Читать книгу Rue du Pardon - Mahi Binebine - Страница 12
3
ОглавлениеUm mich angesichts des unangebrachten Verhaltens meiner Mutter zu trösten, hatte Tante Rosalie mir eines Tages erklärt, dass mein christlich angehauchtes Aussehen die Vergangenheit ihrer Schwester in ein unrühmliches Licht tauche. Mein blonder Haarschopf verschaffe ihr seit meiner Geburt einen Hauch von Sündhaftigkeit und vergifte ihre Existenz. Daher bliebe ich wider Willen die leibhaftige Verkörperung eines hypothetischen Fehltritts. Jedoch war Mutter laut Tante Rosalie, die kein Blatt vor den Mund nahm, mit zwanzig keineswegs eine Heilige gewesen. Wie auch immer, die Nachbarinnen, die wir auf der Strasse trafen, hatten eine klare Meinung zu der Frage. Sie streuten gern Salz in die Wunde und starrten mich an. »Von welchem Planeten ist uns denn dieses goldene Vögelchen zugeflogen, meine Liebe?«, fragte eine. Eine Zweite bemerkte spöttisch: »Na aus dem Tal, wo die goldenen Vliese blühen, oder nicht, meine Gazelle?« Meine Mutter brauste auf. »Seht euch doch mal im Mittleren Atlas um«, erwiderte sie, »da gibt es ganze Dörfer voll solcher Gören, die meiner ähnlich sehen!« – »In der Tat«, raunte verzückt die Zänkischste, »die Nazarener haben uns wunderbare Souvenirs hinterlassen!« Mutter gab den ungleichen Kampf gegen diese Meute von Krokodilen auf und zog murrend weiter.
Doch am Ende war ich es, die die Rechnung bezahlte. Freitags im Hammam bekam ich meine wöchentliche Dosis Henna auf mein Haar. Der beissende Geruch dieser Pflanze haftete auf meiner Haut. Ich stank wie ein Bauerntrampel, wie eine frisch aus dem Dorf herangekarrte Magd. Lange habe ich an dieser Last getragen. Sehr lange. Als einzige Rothaarige im Viertel war ich eine bevorzugte Zielscheibe. Meine Schulkameradinnen überhäuften mich mit Grausamkeiten und gaben mir die Namen aller Tiere, die der Himmel mit einem roten Fell bedacht hat. Als Kuh, Ziege, Füchsin oder Eichhörnchen beschimpft zu werden ging ja noch, doch ich fluchte, wenn sie mit bizarren Schreien die wilde Äffin nachahmten; sie wälzten sich auf dem Boden und sprangen hüpfend auf, kratzten sich am Kopf und in den Achseln. Nichts blieb mir erspart.
Manchmal kam ich tränenüberströmt nach Hause, ohne dass Mutter den geringsten Anflug von Mitleid zeigte. Sie blieb eiskalt. Vergeblich versuchte ich sie zu Mitgefühl mit meiner Lage zu bewegen. Wenn ich es wagte, etwas zu sehr auf die Tränendrüse zu drücken, brachte mich eine heftige Ohrfeige schnell wieder zur Vernunft. Darauf folgten lahme Rechtfertigungen: »Ein reinrassiges Mädchen hat sehr viel mehr Chancen, einen Ehemann zu finden, als ein Mischling!« Dann verglich sie meine faden Locken mit dem Fell von Pipo, dem Pudel von Madame Lamon, der Besitzerin des Luxushotels, wo Grossvater arbeitete.
Es fällt mir schwer, von Grossvater zu sprechen, ohne eine Träne zu vergiessen. Übrigens versuche ich erst gar nicht, diese Träne zurückzuhalten, denn die Freude und die Nostalgie, die damit verbunden sind, beruhigen und trösten mich. Grossvater war zärtlich, aufmerksam, grossherzig; er war der Beste. Als ich klein war, kam er mir hoch wie ein Minarett vor. Doch in Wirklichkeit war er gar nicht so gross. Schlank, von mittlerer Statur, mit einem freundlichen Gesicht und ebenmässigen Zügen: lachende Augen, aus denen der Schalk blitzte, eine Adlernase und unter einem struppigen Schnurrbart ein schmallippiger Mund, aus dem nur Nettigkeiten kamen. Laut Mamyta, die abends nach ein paar Gläsern Mahia, ihrem Lieblingsschnaps, zur Philosophin mutierte: »Es gibt solche Lebewesen, Liebling, bei denen alles Honig, Freude und Ruhe ist. Sie kennen die Wege der Vollkommenheit, die sie ein ganzes Leben lang eingeschlagen haben, bis sie die Erleuchtung der Auserwählten erreichten. An der Oberfläche ihres Wesens tritt eine Seele von solch verlockender Klarheit zutage, dass es entzückend ist, darin zu versinken … Dein Grossvater ist ein solcher Mensch. Genau wie es andere gibt, die nur aus Brennnesseln, Dornen und Finsternis bestehen, eine Brut, die in den Abgründen unserer Bestialität lebt und deren schwarze Seele ihr unheilverkündendes Äusseres prägt …«
Wenn sie betrunken war, sprach Mamyta wie Zahia, ihre lebenslange Freundin, die Karten legte und in der Rue du Pardon regelmässig der Hexerei bezichtigt wurde. Doch irgendwie klopften die Frauen aus dem Viertel am Ende immer diskret an ihre Tür, um sich Rat zu holen. Zahia und Mamyta lachten darüber. Die eine wie die andere wurde aus verschiedensten Gründen zugleich verschmäht und geliebt. Doch in Wahrheit waren sie vor allem gefürchtet; Mamyta wegen ihrer scharfen Zunge, die den schlimmsten Klatsch von Fest zu Fest verbreiten konnte, und Zahia wegen ihrer unheilvollen Amulette, deren verheerende Folgen überall bekannt waren.
In Wahrheit war Grossvater nicht wirklich mein Vorfahre. In einem früheren Leben war er, auch wenn das kaum zu glauben ist, Mamytas Ehemann gewesen. Ja, Sie haben richtig gehört! Monsieur Omar, der Portier des Palace, und Serghinia, die junge Tänzerin, waren Mann und Frau gewesen, die in der Rue du Pardon unter einem Dach lebten. Sie hatten keine Kinder; die Zwillinge wurden später in einer zweiten Ehe geboren, die auch auseinanderging. Nun, das sind alles alte Geschichten.
Viel Wasser ist den Bach hinuntergeflossen seit ihrer Trennung, die auf unvereinbare Lebensweisen zurückzuführen ist: Er arbeitete am Tag, sie in der Nacht. Er verbrachte seine Tage ruhig vor einer statischen Tür, die sich nur öffnete, um ein paar unbeschwerte Touristen durchzulassen; sie verbrachte wilde Nächte unter Scheinwerfern inmitten von Anmut, Verlangen und Raserei. Zwei entgegengesetzte Welten, die aber in gewisser Weise komplementär sein konnten. Das Abenteuer dauerte nur drei Jahre, sicher die schönsten, die unheimlichsten, die flammendsten in Grossvaters Leben. Sie wurden jedoch im Gegensatz zu vielen geschiedenen Paaren nicht zu Feinden. Sie hatten sich nicht heillos zerstritten, sie hatten es nicht zugelassen, dass der Hass ihre Herzen vergiftete. Im Gegenteil, im Lauf der Jahre war ihre Bindung stärker geworden. Es gab nicht einen Tag, an dem Monsieur Omar versäumte, bei Serghinia vorbeizuschauen, um sie zu grüssen und sich zu erkundigen, ob sie etwas für den Haushalt brauche: eine Besorgung auf dem Markt hier, das Auswechseln einer Glühbirne da oder die Reinigung eines verstopften Waschbeckens … er war der König der Heimwerker.
Tatsächlich legte er es einzig und allein darauf an, weiter im Schatten seiner Diva zu leben. Ich sah es an den glückseligen Blicken, die er ihr zuwarf, an der Beflissenheit, mit der er ihre langen amerikanischen Zigaretten mit den vergoldeten Filtern anzündete; er, der nicht rauchte und nur zu diesem Zweck ein Feuerzeug bei sich trug. Mamyta war sich dessen voll und ganz bewusst, und deshalb griff sie sehr häufig auf seine wertvolle Unterstützung zurück. »Was wäre ich ohne dich, Sidi Omar?«, rief sie aus. »Gott der Allmächtige hat dich zu mir geführt …«
Grossvater war begeistert! Er lieh sich eine Schubkarre aus und transportierte eifrig den Weizen zur Mühle; er überwachte aufmerksam das Mahlen und brachte das Mehl nach Hause. Dann beschäftigte er sich mit dieser oder jener Reparatur, bot sich an, das Brot zum Backofen zu bringen oder es dort abzuholen. Seine grösste Heldentat bestand darin, das Geflügel zu schlachten, das Mamyta auf der Terrasse hielt. Es gab dort einen echten wuseligen Hühnerhof, an dessen Unbilden wir uns am Ende gewöhnt hatten. Das Schlachten jagte mir Angst ein, aber ich nahm dennoch an dem furchtbaren Ereignis teil. Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten wir Kinder mit Grauen das Spektakel. In einer von Anfang an verlorenen Schlacht krähte der Hahn, den der alte Mann mit den Füssen festhielt, verzweifelt. Nach einem kurzen Gebet steckte Grossvater seinen Zeigefinger in den Hals des Verurteilten, zog das Messer und liess mit einer schnellen, präzisen Handbewegung das Blut auf unsere Plastiksandalen spritzen. Ich floh, sobald das Tier von den Toten auferstand. In einem letzten Anflug von Stolz bäumte es sich auf und führte einen makabren Tanz vor. Eine Staubwolke wirbelte auf, während es gegen die Wand oder die Tür der Nachbarn stiess, mit nach hinten herunterhängendem Kopf, der wie die Kapuze eines Burnus aussah.
Grossvater war Chefportier eines Luxushotels in der Neustadt; die Kinder in der Gegend nannten ihn den General wegen seiner granatroten Uniform, seiner mit Fransen besetzten Tressen und seiner kanariengelben Schirmmütze. Er war eine auffallende Erscheinung. Von weitem erkannten wir seinen martialischen Gang, der jedoch durch die Anwesenheit des Pudels, den ihm Madame Lamon oft anvertraute, abgemildert wurde. Sobald ich ihn erblickte, lief ich auf ihn zu. Mit einem Arm fasste er mich und hob mich hoch in den Himmel, mit dem anderen hielt er Pipo an der Leine, dessen wedelnder Schwanz das Glück signalisierte, wieder in die Hektik der Medina einzutauchen. Zum grossen Jammer der neidischen Kinderschar durchquerte er die lange, enge Strasse mit zwei glückseligen Kreaturen an seiner Brust.
Madame Lamon vertraute ihm ihren Pudel an, wenn sie zur Thermalkur nach Moulay Yacoub reiste. Er war der Einzige aus dem Hotelpersonal, dem sie vertraute. Sie wusste, er würde sich während ihrer Abwesenheit gut um ihr Herzchen kümmern; je älter sie wurde, desto öfter fuhr sie weg. Grossvater ging schnell an unserer Sackgasse vorbei, denn Mutter weigerte sich kategorisch, den Köter in die Nähe ihrer Türschwelle zu lassen. Sie behauptete, die Engel flüchteten vor Orten, an denen sich Hunde aufhielten.
Mamyta konnte über solche Eseleien nur lachen; sie nahm Grossvater, Pipo und mich gerne auf. Wir verbrachten wunderbare Nachmittage damit, ihr beim Nähen, Sticken, Tratschen und Rauchen zuzusehen. Die Nachbarinnen und deren Sprösslinge kamen dabei nicht gut weg. Wie durch ein Wunder konnte sie sich in die geheimsten Intimitäten der Leute einmischen. Sie kannte den Namen des Mädchens, das gerade seine Jungfräulichkeit verloren hatte, die Identität des Schuldigen, den Ort und die Stunde des Verbrechens … Sie wusste, wer eine Pleite hingelegt hatte, kannte das Ausmass der Katastrophe und den Namen der Person, die ihn mit einem Fluch belegt hatte; sie wusste, dass ein anderer um einen entfernten Verwandten trauerte … Es hatte nie ein Ende. Grossvater, Pipo und ich hingen an ihren Lippen, schlürften stark gezuckerten Minztee, assen mit Honig umhüllte Mandelkekse, und vor allem genossen wir den pikanten Klatsch, den sie – wie sie uns schwor – aus sicherer Quelle hatte … Pipo bekam seine Schale Milch. Dieser Pudel war ein wahrer Star. Mit seinem nagelbesetzten Lederhalsband, an dem eine kupferne Marke hing, seinen zwei braunen Flecken auf dem Fell und seinen charmanten Locken, hinter denen seine Schnauze verschwand, war er zum Anbeissen.
Madame Lamon hatte recht, ihn Grossvater anzuvertrauen. Er umsorgte ihn wie ein eigenes Kind, das er nie gehabt hatte. Hinter den Mauern, die die Neustadt von der Medina trennten, nahm ihn Grossvater auf den Arm, denn er sagte, dieses zarte Wesen sei nicht gemacht für den Schotter, die riesigen Löcher in den Abflussrinnen, die aufgerissenen Mülltonnen, um die sich nachts Bettler und Strassenkatzen stritten. Der Dreck, die Metallreste und die Glasscherben, die sich in unseren Gassen türmten, könnten seine feinen Pfoten verletzen. Pipo war aristokratischer Abstammung und nur geboren für das Schöne auf der Welt: angenehme Musik, Schmeicheleien, feine Speisen, exquisite Wollteppiche, kostbare Frisuren und vor allem den funkelnden Carrara-Marmor in der grossen Halle des Palace … Gott verzeihe mir, aber ich hätte nur allzu gern mein Leben gegen das seine eingetauscht. Extra nur für mich zubereitetes Essen. Immer und überall mit Lächeln, Streicheln und sanften Worten empfangen werden. Von den Göttern gesegneter Liebling, von morgens bis abends geliebt und verwöhnt werden … Doch nicht jeder kann ein Pipo sein.