Читать книгу Rille aus dem Luftschacht - Maike Siebold - Страница 6
ОглавлениеDie Lösegeldforderung
„Um ein Haar hätte ich mir den Hals gebrochen“, hört Roderich seinen Vater durch den Hausflur brüllen.
Roderich springt aus seinem Zimmer. „Was ist denn?“, fragt er besorgt.
„Dein Ball lag vor der Haustür und ich bin darüber gestolpert. Das ist passiert!“
„Was für ein Ball?“
Sein Vater schüttelt den Kopf. „Ja, was für ein Ball wohl? Dein neuer Lederfußball! Jetzt stell dich doch nicht so begriffsstutzig an.“
Roderich nimmt den Ball und dreht ihn in seinen Händen. Gleichzeitig mit seinem Vater entdeckt er schwarze Zeichen auf dem runden Leder.
„Roderich, was sollen denn die Buchstaben da drauf? Du hast deinen neuen Ball ja total verschandelt. Das ist doch kein Scrabblespiel.“ Das Gesicht seines Vaters hat sich leicht rötlich verfärbt.
„Ich war es nicht, Papa. Ehrenwort. Keine Ahnung, wer meinen Ball vollgekritzelt hat“, verteidigt sich Roderich.
Erst am Abend hat Roderich Zeit, die Buchstaben in Ruhe zu studieren. Mit gekreuzten Beinen hat er es sich auf seinem Bett bequem gemacht, um den Ball zu untersuchen. Durch das Fußballspielen mit seinem Vater sind einige Buchstaben schon etwas verwischt. Nach und nach entziffert er ein E, ein H, ein D, ein I, noch ein E, ein N, ein R und ein Z. Was soll das bedeuten? Roderich schreibt die Buchstaben in unterschiedlicher Reihenfolge in sein Deutschheft.
„Niehrzed? Das ergibt keinen Sinn!“ Roderich denkt laut, was ihm bei kniffligen Aufgaben oft auf die Sprünge hilft. „Diehrnze, Ziehrend – das bekomme ich ja nie raus.“
Roderich kann nicht einschlafen. Als um Mitternacht die Kirchturmglocken läuten, wälzt er sich noch immer unruhig von einer Seite auf die andere und murmelt Buchstaben vor sich hin. Plötzlich schreckt er auf und ist wieder hellwach.
„DEIN HERZ!“ Das ist die Lösung.
Es schaudert ihn. Der Geist kann doch nicht wirklich sein Herz haben wollen. Ein Herz von einem Tier könnte ein Geist vielleicht verlangen, aber nicht das von einem kleinen Jungen. Und wenn doch? Langsam kriecht die Angst wie eine Schlange in ihm hoch. Er knipst das Licht an. Über seinem Kopf leuchtet seine rote Nachttischlampe auf. Sie hat die Form eines Herzens. In diesem Moment versteht er. Die Herzlampe, das Geschenk von Tante Margot, könnte der Geist meinen. Aber woher kann der Geist wissen, dass er diese alberne Mädchenlampe besitzt?
Kaum hat er das Ballrätsel gelöst, da steht er vor dem nächsten Problem. Und überhaupt, wie soll er dem Geist die Lampe übergeben? Durch den Schlitz in der Fahrstuhlwand passt sie wohl kaum. Also muss er ihn wohl oder übel in seiner Sprechstunde aufsuchen. Jedes Kleinkind weiß: Geister empfangen immer nur zwischen Mitternacht und 1 Uhr morgens. Sie haben Sprechstunde wie Ärzte, eben die Geisterstunde.
Er kramt seine Taschenlampe aus der Kiste unter dem Bett hervor und leuchtet das Zimmer ab. Auf der Spielzeugkiste lässt er den Taschenlampenkegel verweilen. Dort schläft Klaus Teddy. Roderich hat beschlossen, dass man mitten in der Nacht auf dem Weg zu einem Geist einen Begleiter braucht.
„Klaus Teddy“, flüstert er durch den Raum, „du musst mit.“
Auf Socken schleicht er zur Wohnungstür, öffnet sie vorsichtig und drückt nach ein paar Schritten den Fahrstuhlknopf. Als sich die Metalltür öffnet, steht Roderich einem Mädchen mit langen dunkelblonden Haaren und einer Mütze auf dem Kopf gegenüber. Beide schreien vor Schreck gleichzeitig los.
Das Mädchen findet zuerst ihre Sprache wieder. „Was guckst du denn so blöd?“
Roderich kontert: „Ich guck nicht blöd, ich wundere mich nur, was du um diese Uhrzeit hier machst. In unserem Haus wohnst du auf jeden Fall nicht.“
Das Mädchen grinst ihn frech an. „Kriech einfach unter den Stein zurück, unter dem du hervorgekrochen bist.“
Während sich Roderich noch über diese komische Antwort wundert, entdeckt das Mädchen die Herzlampe hinter seinem Rücken.
„Gib die Lampe rüber. Wir haben eine Abmachung.“
Roderich braucht einen Augenblick, um zu begreifen, was das bedeutet. Dieses blöde, aber doch völlig normale Mädchen war der unheimliche Fahrstuhlgeist. Es hat ihn an der Nase herumgeführt. Wie peinlich.
Jetzt muss er retten, was zu retten ist. Am besten er tut so, als hätte er die Sache von Anfang an durchschaut. „Ach, die Lampe. Bitte hier, für dich. Danke übrigens für den Ball.“
„Tu doch nicht so, als hättest du von Anfang an gewusst, wer was von dir wollte. Du dachtest, ich sei ein Geist, und du hattest die Hosen bis oben voll“, bekommt er als Antwort.
Das Mädchen ist nicht dumm, stellt Roderich fest. Zu allem Unglück fällt ihr Blick jetzt auch noch auf Klaus Teddy.
„He, leihst du mir deinen verlausten Affen?“
Mit einem Hauch zu viel Trotz in der Stimme antwortet Roderich: „Erstens ist das ein Bär und kein Affe und zweitens verleiht man Teddys nicht und Klaus Teddy schon gar nicht.“
Nun ist das Mädchen beleidigt. „Teddys sind sowieso nur was für Babys“, sagt sie mit schnippischer Miene und verschränkt ihre Arme vor der Brust.
Das ist der Augenblick für einen guten Abgang, findet Roderich. Er klemmt sich Klaus Teddy unter den Arm, dreht sich wortlos um und verschwindet wieder in die Wohnung. Er ist stinksauer und enttäuscht, aber auch ein klein wenig erleichtert. Sein Geist ist nur ein Mädchen.