Читать книгу Rue du Pardon - Mahi Binebine - Страница 13
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ОглавлениеAch, Grossvater! Ohne Mamyta und dich hätte ich das Chaos meiner Kindheit nicht überlebt, nicht die vom Verleugnen erstickten Schreie, nicht die verbotenen Schmerzen, nicht die in der Ferne verhallenden Echos, die in sich die ranzigen Erinnerungen tragen, den stinkenden Atem, den Schaum der schmutzigen Worte und den Schatten der grässlichen Hände, die an deinen Haaren ziehen, die dein Gesicht in das schweissnasse Rosshaarkissen drücken … Gott, wie ich diese Abwässer des Gedächtnisses hasse, in denen sich die Schmach suhlt, diese dunklen Ecken, die sich das Verbrechen als Heimstatt ausgesucht hat … Grossvater, ohne deine Liebe hätte ich mich der Verlockung des Sensenmanns hingegeben, seinen Sirenenrufen, dem sich verstärkenden Gemurmel, sobald ich das Atmen einstellte und es nur noch an mir hing, ob ich jemals wiederkehrte … Von hoch oben aus meiner schwebenden Blase und trotz des Zwielichts erspähte ich einen mageren Körper, der unter einer unförmigen Masse begraben war. Er hatte Angst. Er zitterte. Seine Stimme war erloschen. Seine Schreie waren keine Schreie mehr, sondern kaum hörbares, ohnmächtiges Röcheln. Er ähnelte jenen Spatzen, die wir den ganzen Tag in unseren Kinderhänden gefangen hielten und die, sobald die Nacht anbrach, an Erstickung oder Kummer starben … Ach, Grossvater! Du sollst wissen, dass ich ohne die Arme, die du mir unbewusst entgegenstrecktest, ohne das Gebiss, das dein Lächeln ständig vorzeigte, ohne jenen vor Zärtlichkeit triefenden Blick, den du auf meine Qual richtetest, auf ewig aufgegeben hätte! Ich hätte mich aus meiner Haut verabschiedet; ich hätte meine Träume öffentlich verbrannt. Und um die Flammen herum hätte ich, wie es Mamyta an den in Trance verbrachten Abenden tat, den Boden unter meinen Sohlen und meiner Raserei erzittern lassen; ich hätte getanzt und weitergetanzt, bis meine Beine mich nicht mehr tragen könnten, bis der Sturz mich erlöste. Dann auf dem Boden liegend mit Blick auf die Sterne, hätte ich beobachtet, wie dieser Körper verschwand wie ein Strohhalm im Wirbel der gefallenen Engel, seiner Artgenossen.
Siehst du, Grossvater, nun rede ich schon wie die Griots auf der Grand-Place; jenem magischen Ort, an den ich flüchtete, wenn Mamyta verreist war und die Angst mich wieder ergriff. Ohne euch beide war ich verloren; die Luft wurde stickig und die Rue du Pardon eng und gefährlich. Der Trubel auf der Grand-Place beruhigte mich: der Lärm, die Musik, der Rauch, die Fahrräder, die Kutschen, die Strassenhändler, die Zigarettenverkäufer, die Essbudenbesitzer, die Taschendiebe und die Polizisten, die sie verfolgen … Eine ganze Welt, in der ich mich seltsamerweise sicher fühlte. Ich verbrachte den ganzen Tag dort, schlenderte von einem Schauspiel zum anderen, hingerissen vom Können der Gaukler. Vom Taubendompteur bis zum Insektenarzt, vom Meister der dressierten Affen bis zum Schlangenmenschen, von den Akrobaten bis zu den Schlangenbeschwörern … Allein der Geschichtenerzähler konnte mich stundenlang beschäftigen, denn seine Erzählungen fanden nie ein Ende.
Als ich zehn war, endeten meine einsamen Ausflüge, denn das Schweifen über die Grand-Place wurde gefährlich für junge Mädchen, die den pointeurs zum Opfer fallen konnten; diese Besessenen stehen auf dein Gesäss, sie drücken und reiben ihren steifen Schwanz daran.
Die Sprachgewalt der Erzähler faszinierte mich. Später sollte ich ihre Brüder bei den anonymen Dichtern finden, deren Texte Mamyta sang und deren Sinn, Tiefe und unermessliche verborgene Schätze sie mir Tag um Tag nahebrachte.
Nun bin ich auf dem Friedhof, auf dem du ruhst, Grossvater. Eine traurige, ungepflegte Brache, überladen mit Brombeersträuchern, Verkäufern von Trockenfeigen, nach Wollfett stinkenden Bettlern und Koranlesern, die makabre Suren zum Ende der Welt herunterleiern. Wie Aasgeier fallen sie über die seltenen Besucher her, die geschwächt an den Gräbern ihrer Lieben stehen. Der Schmerz zieht sie an wie das Blut die Vampire. Sie wollen Mittler sein zwischen Ihnen, den Sterblichen, und dem Herrn; deshalb tragen sie – sobald Sie ihnen eine Münze zuwerfen – die Schlüssel zum Paradies zur Schau, die sie zu besitzen glauben. Mir kommen sie nicht nahe. Sie haben mich kennengelernt, seit ich zu deinem Grab komme. Sie wissen, dass sie von mir keinen Centime bekommen. Es widert mich an, wenn jemand die Schwäche der Menschen ausnutzt … Was, du findest mich bösartig? Nein, Grossvater, ich wehre mich nur. Übrigens hast du damit einiges zu tun. Du hast mir beigebracht, wie man zurückschlägt. Mich gelehrt, dass ich nicht schweigen soll. Ohne dich wäre ich als Jugendliche sicher nie von zu Hause weggegangen … Ich erinnere mich noch an jenen Satz, den du gerne wiederholtest: »Meine Kleine, ein Nichts bringt in Ordnung, und ein Nichts zerstört.«
Ich glaube, Glück oder Unglück hängen von diesen Nichtigkeiten ab, die, wie ich heute weiss, die Dinge zum Guten oder Schlechten wenden. Je nachdem. Die Blondheit meiner Haare illustriert das gut. Mutter hatte sie zur Hauptursache ihrer Verzweiflung gemacht, Vater hingegen hatte sie benutzt, um sein Gewissen zum Schweigen zu bringen, denn angesichts der Schändlichkeit reicht es nicht, die Augen zu verschliessen. Die Gerüchte um diese Haarfarbe hatten am Ende Hass und Gewalt in unser Haus gebracht. Eine Farbe, die anderswo unauffällig gewesen wäre, eine lächerliche Einzelheit, ein Nichts, war der Ursprung der Geschichte, die ich Ihnen heute erzählen will. Meiner Geschichte.
Ich heisse Hayat. Auf Arabisch bedeutet das »Leben«. Stellen Sie sich das mal vor! Ich war ganz allein »das Leben«, mit seiner Frische, seinem Licht und seinen Versprechungen. Eigentlich sollten alle Kinder dieser Welt den gleichen Vornamen tragen wie ich. Damit würden die Erwachsenen daran erinnert, dass die letzte Göre, die barfuss durch die Rue du Pardon läuft, eine Welt für sich ist. Eine Welt voll unermesslichen Reichtums, komplex, unvorhersehbar, manchmal unbeständig, doch äusserst verletzlich.
Ich muss kahl auf die Welt gekommen sein, denn ich erinnere mich nicht an alte Wunden. Mutter muss das weisse Teigstück geliebt haben, das sie in die Welt gesetzt hatte. Da sie mich so genannt hat, muss sie hochfliegende Pläne für mich gehabt haben. Dieses seltsame Geschöpf, das ständig herumhampelte, soll einen über sich hinausweisenden Namen tragen. Du wirst Leben heissen, mein Kind. Du wirst Schatten und Licht sein, Wasser, Feuer, der sternbesäte Himmel, der stumme Mond und Ihre Majestät, die Sonne. Du wirst die reife Frucht sein, das Lächeln des Engels, der sommerliche Abendwind und die launischen Jahreszeiten. Du wirst die Flüssigkeit sein, die der Begegnung der Liebenden entspringt, die Liebkosung des Schmetterlings am Saum eines Kusses; du wirst der betörende Duft der Schönen der Nacht sein, die schlaflos werden, du wirst, du wirst, du wirst …
Ich wurde nichts von all dem. Das schöne Versprechen meines Vornamens löste sich in einem weniger herrlichen Spitznamen auf. Hayat wurde ganz automatisch zu Houta, was Fisch bedeutet. Mein stolzes Leben wurde von einem schlüpfrigen Fisch hinweggetragen. Doch alles war nicht verloren. Der Fisch lehrte mich, dass die Rettung in der Flucht liegt; ich lernte, mich zu verstecken, wenn es brenzlig wurde, ich lernte, mich aus dem Staub zu machen, wenn die Menschen zu Tieren wurden.
Ich weiss nicht, ob das Bild des zappelnden Fischbabys in einer Wiege wirklich ist oder nur die Phantasie eines Künstlers, der in seiner Blase schwebt. Wie wäre eine solche Persönlichkeitsspaltung möglich gewesen? Zugleich Motiv des Bildes und Beobachter sein. Ich bin jedoch sicher, mich als Baby in meiner gepolsterten, mit weissem Leinen ausgelegten Wiege gesehen zu haben. Wie in einem Film erinnere ich mich an die dunklen Augen von Tante Rosalie, die sich über mich beugt und wiederholt, was zum Kreuz meiner Mutter werden sollte: welch ein Wunder, dieser kleine Engel aus dem Norden! Der Spruch war in der Welt! Wie ein Lauffeuer erfasste er das ganze Viertel und nahm jede Form von Zynismus an. Die Bösartigkeit der Nachbarinnen erreichte ihren Höhepunkt bei jeder Streiterei. Da fand ich mich immer in der ersten Reihe wieder, um meine Mutter zu verunsichern. Der Engel aus dem Norden war ihr wunder Punkt. Die verhängnisvolle Waffe, die die Tratschtanten benutzten, um sie zu vernichten, der Finger, den sie immer wieder in die Wunde legten, bis zur totalen Niederlage. Auf den »Engel der Sünde« folgte der »Bankert aus dem Norden« oder auch der »Abfall der Ungläubigen« und tausend andere Beschimpfungen, die ich nicht zu wiederholen wage. Wie immer liess Mutter das an mir aus, wenn sie nach Hause kam. Es setzte haufenweise grundlos Ohrfeigen. Manchmal biss sie mich so heftig, dass lange Spuren blieben. Sie war kaum bei Verstand, wenn sie mich so hasserfüllt zusammenschlug. Wie auch immer! Ich fiel in Ohnmacht, wenn ihre rotunterlaufenen Augen mit denen von Vater verschwammen. Manche Abende sperrte er mich in sein Zimmer ein, um mich zugleich zu bestrafen und zu lieben. Ich fiel gerne in Ohnmacht, denn dann spürte ich nichts mehr. Weder den Schmerz. Noch die Worte, die wie Fledermäuse an meinem Körper klebten.
Manchmal, wenn ich wieder zu mir kam, lag ich in den Armen meiner Mutter. Sie drückte mich zärtlich an sich und weinte wie ein Kind.