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Kapitel 4

AZ: LKA HH 141 033/1K/3033312/2015

Nora Kardinal fragte sich, was sie erwarten würde, als sie am Dienstagmorgen das Landeskriminalamt in Ham­burg (LKA) betrat. Das sternförmige Gebäude kannte sie noch aus ihrer früheren polizeilichen Tätigkeit in Hamburg, und sie fand problemlos in diesem Labyrinth ihre neue Abteilung, die Mordkommission. Sie schüttelte viele Hände, die ihr freundlich entgegengestreckt wurden, und war froh, als sie endlich in ihrem Büro angekommen und alleine war. Dort sackte sie auf ihrem Drehstuhl zusammen wie eine Marionette, deren Fäden gerade durchtrennt worden waren.

Die Müdigkeit zog fast schmerzhaft durch ihre Glieder, während sie langsam mit ihrer Hand über den dreckigen Bürotisch strich, als hoffte sie, auf diese Weise ihre tiefe Verzweiflung beiseitewischen zu können, so wie diesen grauen Staub. Aber ihren Fehler konnte sie nicht ungeschehen machen.

Als Nora aus dem Fenster blickte, entdeckte sie zwei Eichhörnchen, die auf der von schmutzigem Schnee bedeckten Wiese, die durch kleine grüne Rasenflecken durchbrochen war, hektisch hin und her liefen und emsig damit beschäftigt waren, die Nüsse zu finden, die sie im Herbst vergraben hatten. Aufgeregt piepsend jagten sie sich plötzlich, als würden sie Fangen spielen. In Einstimmung auf die verfrühte Paarungszeit sprangen sie in einem atemberaubenden Tempo von Ast zu Ast und stießen sich dabei mit ihren muskulösen Hinterbeinen wendig von den wackelnden Zweigen ab. Sie rasten durch den blattlosen Baumbestand und lieferten sich eine wilde Verfolgungsjagd, in deren Verlauf gelegentlich ihre weißen Bäuche aufblitzten. Nora war gefangen von diesem Schauspiel und vergaß für einen Moment ihre düsteren Gedanken. Fasziniert und mit einem Lächeln im Gesicht schaute sie den Nagern hinterher, als jemand das Büro betrat. Alexander Berend blieb im Türrahmen mit einem Stapel brauner Akten stehen.

Nora drehte sich zu ihm um und musterte ihn eingehend. Seine Haare waren rötlich, und er trug einen Dreitagebart, wie Max Siebert. Dennoch hatte er durch seinen olivfarbenen Hautton insgesamt ein südeuropäisches Erscheinungsbild. Alexander Berend war groß und sportlich gekleidet und blickte Nora neugierig an. Sie sah ihm direkt in seine braun-grünen Augen und versuchte, seinem Blick standzuhalten. Er trat an ihren Tisch, legte die Akten ab und streckte ihr zur Begrüßung freundlich seine Hand entgegen. „Ich bin der stellvertretende Leiter der Mordkommission. Wenn wir in den nächsten Tagen eine Aufgabe für dich haben, werden wir dich sofort einsetzen. Bis dahin bitte ich dich, die tagesaktuellen und teilweise sehr eiligen Vermisstenvorgänge durchzusehen und gegebenenfalls Anträge beim Haftgericht zu stellen. Wir freuen uns über deine Teamverstärkung und auf gute Zusammenarbeit.“

Mit diesen Worten ließ er sie mit ihrer neuen Aufgabe im Büro zurück.

Missmutig zog sie den Aktenstapel zu sich und sichtete die Akten. Schon nach nicht ganz zwanzig Minuten fielen ihre Augen immer wieder zu, und sie fragte sich, was schlimmer war: dienstunfähig am Computer Verwaltungskram zu bearbeiten oder Vermisstenanzeigen durchzugehen. Sie konnte sich nicht entscheiden.

Auf einer der Akten las sie das Aktenzeichen LKA HH 141 033/1K/3033312/2015. So viele meiner Glückszahlen, dachte Nora und merkte auf. Zögerlich führte sie ihre Hand unter den rauen Aktendeckel und schlug den Vorgang auf.

Eine Anzeige zum Nachteil Simone Maar. Sie blätterte oberflächlich die Akte durch und las:

Am Montag, den 7.12.2019 gegen 9 Uhr, erreichte das PK 33 ein anonymer Anruf. Die Anruferin teilte mit, dass ihre Arbeitskollegin Simone Maar seit Sonntagabend vermisst sei. Auf mehrfache Frage des Unterzeichners, ob die Vermisste vielleicht nur ein verlängertes Wochenende angetreten oder sich verliebt habe und nun bei ihrem neuen Freund sei, versicherte die Anruferin, dass dies nicht sein könne. Ihre Arbeitskollegin sei sehr zuverlässig und hätte ihr gesagt, wenn sie am nächsten Tag nicht würde arbeiten können. Auf Nachfrage teilte die Anruferin mit, dass es sich bei der Arbeitsstelle um den Nightclub „Flow“ handele, Am Schwanenwik 31a.

Die Anruferin habe mehrfach versucht, die Vermisste über das Handy zu erreichen, was bisher misslungen sei.

Bei der Handynummer handele es sich um die Nummer 0176/233 322 78.

Sie mache sich große Sorgen, da die Vermisste Diabetikerin sei und ihr Insulinbesteck immer noch an ihrem Arbeitsplatz liege, was sehr untypisch sei. Auf die Frage nach ihren Personalien erklärte die Anruferin, diese seien unwichtig, und beendete das Gespräch.

Eine Recherche des Unterzeichners hat ergeben, dass es sich bei diesem Club um ein Edelbordell handelt und die Handynummer auf eine fiktive Personalie eingetragen ist. Ein Rückruf bei der Vermissten hat keinen Kontakt ermöglicht, obwohl das Handy aktiv geschaltet ist.

Gegen 11 Uhr rief dieselbe Anruferin (der Stimme nach) erneut an und fragte, was in der Sache schon unternommen worden sei.

Der Unterzeichner führte aus, dass das Handy auf eine Fiktivpersonalie eingetragen sei und zur Überprüfung der Schlüssigkeit ihrer Angaben die Anruferin ihre Personalien angeben müsse.

Die Gesprächsteilnehmerin hat daraufhin ihre Personalien angegeben. Danach handelt es sich um:

Lotta Kardinal

Weidenstraße 3

Hamburg

Telefon: 0176/9812209

Nora riss ihre Augen auf und unterbrach ihr Aktenstudium. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Sie fühlte einen intensiven Schmerz in ihrem Magen und schob ihre Unterlippe nach vorne. Während sie in ihrem Schreibstuhl erneut zusammensank und auf die Akte starrte, lösten sich einzelne Buchstaben aus dem Text und wiegten sich im Takt nach den Klängen von Chopin op. 64.2. Das melancholische, aber auch fröhliche Stück, welches Noras Opa häufig gehört hatte, begleitete sie in ein Krankenhaus, in dem sie als kleines Kind wegen eines Autounfalls gelegen hatte. Ihre ältere, neun Jahre alte Schwester Lotta trat mit einem riesigen, gelben Luftballon an Noras Krankenbett heran. Lotta schlang aber nicht – wie sonst – ihre Arme um sie, obwohl Nora ihre erwartungsvoll ausgebreitet hatte. Starr stand sie vor ihrem Krankenbett, ballte beide Hände zu Fäusten und schaute sie wütend und verzweifelt an. Dieser Blick, den niemand hätte deuten können, grub sich wie ein Brandzeichen in Noras Gedächtnis. Bis heute verstand sie nicht, warum ihre Schwester so wütend auf sie gewesen war und sich seitdem so von ihr entfernt hatte.

Ungewohnt schrilles Klingeln riss Nora aus ihren Bildern heraus.

Sie nahm den Hörer des Telefons ab und stellte sich vor: „LKA 41, Vermisstenabteilung, Kardinal.“

„Hier ist Max aus München. Nora, ich wollte hören, ob du gut angekommen bist?“

Noch wehmütig, aber auch aufgeregt, berichtete sie ihrem ehemaligen VE-Führer aus München von ihrem ersten, langen Tag in Hamburg und auch darüber, dass sie glaubte, ihre Schwester in einer Akte entdeckt zu haben.

„Stell dir vor, sie taucht hier als Anzeigende auf, in einer Vermisstensache, die ich mir zufällig gegriffen habe.“

„Es gibt keine Zufälle“, bemerkte Max und machte einen tiefen Atemzug. „Ich vermisse dich, Nora.“

Kaum ausgesprochen, bereute Siebert es bereits. Schließlich wollte er ihr das Einleben in Hamburg nicht noch schwerer machen und hatte sich fest vorgenommen, nichts zu sagen, was sie traurig machen könnte. Als er jedoch ihre Stimme gehört hatte, konnte er nicht anders und musste diesem Impuls nachgeben. Aber so war es nun. Nora musste nach Hamburg zurückkehren, weil sie die Ermittlung eines mutmaßlichen Terroristen vereitelt hatte und enttarnt worden war. Und nun hatte er in erster Linie eine Instruktion zu befolgen.

„Nora, ich muss hier für dich noch ein paar Formalitäten regeln, könnte dich dann aber besuchen kommen.“

Nora schwieg und hing ihren Gedanken nach.

„Wirst du wieder in diesen Jazzclub gehen, in dem du früher auch schon Musik gemacht hast? Wie hieß der noch, ,Birdland‘ oder so?“, fragte er.

„Am Wochenende ist Vocalsession, da werde ich wohl hingehen. Wieso? Willst du kommen?“

Sie war irritiert über das Interesse.

„Nein, nein, das werde ich wohl nicht schaffen“, lachte Siebert, während er auf das Display seines Handys tippte.

„Birdland“, Wochenende, Nora.

Er drückte auf Senden, und zwei graue Haken quittierten die Ankunft seiner Nachricht.

Ob er das Richtige tat, wusste er nicht, aber er war verpflichtet, an der Aufklärung mitzuwirken, so unwohl er sich dabei auch fühlen mochte.

„Verzeih, Max, ich bin durcheinander …“

Ihre Stimme kippte leicht, und es war still. Gefasst sprach sie weiter. „Ich habe schon seit ewiger Zeit keinen Kontakt mehr zu meiner Schwester Lotta.“

Während Nora im Vertrauen von ihrer Beziehung zu Lotta erzählte, nahm Siebert sein Handy und sah im Display, dass der Empfänger seine Nachricht bereits gelesen hatte. Horst Röpke antwortete:

OK. Kümmere mich.

„Irgendwie hatte ich mich damit abgefunden“, sprach Nora weiter, und ihre Stimme begann sich zu überschlagen. „Und nun finde ich sie auf diese Weise wieder. Das ist Fügung. Ich werde sie anrufen und fragen, wie es ihr geht, was sie macht und … “

Nora freute sich zwar über ihre wiedergefundene Schwester, fühlte sich aber zugleich unbehaglich. Wie würde Lotta auf ihre Begegnung reagieren?

Jäh fiel ihr ein, dass die Vermisstensache eilig war, und sie beendete das Telefonat.

„Max, ich melde mich bei dir, ich muss jetzt auflegen und Lotta und die vermisste Frau suchen, pfiat di.“

Nora stürmte aus ihrem Büro und suchte einen ihrer Kollegen im Nachbarzimmer auf, bei dem sie sich erkundigte, welcher Ermittlungsrichter für Vermisstensachen zuständig sei.

„Geht nach Anfangsbuchstabe“, erläuterte Kriminal­oberkommissar Pieter Struck, auf dessen Schreibtisch einige Polizei-Playmobilfiguren aufgereiht waren und der selbst ein wenig skurril wirkte. Ganz am Rand der Sammlung stand ein Pastor mit weißem Kragen, langem schwarzen Gewand und einem goldfarbenen Kelch mit einem Kreuz. Pieter Strucks größter Stolz war allerdings eine GSG-9-Figur, Elite Force BBI, deren Hand etwas dynamischer wirkte als die sonst üblichen halb runden starren Sichelhände. Nora betrachtete den Pastor und nahm sich vor, ihren Kollegen bei Gelegenheit zu fragen, ob er gläubig sei oder der Pastor es nur wegen seiner Sammelleidenschaft in die Ruhmeshalle der Plastikfiguren geschafft hatte.

„Hey, Pieter, könntest du mir helfen, habe das bisher noch nicht gemacht.“

Gleichzeitig griff sich Nora eine Polizeifigur mit khakifarbener Hose und strich mit ihrem Daumen über die grüne Plastikjacke mit den aufgemalten Taschen. Die Hände erinnerten sie an die Ersatzhand von Käpt’n Hook, nur eben ohne Haken. Während Nora den kleinen, ergrauten Polizisten mit der Prinz-Eisenherz-Frisur und dem grauen Schnurrbart betrachtete, fiel ihr auf, dass Pieter Struck viel Ähnlichkeit mit dem älteren Herrn aus Plastik hatte.

Freundlich schaute er Nora durch seine silberfarbene Brille an. „Frag den Richter, was er an Infos benötigt, Telefonnummer findest du im Outlook.“

***

Das Klingeln des Telefons riss Ermittlungsrichter Markus Hirsch aus seinem Aktenstudium.

„Hirsch“, hörte Nora am anderen Ende der Leitung.

„Guten Tag, Herr Hirsch, Nora Kardinal, vom LKA 41. Wir haben eine vermisste Person, und ich benötige eine Handyortung für sie. Die Sache ist wirklich sehr eilbedürftig, da die Person schon seit Sonntagabend vermisst wird und die Akkukapazität des angeschalteten Handys sich immer weiter verringert!“, erläuterte Nora ihr Anliegen und beantwortete noch einige seiner Fragen, bis sie ihn endlich sagen hörte: „Ich benötige einen schriftlichen Antrag mit Begründung. Wann können Sie den faxen?“

„In einer halben Stunde haben Sie alles, vielen Dank“, beendete Nora das Telefonat.

Eine Stunde später hatte sie die richterliche Anordnung und ließ über die Technische Abteilung des LKA mittels einer sogenannten „Stillen SMS“ oder „Stealth Ping“ das Handy der Vermissten orten.

Es klingelte, und während Nora den Telefonhörer aufnahm, setzte sie sich seitlich auf den Tisch. Pieter Struck beobachtete ihr Mienenspiel, während sie zuhörte. Nachdem sie aufgelegt hatte, sprang sie auf und ging zu ihrem Bürostuhl. „Hey, wir haben Glück. Wir haben ein Signal, obwohl das Handy schon seit Sonntagabend durchgehend in Betrieb ist“, rief sie ihrem Kollegen über die gegeneinander aufgestellten Schreibtische zu.

„Zuletzt hat es sich in der Funkzelle in der Borsigstraße eingeloggt.“

„Dort ist eine Müllverbrennungsanlage“, bemerkte Pieter, der dort vor Kurzem einen Einsatz gehabt hatte und sich nur zu gut an den Straßennamen erinnern konnte, da seine Lieblingslehrerin in der Grundschule Borsig hieß. Wenn man es genau nahm, war er als kleiner Bub in seine hübsche, junge Lehrerin verliebt, aber das war eine andere Geschichte.

„Okay, worauf warten wir?“

„Muss noch mein Butterbrot aufessen“, entgegnete Pieter kauend.

„Häh?“

Missbilligend und ohne jedes Verständnis blickte Nora ihn an. Sie wollte gerade zu einem Vortrag über effiziente und schnelle Polizeiarbeit ansetzen, da kam ihr Pieter zuvor.

„Mann, das war ein Spaß!“, stieß er belustigt, aber auch irritiert darüber aus, dass sie tatsächlich geglaubt hatte, er wolle jetzt weiteressen. Sie musste ihn eben noch besser kennenlernen. Er legte sein Brot zurück in die Tupperdose, wischte sich seine fettigen Hände an den Hosenbeinen ab und folgte Nora zum Parkplatz des Präsidiums.

Während sie mit Blaulicht zum Zielort fuhren, klappte Nora den Laptop auf, um das Signal des Handys verfolgen zu können. Gleichzeitig rief sie bei der Müllverbrennungsanlage an, kündigte ihr Kommen an und ordnete gegenüber dem Leiter der Schicht an, die Arbeiten sofort einzustellen. Sie beschlich ein ungutes Gefühl. Würden sie dort nur ein weggeworfenes Handy finden oder mehr?

„Fahr schneller“, herrschte sie Pieter an. Sie war noch sauer über seinen Spaß, den er sich mit ihr erlaubt und den sie nicht verstanden hatte.

Als sie eilig das Werksgelände und den Müllbunker betraten, war Nora von dem Anblick, dem Lärm und vor allem dem Gestank der Müllverbrennungsanlage wie erschlagen. Sie standen in einer riesigen Halle, und die grauen Wände des tiefen Betonraums wirkten wie das Parkdeck der Imperialen Raumflotte „Millennium Falcon“ von „Star Wars“. Das Quietschen des Greifarms, der sich in den bunten Müll bohrte, riss Nora aus ihrer Starre. Aus der in dem Greifarm eingequetschten Müllmasse löste sich eine PET-Flasche und fiel in die Tiefe, während die Schaufel direkt auf den Verbrennungsofen zuhielt. Nora wurde übel. Nicht nur von dem beißenden Gestank, sondern auch von der Tatsache, dass die Schaufel sich genau an der Stelle in den Müllberg eingegraben hatte, an der ihr das Laptop ein Signal anzeigte. Sie fuhr den Schichtleiter an: „Maschinen aus, sofort! Sagen Sie mal, was genau verstehen Sie nicht, wenn ich Sie auffordere, die Arbeiten einzustellen?“ Nora bellte unbeherrscht in den Hörer und vergaß dabei den Lärm und den Gestank, der sich langsam in ihren Klamotten festsetzte.

„Maschinen aus!“, wiederholte sie. „Wir suchen eine vermisste Person, und wir würden sie gerne finden, bevor ihr sie verbrennt“, schrie sie.

Nora ließ weder den Greifarm noch den Signalpunkt des Handys auf ihrem Laptop aus den Augen, bis die Maschine nach Anweisung des Schichtleiters endlich stoppte und erlösende Stille einkehrte. Rasch organisierte sie sich eine Schaufel, suchte zusammen mit Pieter einen Einstieg in den Betonraum und grub an der durch das Signal vorgegebenen Stelle.

„Worauf wartest du?“, herrschte sie Pieter an. „Besorge dir auch eine Schaufel und hilf mir beim Graben! Oder willst du bloß rumstehen und mir zuschauen? Zur Not müssen wir weitere Kollegen anfordern.“

Plötzlich hörte Nora auf zu graben, denn ihr Spaten stieß dumpf auf etwas Großes. Sie räumte die oberste Schicht aus Tüten, Konserven und Flaschen beiseite und schaufelte etwas in der Größe eines erwachsenen Menschen frei, das in eine blaue Plastikfolie verpackt war. Nora erstarrte, denn ihre Vorahnung hatte sich bewahrheitet. In dieser Verpackung würde nicht nur das Handy der Vermissten gefunden werden. Als sie das Ende der Plastikmumie anfasste, erfühlte sie durch das knisternde Plastik ein Paar feste Schuhe. Sie öffnete das Paket vorsichtig am anderen Ende, um sich zu vergewissern, ob sie das gefunden hatten, was sie vermuteten. Verwundert musste sie jedoch feststellen, dass sie keine weibliche, sondern eine männliche Leiche mit einem Kopfschuss entdeckt hatten.

„Ich informiere die Spurensicherung und den diensthabenden Rechtsmediziner“, spulte Pieter die Arbeitsschritte ab.

Nachdem die hinzugerufenen Kollegen der Spurensicherung, die alle in weißen Ganzkörperanzügen steckten und kaum zu unterscheiden waren, die Spuren auf dem Plastikpaket gesichert und den Leichnam aus dem riesigen Betonraum getragen hatten, beobachtete Nora den Laptop am Rande des Beckens, während sie darüber grübelte, wieso das Handy der Vermissten bei der männlichen Leiche lag.

Als Pieter ein weiteres Telefonat beendet hatte und mit Nora die nächsten Schritte besprechen wollte, verwirrte ihn ihr verblüfftes Gesicht.

Nora hatte vor wenigen Sekunden das Ortungssignal des Laptops beobachtet und registriert, dass es seine Position nicht geändert hatte, obwohl das geborgene Paket schon außerhalb des großen Betonbeckens bewegt wurde und dieser Standortwechsel hätte angezeigt werden müssen. Den Bruchteil einer Sekunde später rief Nora: „Das Handy liegt immer noch im Müllbecken, wir müssen zurück und weitergraben! Vielleicht liegt da noch eine zweite Leiche!“

Nach zehn anstrengenden Minuten fanden Pieter und Nora ein zweites blaues Paket, öffneten es und stellten fest, dass es eine weibliche Leiche enthielt. Auch dieses Opfer, bei dem es sich mutmaßlich um die Vermisste handelte, war mit einem Kopfschuss getötet worden.

Beide Leichen wurden ins Institut für Rechtsmedizin verbracht, und Nora und Pieter verabschiedeten sich von dem Schichtleiter, der etwas Unverständliches knurrte, weil er verärgert war, dass er seine Arbeit erst jetzt wieder­aufnehmen durfte.

***

„Ich fahre gleich noch in den Puff, um die Anzeigeerstatterin zu informieren und zu befragen. Begleitest du mich?“, fragte Nora.

Pieter öffnete die Fahrertür des VW Passat Variant, schaute hoch und winkte ab. „Wenn du mich nicht unbedingt dabeihaben musst, würde ich gerne nach Hause fahren, hab schon so viele Überstunden.“ Er lächelte schief und setzte Nora in der Nähe des Etablissements ab, wo sie auf den Concierge zuging.

Goldene Knöpfe blitzten auf seiner roten Uniform, und weiße Locken guckten unter der farblich abgestimmten Schirmmütze hervor. Eine Montur, wie sie auch von Portiers des „Vier Jahreszeiten“, „Atlantik“ oder anderer gehobener Luxushotels getragen wurde, um – unter Ausschluss des Alltages – jeden einzelnen Gast schon vor der Tür zuvorkommend zu empfangen.

Heute war es anders.

Nora zeigte ihren Dienstausweis, fragte, ob sie Lotta Kardinal sprechen könne, und erklomm die Treppenstufen des Lokals.

Lotta Kardinal stand hinter dem Tresen, lächelte den einzigen Gast freundlich an, während sie ihm eine Zigarette anzündete. Geschäftig und flink drehte sie sich zu der schummrig beleuchteten Bar, nahm eine Flasche Wod­ka aus dem verspiegelten Regal und begann, den bestellten „Sex on the beach“ zu mixen. Ihr blonder, lockiger, zu einem Pferdeschwanz gebundener Zopf sprang dabei hin und her. Sie maß 1,70 Meter, hatte eine sportliche Figur, warme, freundliche blaue Augen und eine kleine Nase. Jedoch hatten sich um ihre Mundwinkel bereits tiefe Falten gesammelt, die ihrem Gesicht insgesamt etwas Hartes, Unnahbares gaben. Lotta trug ein schneeweißes Hemd mit einer Fliege, eine schwarze Weste, und um die schwarze Hose hatte sie eine gestärkte weiße Schürze gebunden. Mit beiden Händen und ausgestellten Ellenbogen schüttelte sie den kühlen Cocktailshaker in fließenden Bewegungen schwungvoll nach oben und unten. Währenddessen blickte sie in den Barspiegel, und das Rascheln der kleinen Eisstücke endete abrupt, als Nora Kardinal den Barbereich betrat. Lotta erkannte ihre Schwester sofort. Es war still im Lokal, denn im Hintergrund lief nur leise Musik. Lotta spürte ihr pumpendes Herz. Adrenalin spülte durch ihr Blut, ihr wurde heiß, und ihr Magen rebellierte. Er fühlte sich an, als würde er sich stetig mit einer heißen, flüssigen Lauge füllen und jeden Moment überlaufen, wie ein vergessenes Tiegelchen in einer Alchemistenküche, welches mit einer gluckernden, brodelnden Substanz gefüllt war, die jeden Moment über den Rand zu schwappen drohte. Ihrem Impuls, aus dem Lokal zu fliehen, gab sie nicht nach. Das war keine Option.

„Hallo“, sagte Nora und trat an den Tresen heran. Sie hatte sich zur Einleitung einen Satz zurechtgelegt, den sie mechanisch aufsagte.

„Lotta, das ist ein unglücklicher Moment für ein Wiedersehen, den habe ich mir anders vorgestellt, aber ich muss dir einige Fragen stellen.“

Unsicher kramte Nora in ihrer Hosentasche nach ihrer Polizeimarke.

„Ich bin hier wegen deiner Vermisstenanzeige. Es tut mir wirklich sehr leid, wir haben das Handy deiner Kollegin orten können und dabei eine weibliche Leiche entdeckt. Du müsstest sie noch identifizieren, aber wir gehen davon aus, dass es sich um die Vermisste handelt. Und wir haben auch noch eine weitere Leiche gefunden. Beide lagen im Betonraum der Müllanlage vergraben.“ Nora machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln.

„Erzähl doch bitte einmal, wie es zu deiner Anzeige kam.“

Durch Lottas Kopf flitzten so viele Gedanken, dass sie sie kaum zu bändigen vermochte.

Ihre Simone tot? Das durfte nicht sein! Das musste ein Irrtum sein! Aber wenn sie es doch war? Das würde sie nicht ertragen können. Und ausgerechnet ihre verhasste Schwester Nora stand vor ihr. Hätte nicht ein anderer Polizist kommen können? Ausgerechnet Nora! Und nun wusste sie auch noch, wo Lotta arbeitete.

Bisher hatte Lotta ihren sündigen Job in der Bar gut verheimlichen können, und nun kam alles zusammen. Vor ihr stand ihre jüngere Schwester, die ihr so großes Leid angetan und verhindert hatte, dass sie ihr anvertrautes Liebstes hatte beschützen können.

Über Lottas Augen legte sich ein leichter Glanz, bloß nicht weinen, dachte sie, bloß nicht weinen, nicht hier, nicht vor ihr. Ihr Blick verfinsterte sich wieder. „Ich habe dir nichts zu sagen“, entgegnete sie. „Alles, was ich weiß, habe ich bei meiner Anzeige erzählt, dem habe ich nichts hinzuzufügen.“

Lotta überlegte einen Moment.

„Wisst ihr schon, wie sie gestorben ist?“, wollte sie doch wissen.

Nora fiel auf, dass Lotta zutiefst getroffen war und sich der Glanz in ihren Augen hartnäckig hielt.

„Nein, noch nicht, die Leichen sind im Institut und werden erst noch obduziert. Warst du mit der Frau befreundet?“

„Wofür ist das wichtig?“

Lotta reagierte trotzig und wollte die Unterredung so kurz wie möglich halten.

„Hör mal, Lotta, du hast die Pflicht, Auskunft zu erteilen, zwar nicht mir gegenüber, aber spätestens bei der Staatsanwaltschaft. Es ist nicht an dir, mir Fragen zu stellen.“

Nora biss sich auf die Lippen, wie dumm von ihr, so würde sie ihre Schwester nicht dazu bewegen können, Fragen zu beantworten.

„Es tut mir leid, Lotta, ich bin gerade überwältigt von unserer Begegnung und …“

Noras Unterkiefer bebte, weil sie ihre Wut und Tränen unterdrückte. Lotta hatte Nora schon immer für alles Schreckliche, was in der Familie Kardinal passiert war, verantwortlich gemacht. Unvorhergesehen stand die alte Wut zwischen ihnen, aber verdammt, sie musste sich auf die Ermittlungen konzentrieren.

„Ich habe dir nichts zu sagen“, wiederholte Lotta.

„Ich denke, die Tote war eine Freundin von dir, willst du nicht wissen, wer sie umgebracht hat?“

„Ich habe dir nichts zu sagen!“

Mit eisigen Augen blickte Lotta über Nora hinweg, die beharrlich nachsetzte.

„Mensch, Lotta, denk doch an Mone. Meinst du nicht, sie würde wollen, dass du mit uns zusammenarbeitest? Uns hilfst, ihren Mörder zu finden?“

Als Nora den Spitznamen Mone aussprach, senkte Lotta ihren Kopf und kämpfte erneut mit den aufkommenden Tränen. „Woher weißt du, dass ich sie Mone nannte?“

Nora antwortete nicht und zuckte mit den Schultern. Sie wusste es nicht sicher, aber sie hatte das Feuerzeug an der Leiche mit dem Aufdruck Mone gefunden und es vermutet.

Über Lottas Gesicht rann eine Träne, und ihre Augen bekamen einen samtigen Ausdruck. Dann begriff Nora.

„Ihr wart ein Paar!“, stieß sie aus.

„Ja“, schluchzte Lotta, deren abweisende Haltung in sich zusammenbrach. Sie schob ihre Hand unter den Tresen, kramte in einer Schublade und übergab Nora ein Handy.

„Hier, das hat ihr letzter Gast bei mir liegen gelassen. Vielleicht hilft euch das weiter.“

Lotta fand schnell ihre Fassung wieder und beendete das Gespräch. „Ich muss jetzt weiterarbeiten. Bitte geh, sonst kriege ich Ärger mit meinem Chef.“

Sie begleitete Nora zum Ausgang und verabschiedete sich kühl.

Nora machte keinen Versuch mehr, sich ihrer Schwester zu nähern. Traurig verließ sie den Laden und ließ eine ebenso verzweifelte Lotta zurück.

Das Konzerthaus

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