überall zurück oder – eher – flohen. Am 6. Mai rückten die Reste der Roten Armee aus Kiew ab, am Tag darauf besetzten die Polen kampflos die Hauptstadt der Ukraine. Die Avantgarde soll mit der Straßenbahn in die Stadt eingerückt sein. Norman Davies rechnet vor, dass es sich um den fünfzehnten Machtwechsel in Kiew seit dem Frühjahr 1917 handelte. Charles de Gaulle kam auf 18.45 Die Kiewer verhielten sich in dieser Situation ebenso indifferent wie die Bauern. Sie warteten.

Trotz des spektakulären Erfolgs war Piłsudski wütend. An Kazimierz Sosnowski schrieb er:

Diese Bestien flüchten, statt Kiew zu verteidigen […]. Überall, in der ganzen Ukraine gibt es Aufstände gegen sie. Die Einnahme von Kiew ist nicht einmal eine militärische Notwendigkeit, sondern ein Signal und ein politisches Symbol. Doch […] mit dieser räuberischen Armee durch die mit den Roten sympathisierenden Aufstände zu ziehen, ist politisch und militärisch absurd. Das will ich nicht zulassen. Ich stoppe also nach der Einnahme von Kiew die Front und möchte mit Odessa das politische Symbol vollenden. Ich möchte es durch die Ukrainer selbst tun, indem ich ihnen eine gewisse Unterstützung gebe.46

Der vergessene Weltkrieg

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