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Kapitel 1

Wilma

„Was für ein atemberaubender Ausblick“, schwärmte Anne Fliege-Schulz und setzte sich mit einem eleganten Hüftschwung an einen der an dem bodentiefen Fenster stehenden Tische der Skyline Bar „20up“. Von ihrer Stadt verzaubert, schaute sie auf die Elbe, den alten Elbtunnel, die Landungsbrücken und die vielen Lichter des Hafens, an denen sie sich nicht sattsehen konnte. Fliege-Schulz nahm die Hand ihres Mannes und küsste sie. Lars Schulz war Brillenträger, Rechtsanwalt und einer dieser Advokaten, die sich wichtiger nahmen als ihr Mandat. Damit war ihn betreffend eigentlich schon alles gesagt. Sein Blick schweifte durch die Bar, die sich ihm in vielen bunt beleuchteten Flaschen präsentierte.

Er zog seine Hand zurück und konfrontierte seine Frau. „Anne, ich weiß, du betrügst mich!“

Fliege-Schulz griff nach ihrer Handtasche und versuchte, Zeit zu gewinnen. Genau das hatte sie immer befürchtet, und ausgerechnet jetzt war sie nicht vorbereitet. Eine Hitzewelle stieg in ihr hoch und schien ihren Schädel zum Kochen zu bringen.

„Wie kommst du darauf?“, stammelte sie seinem Blick ausweichend und kramte in ihrer Handtasche.

„Du fickst mit diesem Architekten, diesem Albert Berend. Und komm erst gar nicht auf die Idee, alles zu bestreiten.“

„Schatz, ich könnte dich niemals betrügen!“

Schulz bückte sich, griff zu seiner kleinen Aktentasche und zog knisternd einen braunen DIN-A4-Umschlag hervor. Wortlos legte er ihn auf den Tisch. Als sich ihre Blicke trafen, zog er seine rechte Augenbraue derart in die Höhe, als wollte er die Torbögen der Alsterarkarden nachzeichnen.

„Hör auf zu leugnen“, herrschte er sie an, und seine Stimme war so schneidend wie ein frisch gewetztes Messer. „Ich lass mir keine Hörner aufsetzen, und ganz bestimmt nicht von dir. Wirf einen Blick in den Umschlag und lass uns lieber darüber reden, wann du unser Haus verlässt. Sonntag bist du verschwunden. Du hast also ein paar Tage, um deine Sachen zu packen. Das dürfte reichen.“

Fliege-Schulz schluckte. Nun sind meine Befürchtungen eingetreten, dachte sie verzweifelt und starrte auf den Umschlag. Sie fürchtete sich vor dem, was sie sehen könnte.

Nacktbilder? Andere kompromittierende Situationen? In ihrem Kopf kreiste alles durcheinander. Eine Trennung wollte sie auf keinen Fall, schon gar nicht nach dem Streit mit Albert. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Reiß dich zusammen, dachte sie und versuchte, die Situation zu beherrschen.

Schweigend saßen sie sich eine Weile gegenüber, bis Fliege-Schulz den braunen, verschlossenen Umschlag in die Hand nahm. Sie zögerte einen Moment, riss ihn auf, griff hinein und zog die Hochglanzbilder heraus. Dabei vermied sie es, ihren Mann anzuschauen, und hoffte, möglichst gelassen auszusehen. Sie spürte seinen durchdringenden, intensiven Blick und bereute zum ersten Mal ihren Sprung auf die andere Seite. Ihr Mann prüfte ihre Gesichtsregungen eingehend, aber er konnte sie nicht lesen. In ihren zitternden Händen hielt sie die Bilder, auf denen sie glücklich turtelnd mit Albert in einem Café saß und Weißwein trank.

Bestreiten ist sinnlos, überlegte sie kurz und kommentierte die Bilder mit trockener Stimme. „Das war am Tag der PUA-Sitzung. Da habe ich Melzer und Berend vernommen. Ich möchte dich nicht weiter anlügen, ja, ich habe dich betrogen, aber ich habe die Affäre bereits beendet“, taktierte sie. „Ich liebe dich, und ich begreife nicht, warum ich mich auf Albert eingelassen habe. Ich war allein, du hattest so wenig Zeit für mich, warst nur mit deinen Mandanten beschäftigt. Er hat mir das Gefühl gegeben, jemand Besonderes zu sein ...“

Sie schaute ihn an, um zu sehen, ob ihre Erklärungsversuche Eindruck erwecken würden, aber die Eiseskälte in seinen Augen ließ sie frösteln.

„Ach, hör auf!“, unterbrach er sie mit erhobener Stimme. „Ich bin also dafür verantwortlich? Ist es das, was du mir sagen willst? Ich bin fassungslos. Anne, du ziehst bis Sonntag aus. Das ist mein letztes Wort.“

„Das Haus gehört auch mir“, widersprach sie ihm mit demonstrativ gedämpfter Stimme. „Ich bleibe und werde für unsere Liebe kämpfen. Und bitte schrei nicht so laut, die anderen Gäste drehen sich schon um.“

„Hörst du dir eigentlich selber zu? Mein Gott, was redest du für einen klischeehaften Scheiß. ‚Ich kämpfe für unsere Liebe‘“, äffte er sie nach und wackelte dabei mit dem Kopf hin und her. „Unsere Ehe ist zu Ende“, stellte er fest.

„Wie lange geht das denn schon mit euch oder muss ich sagen‚ ging es mit euch?“, fragte er zynisch.

Fliege-Schulz schwieg. Jetzt durfte sie nichts Falsches sagen, immerhin wusste sie nicht, wie lange er sie schon überwacht hatte. Im Moment würde sie ihn nicht erreichen, das begriff sie. Ein anderer Zeitpunkt war für ihr Vorhaben sicher geeigneter. Bleib gelassen, dachte sie.

„Lass uns nach Hause fahren und erst einmal alles sacken lassen“, versuchte sie ihm auszuweichen.

„Du wirst ausziehen, so oder so“, parierte Schulz, erhob sich und winkte nach dem Kellner, während er seine Börse aus der Hose zog.

***

Schrilles Klingeln durchdrang am Mittwochmorgen eine mit einem schwarzen Samtvorhang abgedunkelte Wohnung am Stadtrand von Hamburg. Es roch nach verbrauchter, stickiger Luft, in die sich der Duft von Lavendel, Urin, Mottenkugeln und alter, verwelkter Haut mischte. Die ahnungslose Bewohnerin schnarchte mit geöffnetem Mund im Schaukelstuhl und ahnte nicht, dass sie heute noch eine wichtige Nachricht erhalten würde.

Es klingelte erneut. Ein Schlüssel drehte sich im Zylinder, und die sich öffnende Tür der im Dachgeschoss gelegenen Wohnung knarrte. Eine Frau von Mitte vierzig betrat die Stube, ging mit zügigen Schritten auf die ehemalige Gemeindeschwester Wilma Hönschemeier zu und rüttelte so fest an ihrem Oberarm, dass diese erschrocken hochfuhr. Sie schaute verwirrt umher, drehte ihren Kopf und sah die Frau mit großen Augen an.

„Was machen Sie hier? Wer sind Sie? Ich rufe die Polizei! Verschwinden Sie!“, keuchte sie.

„Mann, du bescheuertes dummes Weib, ich bin es, Magdalena. Deinen Arsch darf ich putzen, aber erkennen tust du mich nicht?“, herrschte sie die erschrockene Alte mit polnischem Akzent an. Wilma Hönschemeier fing gellend an zu schreien, doch das Klatschen der Ohrfeige und der Schmerz ließen die Greisin verstummen.

„Wenn du nicht ruhig bist, knall ich dir noch eine“, schüchterte Magdalena die verängstigte Rentnerin ein. Sie warf einen Briefumschlag auf den Schoß der Alten und spottete: „Hier, von deinem Verehrer. Deine Lupe bring ich dir.“

Während die dicke Polin in einer uralten, dunkelbraunen Kommode kramte, über der ein riesiges, erdrückendes Kreuz hing, beruhigte sich Wilma Hönschemeier und murmelte Bibelverse vor sich hin.

„Sei froh, dass ich für deine tägliche Pflege so gut bezahlt werde, sonst würde ich dich hier verrecken lassen“, verhöhnte die Polin das alte Weib, warf ihr die Lupe auf den Schoß und verließ pfeifend den Raum. Sie ging in ihr Zimmer nebenan, schenkte sich zufrieden ein Glas Mariacron Weinbrand ein, öffnete eine Jumbotüte Kartoffelchips und griff gierig hinein. Sie schaltete ihren Computer an, setzte die Kopfhörer auf und richtete sich für einen langen Serienmarathon bei Netflix ein. Seitdem der Streaming-Anbieter auch in Deutschland online war, schaute sie kein Fernsehen mehr, sondern tauchte über Stunden in die Serienwelt ein von „Bloodline“ und Co.

Im Nebenzimmer strich sich Wilma Hönschemeier über ihre weißen Haare, welche sie nur noch mithilfe der dicken Polin zu einem Knoten binden konnte. Ihr eingefallenes, runzeliges Gesicht vergrößerte optisch ihre rund geratene Nase. Sie stand auf, ordnete ihr schwarzes, hochgeschlossenes Kleid mit den winzigen weißen Punkten und dem weißen Kragen, das ihr über die Oberschenkel gerutscht war und die dunkelbraunen Stützstrümpfe zum Vorschein brachte. Sie griff zu dem am Schaukelstuhl lehnenden alten Gehstock, humpelte an den kleinen, runden Tisch und ließ sich, immer noch müde, auf den mit Brokat gepolsterten Jugendstilsessel fallen. Die Greisin hielt andächtig den Brief in ihrer zittrigen, mit Altersflecken übersäten Hand. Obwohl ihre Augen von dunklen Ringen gerahmt waren, leuchteten sie beim Anblick des Kuverts. In ihrem durch tiefe Furchen gezeichneten Gesicht, welche sowohl horizontal als auch vertikal verliefen und dem Fell eines chinesischen Faltenhundes glichen, lag ein Lächeln, als sie den Brief öffnete und mit ihrer Lupe las.

Meine geliebte Wilma,

Die Schuldigen werden nun Gott ein Stück näherkommen, so wie du es mich gelehrt hast.

„Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe es euch für den Altar gegeben. Denn das Blut ist es, das durch Leben Versöhnung erwirkt. Im Blut war die Seele und Gott beansprucht die Seele.

3. Mose. 17/11.

Karsten.

Der Alten liefen die Tränen herab und verfingen sich an einem langen Kinnhaar. Sie wischte sie mit ihrer knöchernen Hand ab, erhob sich und stützte sich dabei auf die Lehne ihres Stuhles. Schlurfend ging sie einige Schritte in ihren karierten Filzpantoffeln zum Altar, kniete nieder und betete mit leiser Stimme ihr alltägliches Gebet.

„Gegrüßet seist du, Maria.

Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat,

Jesus, der für uns gegeißelt worden ist,

Jesus, der für uns mit Dornen gekrönt worden ist,

Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat,

Jesus, der für uns als Menschenopfer gekreuzigt worden ist …“

Die alte Frau brach zusammen und konnte ihren Vers nicht mehr zu Ende sprechen. Sie stürzte zu Boden und riss dabei die auf dem Altar stehende Madonna mit, die am Boden laut scheppernd zerschlug.

Nebenan kreischte die dicke Polin vor Lachen, aber Wilma Hönschemeier konnte sie nicht mehr hören.

Das Konzerthaus

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