Читать книгу Rue du Pardon - Mahi Binebine - Страница 10

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Mit meiner Dreikäsehöhe balancierte ich auf einem wackligen Hocker vor dem Spiegel im Bad und erhaschte einen Blick auf den Anflug von Augenbrauen, den oberen Teil meiner Stirn und den Gummi, der meine widerspenstigen Locken bändigte. Ausserhalb meines Sichtfelds wucherte meine dichte Wildfangmähne, die meine Mutter verabscheute. Sobald ich mich ihr näherte, bewegte sich ihre Hand wie von einem Magneten angezogen zu der wilden Mähne, den Glutbüscheln, die sie vergeblich zu glätten versuchte. Was wie Zärtlichkeit wirkte, war in Wahrheit der tägliche Kampf meiner Erzeugerin gegen die natürliche Unordnung der Dinge. Doch die starrköpfige und eigensinnige Natur behauptete immer wieder ihr Recht. Sobald ich aus dem Haus trat, entledigte ich mich meines Stirnbands und wurde wieder zum kleinen, molligen Wuschelkopf aus der Rue du Pardon. Ich habe mich oft gefragt, warum meine Mutter sich so sehr an meinem Haar störte. Sah sie einen Fluch darin? Die Vorboten meiner künftigen Verdammnis? Vielleicht. Jedenfalls sah sie mich an wie eine Ausserirdische von einem unbekannten Planeten, die hier gestrandet ist. Sie konnte noch so viel unter ihren Vorfahren wie denen meines Vaters nachforschen, sie fand nicht den Hauch eines Ahnen, von dem ich einen solchen Wuschelkopf geerbt haben könnte, der noch dazu blond war!

Ich meinerseits fühlte mich ebenfalls nicht zu diesem Stamm zugehörig, in den ich hineingeboren worden war und bei dem ich eine schwierige und bedrückende Kindheit durchlebt hatte. Abgesehen vom gewalttätigen und heimtückischen Charakter meiner Eltern war ihre Welt stumpf, trist, phantasielos und tödlich langweilig. Der einzige heitere Tupfer in meiner Umgebung bestand in den mit Goldfaden auf einen Gebetsteppich gestickten Koransprüchen an der Wand des Wohnzimmers. Noch bevor ich lesen lernte, liebte ich es bereits, meine Pupillen durch die auf dem samtenen Hintergrund ineinander verschlungenen Arabesken zu verwirren. Der Rest wurde von der Farbe Grau bestimmt: Wände, Behänge, Gesichter, Mobiliar. Bis hin zum Fell der Katze. Ein verstaubtes Grau in allen Tönen der Depression. Passend zum Dekor herrschte bei uns von morgens bis abends düsteres Schweigen. Hätte Vater die Spatzen zum Schweigen bringen können, nichts hätte ihn davon abgehalten. Was Musikhören betraf, war nicht daran zu denken. Vater stellte das Radio nur zu den genauen Zeiten der Nachrichtensendungen an. Dann leierte eine tiefe Stimme monoton die Einzelheiten der glorreichen königlichen Taten herunter, wie immer gefolgt von einem Einheitsbrei aus Katastrophen, Kriegen und Schiffbrüchen.

Jedoch hatte ich mich – wie es Kinder so gut mit ihren Eltern können – an die Meinen angepasst, an die Dürftigkeit ihrer Empfindungen und an ihre Hässlichkeit. Durch eine geheimnisvolle Alchemie hatte ich eine Blase geschaffen, in die ich mich flüchtete, sobald die Umgebung toxisch wurde. Im Schutz meiner Blase liess ich mich vom Atem der Engel hinwegtragen. Es wird Sie überraschen, dass ein Schwarm als Schmetterlinge verkleideter Engel ein kleines Mädchen in seiner Luftblase hoch in den Himmel ziehen kann. Ich verstehe Ihr Erstaunen. Doch ich versichere Ihnen, genau wie ich Sie sehe, sah ich jene himmlischen Kreaturen auffliegen, beschwingt von den wunderbaren Geschichten, die mir Serghinia erzählte. Sie sagte, deren Mission auf Erden sei, den Weg für die Künstler zu bereiten.

Habe ich Ihnen eigentlich erklärt, dass ich eine Künstlerin bin?

Seit meiner frühesten Kindheit konnte ich die Sprache der Engel entziffern; deshalb verschaffte ich mir mit eigenen Mitteln Zutritt zum Reich der Träume und der Schmetterlinge. Ein bezauberndes und verzaubertes Reich aus Funken, Schauern, Lachgrübchen und allen Farben des Regenbogens. Inmitten der trockenen, strengen Starre meines Umfelds fand ich dort die Anmut der Rundung, den Tanz der Spirale, die zarte Eleganz, das Feingefühl und die Feinsinnigkeit der Wesen, die sich auf Zehenspitzen bewegen.

Eine Göttin regierte dieses Land: unsere Nachbarin Serghinia. Später werde ich Ihnen die fabelhafte Geschichte dieser Künstlerin erzählen, in deren Haus ich – wie ich heute ohne Angst bekennen kann – das Glück gefunden habe. Diese Frau war meine Familie, meine Freundin, meine Zuflucht.

Vor dem Spiegel im Bad von Serghinias gepflegter Wohnung konnte ich auf Zehenspitzen meine etwas abstehenden Ohrläppchen sehen, geschmückt mit massiven silbernen Ohrreifen, die mir meine Mutter verbot ausserhalb der Feiertage zu tragen. Das schonungslose Spiegelbild zeugte vom Ausmass der Katastrophe: ein mit schreiend rotem Lippenstift verschmiertes Gesichtchen, glänzend, kein Teil meiner sonst so weissen Haut ungeschminkt; Hurenrot, wie es meine Mutter genannt hätte, einer dieser zinnoberroten Töne, die mich auf Serghinias vollen Lippen so faszinierten. Das Wort »Hure« bekam einen besonderen Charakter in meinen jungfräulichen Ohren, wenn meine Mutter es aussprach. Hu-re. Das knallte wie die Eleganz einer befreiten Frau, das verlangte nach der Freiheit, öffentlich in einer hautengen seidenen Dschellaba mit dem Hintern zu wackeln, das hielt die brennende Fahne der Auflehnung hoch in den Himmel.

Doch ganz unten am Ende des Spiegels, wo die weissen Kacheln an der halboffenen Tür aufhören, sah ich – während ich die Augen wegen meiner sündigen Schminke weit aufriss – Serghinias strahlendes Gesicht. Unter theatralisch gerunzelten Augenbrauen grollten ihre leuchtenden Augen kaum, verziehen schon halb. Sie kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, beunruhigt, da sie einen Sturz befürchtete.

»Mein Täubchen, dieser Hocker ist wacklig! Am Ende fällst du noch runter!«

Blitzschnell wurde mein schmächtiger Körper von ihrer fülligen Figur umarmt.

»Lass mich dir zeigen, wie man zu einer Prinzessin wird, Liebes. Lippenstift ist, wie der Name schon sagt, ausschliesslich dazu da, die Lippen zu färben. Nicht die Stirn oder deine von Natur aus rosigen Wangen und noch weniger deine jetzt blutig wirkenden Augenlider, mit denen du aussiehst wie eine direkt aus einer Horrorgeschichte eingeflogene Hexe. Du bist doch keine Hexe, nicht wahr, Liebling? Also gib dir Mühe wie mit Aïda und Sonia beim Ausmalen. Übermale unter keinen Umständen die Ränder. Verstanden?«

»Ja, Mamyta.«

»Gut. Wasch dein Gesicht mit viel Wasser ab, und bring es mir schnell, damit ich es verschlingen kann!«

Aïda und Sonia, die Zwillingstöchter von Serghinia, hatten sie Mamyta getauft. Ich nannte sie auch gerne so, aber mit Varianten: Mami, Mya, Maya, Mamyta. Jede Silbe dieses Spitznamens beinhaltete ihren Teil Zärtlichkeit. Es roch gut nach dem Moschus ihrer beruhigenden Brüste, ihren Lachsalven und den schallenden Küssen, die eine so schöne Spur auf unseren Wangen hinterliessen.

Hätte mich unglücklicherweise meine Mutter in diesem Zustand überrascht, vor dem Spiegel auf einem wackligen Hocker im Bad, die Gandura in die Hose gestopft, das Antlitz mit scharlachroter Sünde verschmiert, wäre es das Ende der Welt gewesen: eine ordentliche Tracht Prügel, durchsetzt mit endlosem Schreien und Jammern, und dann vor allem als Nachtisch das von mir am meisten gefürchtete Versprechen: »Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt!«

Ich mochte meinen Vater nicht. Ich mochte seine blutunterlaufenen Augen nicht, wenn der Zorn ihn übermannte. Es waren nicht so sehr die Schläge, die mir Angst machten, eher der Rest … Ich hasste sein dunkles Zimmer, seinen Atem, seinen kratzigen Bart, seine riesigen Hände … und den Rest. Den ganzen Rest.

Rue du Pardon

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