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5.

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Nachdem Raul Finn alles erzählt hatte, was vorgefallen war, verabschiedete sich Chloe von ihnen.

„Ich werde ein wenig am See spazieren gehen. Ich brauche dringend frische Luft und muss meine Gedanken neu ordnen.“ An ihren Schwager gewandt fuhr sie fort. „Stört es dich, wenn ich später nochmals vorbei komme?“

„Du bist hier immer herzlich willkommen. Das weisst du.“

„Herr Lunardi.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, welche Raul sanft drückte. Er hätte Chloe am liebsten in seine Arme geschlossen, um ihr Trost zu spenden. Doch wusste er, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Erschrocken über seine Gedanken, zog er seine Hand etwas zu schnell zurück, was Chloe ein wenig erstaunen lies.

„Frau Kramer. Versuchen Sie sich abzulenken. Sie haben meine Nummer und können mich jederzeit anrufen, wenn irgendwas ist.“

Als Chloe aus dem Haus war, verschwanden die beiden Freunde ins Arbeitszimmer und gingen die restlichen Akten von Finns abgeschlossenen Fällen durch. Schlussendlich brachten sie eine Liste von über zwanzig Personen zusammen.

Winter massierte seinen Nacken, der sich unerträglich verspannt hatte, während sie die Unterlagen durchsahen. Er wagte einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr, die bereits nach zwölf Uhr anzeigte. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie lange er und Raul vor den Akten sassen und diese studiert hatten, so schnell raste die Zeit an ihnen vorbei. Zeit, die sie momentan nicht vorrätig hatten.

„Hoffentlich kommen wir mit diesen Namen einen Schritt weiter. Es kann doch nicht sein, dass Dana einfach so verschwunden sein soll. Ich habe niemandem etwas Böses getan und ich mache nur meinen Job.“

„Wie du weisst, kann man meistens nicht verstehen, warum solche Taten begangen werden. Ich würde dir gern irgendwas Aufmunterndes sagen, aber mir fehlen selbst die Worte. Ich kann dir nur versprechen, dass wir alles daran setzen werden, um deine Frau schnellstmöglich zu finden.“

„Ich danke dir, Lunardi.“ brachte Finn mit rauer Stimme hervor.

Irgendwann fing der Staatsanwalt zögernd an zu sprechen. „Ich frage mich ständig, wie der Finger in meinen Kühlschrank gekommen ist. Dazu lag er noch auf einem Teller aus unserem Haushalt. Mit was für einem Verrückten haben wir es hier zu tun?“

„Das möchte ich auch gern wissen.“

„Ich habe heute Morgen etwas zu Trinken und zu Essen herausgenommen. Da lag weit und breit nichts so unappetitliches im Kühlschrank.“

„Es muss jemand herein gekommen sein, als mindestens du im Haus gewesen bist. Die Alarmanlage sowie die Kameras waren immer noch ausgeschaltet. Zudem liess Chloe das Gartentor offen, als sie gekommen ist. Also kein Problem um unbemerkt ins Haus zu kommen.“ stellte Raul fest. „Wie konnte sie eigentlich ins Haus ohne dass du ihr öffnen musstest?“

„Sie hat einen Schlüssel. Wenn Dana und ich in die Ferien fahren oder ein verlängertes Wochenende im Tessin verbringen, giesst Chloe unsere Pflanzen. Und ausserdem verbringt sie viel Zeit mit ihrer Schwester hier. Also fanden wir, dass sie den Schlüssel gleich behalten soll.“

Beide schwiegen einen kurzen Moment, bis Raul weiterfuhr. „Hast du dir überlegt, ob in den letzten Tagen irgendwas anders war als sonst? Habt ihr euch beobachtet gefühlt oder hat sich Dana anders benommen?“

„Wie meinst du das?“

„War sie nervös?“

„Nein.“

„Eigenartige Telefonate erhalten?“

„Nein.“

„Seltsamen Besuch erhalten?“

Wieder verneinte Finn. „Nicht das ich wüsste.“

Der Kriminalpolizist schaute auf seine Uhr und stellte fest, dass es schon fast dreizehn Uhr war. Sein Magen knurrte leise vor sich hin. Seit dem frühen Morgen hatte er nichts mehr zu sich genommen und Finn mit grosser Wahrscheinlichkeit auch nicht.

„Wollen wir irgendwas zu Essen bestellen?“

„Keine schlechte Idee. Ich habe zwar gar keinen Hunger, aber uns würde eine kleine Stärkung gut tun.“

„Sollen wir uns eine Pizza kommen lassen?“

„Darum kümmere ich mich.“

„Ich werde ums Haus gehen und mich ein wenig umsehen. Möglicherweise haben wir etwas übersehen.“

Finn bestellte für sich und Raul zu essen. Danach ging er ins Arbeitszimmer und machte sich Notizen, was Dana und er in den letzten Tagen alles erlebt hatten und wo sie unterwegs waren, während Lunardi draussen nach einer Fährte suchte.

Nach einer guten halben Stunde tauchte schon der Kurier mit der Pizza auf dem Grundstück von Finn auf. Raul kam gerade hinter dem Haus hervor, als der Pizzawagen den Weg vom Tor hinauf fuhr. Finn stand bereits am Eingang und erwartete den Kurier. Erst jetzt bemerkte Raul, wie niedergeschlagen Finn aussah. Er wirkte in den letzten vergangenen Stunden um einige Jahre gealtert zu sein. Bei all den Geschehnissen war das auch kein Wunder.

Der Staatsanwalt bezahlte den Pizzalieferanten, woraufhin dieser in sein Wagen stieg und seine Auslieferungen weiterführte. Die zwei Freunde gingen gemeinsam ins Innere des Hauses.

„Ist es dir recht, wenn wir draussen essen? Ich muss an die frische Luft. Die Räume engen mich irgendwie ein.“ meinte Finn.

„Na klar.“

Sie holten sich in der Küche Teller, Besteck und was zu trinken. Danach begaben sie sich

durch breite, weisse Doppeltüren auf die Terrasse hinaus.

Mitten auf der Terrasse stand ein runder Tisch und um ihn herum passende Korbsessel, auf denen sie Platz nahmen. Finn stocherte mehr auf der Pizza herum, als dass er davon ass. Ihm war einfach nicht nach essen zumute. Er fühlte sich schwach und müde, wie noch nie zuvor.

„Ich merke soeben, wie sehr mir Dana fehlt. Warum muss zuerst dem Menschen, den man über alles liebt, so was passieren, damit man merkt, wie sehr man ihn braucht und ohne ihn nicht leben kann.“ Finn stütze seinen Kopf auf seinen Händen ab und fing geräuschlos an zu weinen.

Raul hatte seinen besten Kumpel noch nie so hilflos erlebt, wie in diesem Moment. Über den Tisch ergriff er Finns Arm und drückte ihn mit einem leichten Druck. Sie blieben eine Weile so dasitzen und Raul wartete ab, bis es seinem Freund wieder besser ging.

„Finn, ich muss zurück zur Kripo. Kommst du alleine klar?“

„Es wird schon gehen.“

„Was hast du jetzt noch vor?“

„Mal schauen. Geh du ruhig, aber melde dich bitte, sobald du etwas erfahren hast.“

Sie erhoben sich und Raul verliess die Terrasse über den Garten. Er stieg in sein Auto, das vor dem Haus stand und fuhr los.

Eigentlich hätte der Staatsanwalt an einigen seiner Fälle weiterarbeiten müssen, doch so sehr er sich auch bemühte, konnte er sich momentan nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Also machte er sich auf den Weg an den Vierwaldstättersee, um nachzusehen, wo Chloe blieb. Nach einer Weile kam er an einer Reihe Bänke vorbei, die fast alle besetzt waren. Es war ein ruhiger Platz, der einen zum Verweilen einlud und einen schönen Blick auf den See bot. Weiter vorne sah er eine Frau, auf einer dieser Bänke sitzen, die ihm bekannt vorkam. Als er näher kam, erkannte er Chloe, die völlig energielos, dasass. Die letzten Meter lief er nicht mehr, sondern rannte auf sie zu.

„Chloe!“ rief er.

Sie blickte mit Tränen verschleierten Augen zu Finn auf. Ohne Begrüssung oder sonst ein Wort nahm er neben seiner Schwägerin Platz und legte den Arm um ihre Schultern. Sie sassen, frei von jeglichem Zeitgefühl, schweigend nebeneinander und sahen aufs Wasser hinaus.

Erst jetzt entdeckte er die gelbe Strickjacke auf ihrem Schoss.

„Was ist das?“ fragte Winter und starrte weiter auf Chloes Hände, die die Jacke fest umklammert hielten.

Verdutzt sah sie ihn an. „Weisst du das nicht?“

„Nein. Sollte ich?“

„Weisst du denn nicht, was Dana gestern Abend anhatte?“

„Nein. Raul hat mich auch schon danach gefragt. Ich weiss es leider nicht.“

„Warum nicht?“

„Ich habe sie gestern nicht mehr gesehen, bevor du sie abgeholt hast.“

„Hattest du am Nachmittag nicht frei?“

„Doch. Aber ich musste dann doch nochmals ins Büro.“

„Hattet ihr darum einen Streit?“

„Nein. Warum weisst du davon?“

„Warum dann?“ sie blieb hartnäckig.

„Ich möchte nicht darüber reden?“

„Kann es etwas mit dem Verschwinden von Dana zu tun haben?“

Ein kurzer Augenblick verstrich bis er antwortete. „Nein.“

Finn hoffte, dass sie sein Zögern in seiner Stimme nicht bemerkt hatte. „Ich werde Raul anrufen. Die Leute vom kriminaltechnischen Dienst sollen diesen Ort schnellstmöglich nach Spuren untersuchen.“ Er nahm sein Natel hervor und tippte Rauls Nummer ein. Kaum hatte er diese eingegeben, nahm der Polizist auf der anderen Seite bereits ab.

„Kannst du so rasch als möglich an den See kommen? Wir sind gleich neben dem Seehotel Bogen.“

„Wer sind wir?“

„Chloe und ich.“

„Bin unterwegs.“ Ohne ein weiteres Wort legte Raul auf.

Chloe räusperte sich. „Weisst du, was mir so zu schaffen macht? Ich sah Dana das letzte Mal, als ich sie, nur etwa fünfhundert Meter von hier entfernt, aus meinem Auto steigen liess. Und hier liegt nun ihre Jacke. Wo ist sie nur?“

„Sie ist bis gestern nie nach eurem Mädelsabend noch spazieren gegangen. Warum dieses Mal?“

Während die Beiden ratlos, nebeneinander auf der Bank auf Raul warteten und ihren Gedanken nachgrübelten, nahm Finn die Strickjacke aus Chloes Händen und hielt sie sich ins Gesicht, um Danas Duft einzuatmen. Er musste sich beherrschen, dass er seinen Tränen nicht schon wieder freien Lauf liess. Schliesslich war er ein angesehener Staatsanwalt und nicht so ein Waschlappen, wie er sich momentan fühlte. Ausserdem wollte er vor Chloe keine Schwäche zeigen und atmete ein paar Mal tief ein und aus, um sich allmählich wieder zur Ruhe zu bringen.

Der Kriminalpolizist kam kurze Zeit später mit seinem Auto angerast. Er machte sich keine Mühe einen Parkplatz zu suchen. Stattdessen hielt er am Strassenrand an und ging über die Wiese auf Chloe und Finn zu.

„Was gibts?“ meldete er sich.

Finn erhob sich und reichte Raul die Strickjacke.

„Chloe hat dieses Kleidungsstück hier gefunden.“

Chloe Kramer hatte keine Kraft, um sich zu erheben. Sie sah nicht mal auf, als Raul sich vor sie stellte.

„Frau Kramer, wann und wo genau haben Sie diese Jacke gefunden?“

Mit ihren Gedanken weit weg, nahm sie im hintersten Ecken ihres Gehirns wahr, dass man ihr eine Frage gestellt hatte. Sie schaute auf und blickte in die wundervollsten, sanftesten Augen, in die sie je gesehen hatte.

„Was?“ brachte sie knapp hervor.

„Wann und wo genau haben Sie diese Jacke gefunden?“ wiederholte sich Lunardi.

„Hier auf dieser Bank. Ich kann Ihnen nicht sagen, seit wann ich hier sitze. Als ich von Finn weggegangen bin, spazierte ich am See entlang und landete hier an diesem Ort, weil mir diese gelbe Jacke aufgefallen ist. Seit da bin ich an dieser Stelle.“ ihr Mund fühlte sich schon ganz trocken an.

Raul schaute auf seine Uhr. Sie musste schon eine ganze Weile an diesem Ort gesessen haben, dachte er für sich.

Er blickte erneut Chloe an. „Ich werde diese Jacke ohne Umschweife ins Labor bringen, um sie ebenfalls nach Spuren zu untersuchen. Darf ich Sie bitten mit mir zu kommen? Dann können wir Ihren Fund und was Ihnen sonst noch alles einfällt, gleich schriftlich protokollieren.“

Chloe erhob sich langsam von der Bank. Ihre Beine wollten ihr nicht so recht gehorchen. Sie fühlten sich schwach an. Lange war sie nur dagesessen und hatte sich kein bisschen bewegt. Dazu kam, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte. Weder zu trinken noch zu essen.

Schon trat Lunardi neben sie und hielt sie um ihre Taille fest, um sie zu stützen. Wie machte er das nur? Konnte dieser Mann etwa Gedanken lesen? Sie war ihm dankbar für seine Stütze und lehnte sich, mit einem angenehmen Kribbeln im Bauch, an ihn.

„Soll ich dich nach Hause fahren Finn?“ erklang die männliche Stimme, die zu diesem muskulösen Mann gehörte.

„Danke. Aber ich brauche Zeit für mich. Es wird mir gut tun, den Weg zu meinem

Haus zu Fuss zurückzulegen.“

Finn drehte sich um und liess seine Schwägerin und seinen Freund an Ort und Stelle stehen.

Chloe und Raul gingen zu seinem Audi TT. Dabei hielt er Chloe die ganze Zeit um ihre Taille fest, als könnte ihr sonst etwas geschehen. Sie genoss es, seinen starken Arm an ihrem Körper zu spüren. Allein schon durch seine Berührung fühlte sie sich wohl und beschützt.

Beim Auto angekommen, öffnete er die Beifahrertür, damit Chloe sich hineinsetzen konnte. Er ging auf die andere Seite und schwang sich hinein.

Raul hob eine Flasche vom Boden, die bei Chloes Füssen lag, auf und hielt ihr das Wasser hin.

„Hier trinken Sie etwas. Es wird Ihnen gut tun.“

Verlegen schaute Chloe ihn an. „Haben Sie immer eine Flasche mit dabei?“

„Sobald ich mit dem Auto unterwegs bin, nehme ich eine Trinkflasche mit mir mit. Besonders bei einem solchen heissen Sommertag, wie diesen.“

„Das geht mir genauso.“

Sie nahm die Flasche dankend entgegen und trank in grossen Schlucken fast die ganze Flasche leer. Nachdem sie sich angeschnallt hatten, fuhr Raul los.

Machtspiel

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