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Die makedonische Frage

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Auf dem Balkan brodelte es, am heftigsten in den Welajets Manastir, Thessaloniki, Kosovo und Adrianopel, also in den Provinzen Makedonien und Thrakien. In Makedonien lebten Menschen christlichen und muslimischen Glaubens, die sich als Bulgaren, Serben, Albaner oder Griechen fühlten. Thessaloniki, die größte Stadt der Region, war außerdem Heimat der größten Gemeinde sephardischer Juden im Osmanischen Reich. Hinzu kamen ethnische Gruppen, deren Existenz europäische Diplomaten bis heute mitunter in Erstaunen versetzt – etwa die Aromunen (ein Hirtenvolk mit einer dem Rumänischen verwandten Sprache) oder die Pomaken (bulgarischsprachige Muslime) –, und nicht zuletzt Türken: Bauern, Grundbesitzer und zahlreiche Militärs. In der Garnison Thessaloniki formierte sich die osmanische Reformbewegung, die in die Jungtürkische Revolution mündete.

Die Eliten – sowohl die türkisch-osmanischen als auch die einheimischen slawischen, albanischen und griechischen – legten in ihren Aktivitäten fiebrige Eile an den Tag, sie schmiedeten fantastische Pläne und schrieben dramatische Manifeste. Die jungtürkischen Offiziere, albanischen Journalisten oder bulgarischen Lehrer hatten ihre Gründe: Sie alle fühlten sich isoliert im mühseligen Kampf nicht nur gegen den Feind, sondern vor allem gegen die Gleichgültigkeit ihrer potenziellen Landsleute und Verbündeten, die sich kaum für die Bewegungen der Reformer, Erwecker und Erneuerer interessierten. Die überwiegende Bevölkerungsmehrheit in den zwei Provinzen bestand aus schriftunkundigen Bauern ohne nationales Bewusstsein. Um sie tobte ein Kampf, der im Lauf der Zeit den ganzen Balkan erfasste.

Die Eliten wollten aus den amorphen Massen eine Nation formen. Die lokale Identität der „Hiesigen“ sollte durch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer durch Sprache, Geschichte, Kultur und – im besten Fall bald schon – neue Staatsgrenzen bestimmten Gemeinschaft ersetzt werden. Die Erwecker merkten auf Schritt und Tritt, wie wenig man auf sie wartete. Als einer von ihnen, ein Grieche, makedonische Bauern fragte, ob sie sich eher als Griechen oder als Bulgaren fühlten, bekreuzigten sich diese und antworteten: „Wir sind Christen, aber was meinst du mit Romaioi (Griechen) oder Voulgaroi (Bulgaren)?“ Die Erwecker versuchten zunächst zu überzeugen, dann gingen sie zu Drohungen über; eine Pistole war meist das wirksamste Argument. Wenn Soldaten oder (teils von einem Nachbarstaat gedungene) lokale Guerillas auf orthodoxe Glaubensbrüder trafen – mit Muslimen war es komplizierter –, war es meist nicht nötig, den Anführer zu exekutieren; die Androhung genügte. Die Bauern bekannten sich zu jeder ihnen auf diese Weise angetragenen Nationalität.1

In dieser Situation operierte auch die 1893 gegründete IMRO. Sie hatte kein festes Programm. Offenkundig war das Bestreben, die Herrschaft des Sultans abzuschütteln, der Rest war eine Mischung aus sozialistischen, anarchistischen und föderativen Ideen. Die makedonischen Revolutionäre standen dem sprachlich und kulturell verwandten Bulgarien nahe. Von dort kamen Geld und Waffen, dorthin flüchteten von Verhaftung bedrohte Aktivisten. Diese bildeten freilich nur einen kleinen Teil der zahl- und einflussreichen makedonischen Emigration, die vor allem in Sofia präsent war. Im Jahr 1900 stammte fast ein Viertel der rund 70.000 Einwohner der Stadt aus einem der drei makedonischen Welajets. Der bulgarische Einfluss in der IMRO war ausschlaggebend für den Übergang von der Dauerguerilla zur offenen Rebellion. Allerdings führte das schlecht geplante Vorgehen der Aufständischen (die je nach Nationalität „komiti“, „komitaci“ oder „komitadschi“ genannt wurden) 1903 in Makedonien und später im benachbarten Thrakien lediglich zu türkischen Repressionen und zur Schwächung der Position Bulgariens in der Region.

Die IMRO war nicht die einzige Bewegung, die Anspruch auf die Herrschaft über Makedonien erhob. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts agierten in Makedonien politische und bewaffnete Gruppierungen aus mindestens fünf unterschiedlichen Lagern. Serben und Griechen unterhielten eigene Četas (Partisaneneinheiten). Die osmanische Regierung versorgte die muslimische Bevölkerung mit Waffen und drückte bei Terrorakten gegen die orthodoxen Nachbarn ein Auge zu. In der Regel wurden diese Einheiten von ehemaligen oder beurlaubten Offizieren des regulären Heers angeführt. Die nach Makedonien entsandten Militärs glaubten, sie träfen hier auf Landsleute, die es vor osmanischer Unterdrückung, christlicher Gewalt und in jedem Fall vor den feindlichen Nachbarn zu schützen gelte. Als sie merkten, dass dem nicht so war und sie keineswegs mit offenen Armen empfangen wurden, war die logische, wiewohl irrige Schlussfolgerung, die „Propaganda“ der Gegner sei daran schuld. Die in politischen Debatten ungeübten Partisanen pflegten solche Angelegenheiten mit Messer und Gewehr zu regeln. Opfer des Terrors wurden inbesondere Intellektuelle aller Lager, die man beschuldigte, die Bevölkerung zu ihrem religiösen oder nationalen Glauben „bekehren“ zu wollen. Schließlich hatte auch eine Gruppe innerhalb der IMRO genug von diesem Zustand. Das Scheitern der Aufstände von 1903 und die dadurch ausgelöste Welle neuer Gewalt beschleunigten die Formulierung eines makedonischen Autonomieprogramms. Einige Monate nach Einstellung der Kampfhandlungen schrieb der IMRO-nahe Intellektuelle Krste Petkow Misirkow (notabene in einem in Sofia veröffentlichten Buch):

[…] ich habe nicht vor, zu bulgarischen Bedingungen in die Politik einzutreten. Ich bin Makedonier und die Bedürfnisse meines Landes ließen mich zu folgenden Schlüssen gelangen: Die Feinde Makedoniens sind nicht Russland und Österreich-Ungarn, sondern Bulgarien, Griechenland und Serbien. Nur der entschiedene Kampf gegen diese drei Staaten kann unsere Heimat vor der Vernichtung bewahren.2

Bulgarien suchte nach dem Scheitern der von ihm unterstützten Aufstände nach anderen Wegen, um die europäischen Provinzen des osmanischen Reiches in seinen Besitz zu bringen. Die Alternative zum selbstständigen Handeln bestand in einem Bündnis mit den übrigen Balkanstaaten, das freilich alles andere als leicht zu verwirklichen war. Das Einzige, was Serbien, Bulgarien und Griechenland einte, war das Streben nach territorialem Zuwachs auf Kosten der Osmanen. Dagegen standen die Erinnerung an die Konflikte der jüngeren Zeit und – natürlich – die makedonische Frage. Zudem stritten selbst so eng verbundene Länder wie Serbien und Montenegro um Gebiete und Ansprüche (sowohl die serbische Karađorđević- als auch die montenegrische Njegoš-Dynastie beanspruchten die Herrschaft über beide Länder). Für eine Zusammenarbeit sprachen hingegen die sich verschärfende Krise des Osmanenstaats, das Chaos in den albanischen Welajets und – zumal aus serbischer Sicht – die immer konkretere Bedrohung durch Österreich-Ungarn, das 1908 Bosnien und die Herzegowina offiziell annektiert hatte.


Demonstration von Befürwortern eines Kriegs gegen die Türkei (Sofia, 1912).

Erst im Frühjahr 1912 kam es unter Mitwirkung der russischen Diplomatie zu einem Abkommen. Die widerstreitenden Interessen der Bündnispartner waren so gravierend, dass man die endgültige Aufteilung der bulgarischen und serbischen Einflusssphären in Makedonien einer zukünftigen Entscheidung Russlands überlassen wollte. Der bulgarisch-griechische Vertrag behandelte erst gar keine Territorialfragen. Beschleunigt wurde der Kriegsausbruch durch die Befürchtung, dass weiteres Abwarten die Annexionspläne zunichtemachen könnte. In den albanischen Welajets zeichnete sich ein albanisches Staatswesen unter österreichisch-ungarischem Patronat ab und Italien verlagerte die Kriegshandlungen gegen das Osmanische Reich in die Ägäis. Unter den Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts musste man mit einer Intervention der Großmächte rechnen. Die Balkanstaaten fühlten sich zwar stark genug, deren Vorschläge gelegentlich zu ignorieren, waren aber zu schwach, um offenen Widerspruch zu wagen. Also musste man schnellstmöglich herausholen, was herauszuholen war, und später seine Beute verteidigen. Über den endgültigen Angriffstermin entschied zudem ein für die agrarisch geprägten Länder wichtiger Faktor: Die Mobilmachung erfolgte erst nach Abschluss der Ernte. Die Angriffe Bulgariens, Serbiens, Montenegros und Griechenlands waren koordiniert und erfolgten nahezu zeitgleich. Die ersten Kämpfe fanden im Oktober an der türkisch-montenegrinischen Grenze statt.

Der vergessene Weltkrieg

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