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Kapitel 3: Das Treffen
ОглавлениеIch ziehe mir den Kragen der Jacke tief ins Gesicht, bis fast über die Nase und versuche den Nacken so gut es geht zu bedecken. Keiner mag kalten nassen Schnee im Genick und ich noch viel weniger. Der Schneefall hält seit dem vorigen Abend an und auf dem Bürgersteig türmen sich die aufgeschobenen Eisberge zu einem fast unüberwindbaren Himalaya.
Der arme Kerl in seinem orangenen Overall und einer Schneeschaufel in seinen bloßen Händen tut mir leid. In diesen polaren Verhältnissen sollte keiner draußen arbeiten müssen. Ich blicke zurück und bemerke, dass der Trottoir schon längst wieder zugeschneit ist und der Orangene so gleich er zum Ende seiner Arbeitsstrecke gekommen ist, von vorne anfangen kann. Ich sage nur Sisyphos. Fließband auf zwei Füßen.
Durch das weiße Gestöber ist kaum mein Stamm-Café zu entdecken, dabei muss ich schon fast da sein. Ich kenne die Anzahl der Schritte, 66 von der U-Bahn Station bis zur Türschwelle, ganz genau und mein Gefühl sagt mir, ich bin mindestens das Doppelte gelaufen. In Workuta Verhältnissen scheint das nicht zu zählen.
Ich entdecke große runde Spuren im Schnee. Sie müssen frisch sein, sind noch nicht zugeschneit. Fühle mich fast wie Reinhold Messner und fantasiere von einem Yeti, als ein schwarzes tapsiges Fellwesen seine Nase aus einer Wehe zieht und anfängt mit dem Schwanz zu wedeln. Es sieht mich an und grübelt, nur für eine halbe Sekunde. Es stürmt, hopst und tapst auf mich zu und setzte sich aufgeregt, aber brav direkt vor meine Füße. Aqua! Ja, das ist Aqua! Auch ich brauche eine halbe Sekunde, aber ohne Zweifel, diese treuen braunen Augen erkenne ich sofort wieder. Ohh, wie schön warm ihr Plüsch ist, welche wohltat meine Hände in ihren Kragen zu graben. Darf ich sie mitnehmen, unter die Bettdecke stecken und sie als Heizkissen unter meinen Kopf schieben?
Aber bevor ich diesen wohligen Gedanken zu Ende denken kann, tritt auch schon jener junge Mann hervor und lächelt mich mit einem „Hatte ich es mir doch gedacht.“ Grinsen entgegen.
„Sie sind es, nicht wahr, sie haben mein Tagebuch?!“, schießt es aus ihm hervor, „Und Hallo!“, schiebt er hastig hinterher.
„Hallo!“, stottert es aus mir heraus.
Ich bin tatsächlich weniger überrascht, als ich hätte sein sollen. Innerlich wusste ich es. Ich wusste, dass das Tagebuch zu den Beiden gehört, aber gedacht hatte ich diesen Gedanken nie. Es war mehr so ein unterbewusstes Fühlen, eine Idee, von der eine Ahnung zwischen den Zeilen verweilt und sich mehr durch ein „Jep“ als durch ein „Nö“ bemerkbar macht. Wenn Sie verstehen was ich meine.
„Jep, ich hatte es gefunden, auf einem Stuhl gleich neben mir, in dem Café. Wir sollten schnell dort einkehren und ein bis fünf Tassen Kaffee trinken, um uns aufzuwärmen. Nur dir kleines schwarzes Wollknäul ist es bestimmt warm genug, in diesem seidigen Pelzmantel“, wende ich mich wieder Aqua zu und vergrabe meine gespreizten Finger noch einmal in ihre Mähne.
Wir machen uns gemeinsam auf, um endlich das gut geheizte und gemütliche Kaffeehaus zu erreichen. Nur die Neufundländerin hat es nicht sehr eilig. Schnüffelt lieber noch mal dort und hier. Schmeißt sich rücklings in eine Häufung Pulverschnee, streckt alle Viere in die Luft, strampelt und fabriziert einen Schneeneufundländerinnenengel. Sie rollt sich wieder auf die Beine, schüttelt einen Blizzard aus ihrem üppigen Fell und trottet wieder langsam hinter uns her. Ich bin so fasziniert von diesem Geschöpf, dass ich nicht auf die Idee komme, eine Unterhaltung anzufangen.
Wobei wir Drei nach wenigen Minuten endlich am Eingang stehen und es Aqua nachmachen und uns den Schnee von den Mänteln schütteln. Ohh, diese Wärme, welche uns entgegenschlägt, in dem gleichen Moment, da wir das Stargate namens Tür passieren und diese andere Welt betreten.
Ein freier Tisch ist schnell gefunden. Nicht viele Menschen sind so tough wie wir und schlagen uns durch Sibirien, um einen frisch gebrühten Kaffee genießen zu können. Weicheier. Wir legen unsere Mäntel über die Stuhllehnen und Aqua sich unter den Tisch. Während wir Beide uns ein Gourmet-Frühstück bestellen, zur Feier des Tages darf es ruhig noch üppiger als sonst sein, fängt Hundi schon gemütlich an zu Schnarchen. Die Stimmung ist perfekt, für ein relaxtes, inspirierendes, tiefgründiges, anregendes und erregendes Gespräch.
„Ich hatte ihr Tagebuch da drüben am Tisch gefunden, auf dem Stuhl links. Kaum hatte ich mich gesetzt, schon fing es meine Aufmerksamkeit und ich griff es mir“, fange ich lächelnd die Unterhaltung an.
„Als ich Zuhause ankam und das Buch aus der Tasche ziehen wollte“, antwortet Malcolm etwas hastig „fiel es mir auf, dass es nicht da war, wo es sein sollte und tatsächlich…da war einer dieser Momente…da bleibt einem kurz der Atem stehen und ich musste erst wieder zu mir kommen. Der Puls fing an zu rasen und Panik setzte sich in meinen Kopf! Ich durchsuchte alles…all meine Klamotten, Schränke und Schubladen.“ Ich grinse ihn weiterhin an und auch sein Mund verzieht sich zu einem leichten Lächeln, also eher ein Schmunzeln und atmet einmal tief, kaum bemerkbar, ein.
„Ich wollte im Internet nach dem Fundbüro suchen, vielleicht hatte jemand mein Tagebuch gefunden und geben. Im gleichen Augenblick blieb mir schon wieder der Atem stehen und mein Herz setzte ein weiteres Mal aus…das sollte ihm nicht zu oft passieren! Ich sah ihre Email mit der Überschrift ‚Tagebuch′ und mein gerade etwas beruhigter Puls schnellte wieder in die Höhe. Bis ich ihre erlösende Nachricht gelesen hatte“, prustet er mit Erleichterung hervor, so als ob er diesen Moment körperlich und geistig ein weiteres Mal durchlebt.
Zur gleichen Zeit wird unser Frühstück serviert. Super! Erst mal eine Tasse heißen Kaffee! Doch kaum habe ich diese Zeilen geschrieben, hat Malcolm sein Kännchen schon in sich hineingekippt und bestellt ein weiteres.
„Ein Kaffeeliebhaber?!“, werfe Mr. Kaffee einen verwunderten Blick zu.
„Ohh ja…gleich nach Bier ist Kaffee das beste Getränk der Welt…und seien wir ehrlich…ein Bier zum Frühstück sehe etwas blöd aus“ er untermalt seine Aussage mit einem ironischen Blick, so als wolle er meine Art von Humor testen, herausfinden wer ich bin.
Doch als Schriftsteller habe ich immer eine passende Antwort auf Lager und probiere es mit dieser, „Deshalb trinke ich mein Frühstücksbier Zuhause, im Bett vorm Fernseher. Die Gewissensbisse vergehen nach ein paar Jahren“ Und tatsächlich, die Antwort scheint ihm zu gefallen, er wirft mir einen verschmitzten Blick zu und nickt mit einer kleinen feinen Kopfbewegung.
„Hier ist übrigens ihr Tagebuch. Ich muss mich entschuldigen! Ich hab recht viel und ausversehen darin gelesen…das macht man eigentlich nicht…ich weiß!“, versuche ich die heitere Stimmung für mich zu nutzen.
„Und…gefällt es ihnen?!“, schmunzelt er mich weiterhin an, nimmt das Buch entgegen und legt es neben seinen Teller.
„Was halten sie davon?“, stochert er ungeduldig nach.
„Wie ich ihnen schrieb, ich bin begeistert! Ihre Geschichten lassen mich träumen…nehmen mich mit nach Australien. Doch fangen wir von vorne an, ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt.“ Seine Augen werden noch aufmerksamer, er blinzelt mich an.
„Ich bin Schriftsteller. Habe einige Romane und Novellen veröffentlicht. Vielleicht haben sie mal eines von mir gelesen?“
„Nein, ich glaube nicht…in letzter Zeit habe ich viel von russischen Autoren gelesen…von Puschkin über Turgenjew bis Solschenizyn…und sie scheinen mir keiner von diesen zu sein…aber erzählen sie weiter…ich liebe die Literatur und finde es sehr spannend einen richtigen Autor zu treffen!“, wirft Malcolm ins Gespräch und blickt mich immer noch mit großen begeisterten Augen an.
„Ich wünschte ich wäre wie Puschkin und hätte Onegin geschrieben.“
„Das Werk ist in meinen Top drei der besten Bücher ever…das Ballett…ich hatte es tatsächlich gesehen…wird dem literarischen Meisterstück in keiner Weise gerecht.“
„Ja, es ist ein Meisterwerk! Wie viel Grübelarbeit es gekostet haben muss! Wie dem auch sei…wie gesagt, ich bin Schriftsteller und Momentan sitze ich ein bisschen auf dem Trockenen. Mir fällt einfach keine gescheite Story ein. Ich sitze an meinem Computer, an dem alten eichernen Schreibtisch in meinem urgemütlichen Bürostuhl, aber nix! Ich kann einfach keinen sinnvollen Satz schreiben.“
„Mir hilft immer laute und gute Musik über Kopfhörer direkt aufs Ohr…ein zwei Bier…und die Sätze fließen.“
Malcolm der Schriftsteller?! Vielleicht hänge ich mich zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte Autor zu sein. Er hat Ahnung von der Materie. Super!
„Mir hilft ein langer und meditativer Blick aus dem Fenster…meistens“, schiebe ich schnell zu meiner Verteidigung ein, obwohl Malcolm mich nicht provozieren wollte.
Aber ich fühle mich als etablierter Schriftsteller etwas überlegen, kann es aber einfach nicht zum Ausdruck bringen. Seine ruhige und souveräne Art macht mich etwas nervös.
„Aber nun habe ich ihre Geschichte! Und nun…nun…meine Frage und große Bitte ist: darf ich ihre Story zu meinem neuen Beststeller formu…ähh…machen?“, ich bin nervös.
„Ha…wissen Sie…wieder so eine Geschichte…irgendwie habe ich in meinem Leben viel Glück! Ich wollte selbst ein Buch veröffentlichen und eine Geschichte um mein Erlebtes weben…aber ich habe einfach nicht die Geduld und Zeit dafür…ich bin zu umtriebig und suche immer ein neues Abenteuer…und da kommen Sie und wollen die Arbeit für mich machen?! Wie geil ist das denn?!“, er schaut zum Boden, lächelt, streichelt Aqua ein paar Mal über den Kopf, die sich daraufhin schnaufend auf die Seite dreht, ihre rechte Pfote hebt und erwartet, dass ihr Bauch gekrault wird. Er schrubbt ihre teppichartige Plauze mit straffen Oberarmen. Ein paar sonderbar kurze Minuten vergehend schweigend. Es liegt etwas Vibrierendes in der Luft.
Ich höre murmeln am Nachbartisch „Kuck…ein Bär!“, und „Die friert bestimmt nicht!“, mit einem liebevollen Blick auf den Neufundländer unterm Tisch.
Ich beiße in das reichlich belegte Mettbrötchen und schaue Malcolm schüchtern an, wie er streichelnd sinniert. Die Zwiebeln auf dem Brötchen sind heute etwas scharf, denke ich mir, und genieße diese Würze in meinem Leben.
„Sie haben also Onegin gelesen?“, fragt mich Malcolm plötzlich, mit einem langsam gleitenden Augenaufschlag und schaut mich tief an.
„Ja, sogar einige Male, um wirklich alles zu verstehen. Wissen sie, es hilft mir eigene Verse zu formulieren, wenn ich perfekte Poesie verinnerlicht habe und…“
„Gut…das reicht mir schon“, unterbricht mich der junge Mann „sie dürfen gerne meine Geschichte benutzen…es fällt mir nicht leicht, diese aus der Hand zu geben…aber sie scheinen wirklich daran interessiert und eine Leidenschaft zu besitzen, welche ich leider bei den wenigsten Menschen erkennen kann“
„D-Danke…“, stottere ich atemlos hervor.
„Und“, fährt Malcolm fort, „das hebt Sie von der Masse ab…Sie sind ein Künstler und einem Künstler vertraue ich…ich vertraue darauf, dass sie die Seele der Arbeiten unverändert lassen und meine Geschichte zum Leben erwecken. Ich wünschte ich hätte mehr Zeit! Wir könnten zusammen was Wundervolles schaffen! Ich vertraue ihnen mein Tagebuch an…behandeln sie es gut!“
„J-Ja ja…das verspreche ich!“
„Außerdem werde ich Ihnen eine Mail schicken mit dem Link zu meinem Blog…bitte verwenden und verweben sie die kleinen Erzählungen dort mit den Einträgen im Tagebuch…so hätte ich das Buch geschrieben und so wünsche ich mir, dass Sie es verfassen…ist das okay?“, und er schaut mich mit einem bizarren herausfordernden Blick an, der mir für eine Sekunde die Sprache verschlägt.
Ich kneife unwillkürlich leicht die Augen zusammen.
„Okay…das ist super! Das ist fantastisch! Ich bin schon gespannt Ihren Blog zu lesen und vielen Dank!“, vollende ich meinen Satz und bin weiterhin sprachlos.
Malcolm hat mittlerweile seinen Kopf wieder gesenkt und streichelt ununterbrochen den schnorchelnden Fundi unterm Tisch. Er sieht aus, als wenn er in einer anderen Welt abgetaucht ist. Er grübelt, krault und träumt. Ich kaue wieder auf den Zwiebeln rum und nippe am Kaffee. Mein Hirn läuft heiß. Es braucht eine Auszeit. Es war nicht professionell aufgewärmt, das hatte ich verbockt. Ich schäme mich. Ich hätte schlagfertiger sein müssen. Bin eingeschüchtert von der Person vor mir, welche mich fasziniert, aber mich so klein mit Hut fühlen lässt.
Malcolm blinzelt gleich doppelt. Er fokussiert mich. Seine Grübchen werden tiefer. Offensichtlich, der junge Mann kann sein Lächeln nicht länger zurückhalten und ein lautes Grinsen entkommt ihm. Ich steige direkt mit ein und muss fast lauthals Lachen. So ein Glück, denke ich mir, die Atmosphäre, die Stimmung ist wieder locker und fröhlich. Mein Nacken entspannt sich, in einem Ruck, das Koffein entfaltet seine volle Wirkung und das Hirn kühlt auf die passende, effizienteste Temperatur runter.
Die Kellnerin kommt an unseren Tisch und stapelt geschickt die vielen Tellerchen, Schälchen und Tässchen auf ihre grazilen Unterarme. Eine hübsche junge Frau, fährt es durch meinen Kopf, was sie wohl studiert? Lehramt! Ja ganz sicher. Bestimmt Religion, Deutsch und Kunst oder so was. Ihr Bluse ist bis obenhin zugeknöpft. Das ist einfach zu bieder, um etwas Cooleres zu Lehren. Und sie weicht meinem Blick aus, also ganz bestimmt Religion.
Ach, wie dem auch sei! Bitte etwas mehr Konzentration Herr sogenannter Autor höre ich zu recht aus dem lesenden Publikum!
Worauf ich eigentlich hinaus wollte: „Herr Dreibuchenhain, wie viel Zeit haben sie noch? Ich würde Ihnen gern ein Mittagessen und ein Bier dazu spendieren, um noch etwas mehr von Ihnen zu erfahren“, Gebe ich locker flockig von mir, als wenn die vorherige Schüchternheit mich nie umklammert hätte.
„Au ja! Das klingt sehr gut!“
Ich winke der Religionslehrerin zu, sie soll uns doch bitte schnell zwei Bier bringen und wir überlegen solange, ob wir uns lieber das duzend Weißwürste teilen oder jeder eine zünftige Schweinshaxe verdrücken mag.
Während wir ein paar weitere Stunden hier verbringen, lerne ich viel über seine Geschichte. Lieber Leser, ich werde sie bald mit Ihnen teilen. Seien Sie gespannt!
Ich verlasse mein Stamm-Café am späten Nachmittag. Es ist schon dunkeln und dieser dämliche Schnee fällt immer noch. Der Schneeschieber muss aufgegebene haben, denn sein mühselig freigeschobener Fußweg ist mindestens zehn Zentimeter mit frischem Schnee bepudert. Ich stapfe tapfer durch die Wehen und denke unwillkürlich an Kapuschinskis Workuta. Der eisige Wind schneidet messerscharf in die trockene Haut, es ist stockdunkel und eingemummte Gestalten huschen an mir vorbei.
Malcolm und Aqua sind etwa eine Stunde vor mir aufgebrochen. Ihre Spuren hat der Winter längst gefressen. Wann werde ich sie wiedersehen? Welche Jahreszeit wird dann sein? Wird mich Aqua wiedererkennen? Es fällt mir schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Endlich erreiche ich die U-Bahn. Ich gehe vorsichtig die Treppe, Stufe um Stufe. Will nicht ausrutschen. Steige in die Bahn, setze mich. Der Zug rollt los. Ins dunkle. In die Zukunft. Ich nicke ein und träume. Sehe Kängurus, Eukalyptus, den Nobelpreis, Aqua, rote Erde und Hoffnung.