Читать книгу Rue du Pardon - Mahi Binebine - Страница 11
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ОглавлениеBei den Künstlern, die ihren Körper als Arbeitsinstrument nutzen, ist Schönheit nicht unbedingt erforderlich. Mamyta kann man kaum als Huri bezeichnen. Beim genaueren Betrachten ihrer Gesichtszüge kann man, ohne auf Widerspruch zu stossen, behaupten, dass unsereins ästhetisch gesehen unter dem nationalen Durchschnitt liegt. Ihre spiralförmigen Augen mit dick aufgetragener Wimperntusche, ihre kurze Stupsnase, ihr riesiger, mit fleischigen Lippen versehener Mund und ihre altmodischen Tattoos auf Stirn und Kinn gehören auf keinen Fall zu einer Odaliske. Weit entfernt. Jedoch bildet das alles zusammen in einem einzigen freudestrahlenden Antlitz ein sehr angenehmes harmonisches Ganzes. Wenn man ihre massiven Goldzähne dazunimmt, die bei jedem Lachen wie ein Feuerwerk blitzen, ihren hundert Kilo schweren, milchigen, in einen Satinkaftan gezwängten Leib, ihre raubkatzenhafte Art, bei der jeder Teil des Körpers selbständig, ungebunden, wie vom Rest losgelöst scheint, kann man auch behaupten, diese Kreatur mit einem Schönheitsmal auf der Wange habe zweifellos ein gewisses Etwas.
In Wirklichkeit gibt es zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Seiten von Mamyta: die der transparenten Hausfrau, die man morgens in einer der Querstrassen zur Rue du Pardon im Suk antreffen könnte, mit ihrem Einkaufskorb aus Palmblättern, oder die ganz einfach über die Grand-Place schlendert; dann gibt es die andere Seite, die der Diva im schillernden Kaftan, die einen abends auf einer Hochzeitsfeier erregt, bei einer Beschneidung oder bei einem dieser privaten Abende, die Männer auf der Terrasse eines Cafés in ihrer Melancholie flüchtig erwähnen.
Da ich meine Kindheit und einen Teil meiner Jugend bei Mamyta verbrachte, hatte ich das Privileg, am Wunder dieser Metamorphosen teilzuhaben. Zuerst als gewöhnliche Zuschauerin, staunend wie ein Kind vor einer bunten Trommel am Festtag, dann später in der ersten Reihe, als sie mir die Ehre erwies, mich in ihre Truppe aufzunehmen, um mich vor meiner Familie zu retten …
Meine Geschichte ist wirklich seltsam. Unwahrscheinlich und tragisch wie so oft die Geschichten aus unserer Gegend. Doch nur Geduld! Ich werde es Ihnen erzählen, wenn Sie mir Ihre Nachsicht schenken. Zeitweise wird meine Erzählung überraschende Wendungen nehmen. Sollten Sie sich darin verirren, wird ein Mondstrahl aus dem Nichts aufleuchten, um Ihnen den Weg hinaus zu zeigen … Doch ich zweifle sehr, dass Sie mein Labyrinth verlassen wollen. Die Freiheit meiner Vorstellungskraft wird Ihnen gefallen, wie auch meine Launen und einige unvorhersehbare Situationen, die, wie ich eingestehe, mich selbst überraschen. Sehen Sie darin weder Boshaftigkeit noch Eitelkeit, ich will einfach nur sagen, dass jene, die sich damals hineinwagten, niemals herausgefunden haben. Ein Geflecht aus empfindlichen Fasern hält sie gefangen … eine sanfte Spinnwebe, in der es so guttut, sich gegen alles und jeden zu wehren …
Ich habe Ihnen also von jenem magischen Moment erzählt, in dem sich Mamyta die Raupe in einen das Licht umschwirrenden Schmetterling verwandelt. Es war zur Zeit meiner ersten beruflichen Schritte. Ich war vierzehn, sah aber viel älter aus. Mamyta achtete darauf, mich selbst zu schminken; sie vergrösserte meine Augen mit einem Lidstrich bis hin zu den Ohren, betonte meine Wangen mit einer Schminke auf der Basis von Schildläusen, und als Krönung des Ganzen puderte sie meine Haarlocken mit einer Handvoll vergoldeter Sterne. Die kleine Aufmüpfige aus der Rue du Pardon verwandelte sich plötzlich in eine Prinzessin; eine begnadete Künstlerin, glänzend und feinsinnig, setzte sich von ihren Konkurrentinnen ab wie der Tag von der Nacht. Die Zwillinge, die vor mir in die Truppe aufgenommen worden waren, bedachten mich mit reissender Eifersucht, so unerträglich war ihnen die Zuneigung, die ihre Mutter mir entgegenbrachte.
Dabei sprühte Mamyta vor Zärtlichkeit. Ihre Liebe zu mir schränkte in keiner Weise ihre Liebe zu ihren Töchtern ein. Das bewiesen schon allein ihre unterstützenden Blicke für jede von uns während der Vorführung. Ich liebte es, sie lächeln zu sehen, wenn ich die Initiative ergriff und auf den runden Tisch sprang. Ich tanzte für sie. Für sie allein. Dann gab es nichts anderes zwischen meinem elektrisierten Körper und ihrem magnetischen Blick. Ich ahmte ihre Gesten nach, ihr unwiderstehliches Augenzwinkern, ihre Art, den Boden mit ihrem Haar aufzupeitschen, wenn der Teufel von ihrem Körper Besitz ergriff. Während die Tamburine und Zimbeln den Höhepunkt erreichten, verlängerte ich das Echo ihrer mitreissenden Lieder, ihrer fröhlichen Moritaten. Ich wäre so gern gewesen wie sie. Besser noch, ich wollte sie sein. Mich aus meiner sterblichen Hülle befreien, mich in jenes Lichtgewand kleiden, das sie auf der Bühne umfing.
Ein majestätischer Auftritt, bei dem alles einstudiert war, bemessen, gewichtet, bei dem jede Einzelheit Bedeutung hatte. Umringt von ihren Musikern und Tänzerinnen wie von einer Leibgarde, mit langsamen Schritten, herausgestrecktem Unterkörper, den Blick auf die Sterne gerichtet, erschien sie endlich vor einem ihr gewogenen, ungeduldigen Publikum, das es kaum erwarten konnte. Kaum erhob sie die Stimme, brandete kollektive Hysterie auf. Diese raue, sicher von altem Schmerz brüchige Stimme erschallte, durchflutete den Innenhof und über die gen Himmel gerichteten Lautsprecher das ganze Viertel. Aufrecht, beherrschend, mit offenen, verführerischen Armen wie Äste einer Zeder, die Spatzen zu einer liebestrunkenen Parade auffordern, stimmte sie Lieder an, in denen sich das Schlüpfrige und das Heilige miteinander verwoben, liess ihren Dämonen freien Lauf, um sich fast bewusstlos in die Menge zu stürzen. Dann riss die Brandung ihren Leib an sich, schlug den Weg der Schauer ein, erreichte den Unterleib, der sich aufrichtete, verschlang den Nabel und liess langsam nach wie eine ersterbende Welle. Das Wogen kam wieder auf, wurde ansteckend, erfasste die Anwesenden und riss sie in ein fieberndes Schlingern.
Die Ehemänner waren dabei, sie bedeckten die Tänzerinnen mit Geldscheinen, je mehr zusammenkam, desto schneller wurde der Rhythmus, passte sich den pochenden Herzen an und brachte das Blut zum Kochen. Die Ehefrauen waren keine Ehefrauen mehr. Sie sangen und lachten ausgelassen. Sie vibrierten wie wir, die Berufstänzerinnen, die sie nachahmten, um sinnlich zu wirken; doch sie waren linkisch, fast vulgär. Nicht die aufgesetzte Vulgarität, die wir nach Gutdünken einsetzen, nein, die wahre, suggestive und unverblümte Vulgarität, die vor sexuellem Frust aufschreit. Dann spielten wir, weiter und weiter, und liessen ihr unwiderstehliches Verlangen aufblühen, uns zu ähneln … unsere leichte, zügellose Moral öffentlich auszuleben …
Eines Abends, als sie nach ihrem Auftritt in den Kulissen stand, während die Musiker einheizten, und die entfesselten Zuschauer beobachtete, bemerkte Mamyta mir gegenüber: »Schau, mein Kind, schau diese tanzenden Frauen, sie sind so glücklich … Ich sehe weder Mütter noch Tanten, Schwestern oder Cousinen … Sie alle sind Liebhaberinnen … Siehst du, ich besitze die Macht, sie einen Augenblick lang aus ihrem kleinen Leben zu lösen und strahlende Dulzineen aus ihnen zu machen … auch wenn diese Schnepfen mich hinter meinem Rücken als Hure verunglimpfen!«