Читать книгу Rille aus dem Luftschacht - Maike Siebold - Страница 7

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Nächtlicher Besuch

Roderich schläft tief und fest. In seinem Traum dringt eine unbekannte Stimme an sein Ohr. „Roderich, Roderich!“ Die Stimme ist zu nah und zu echt, um ein Traum zu sein. Langsam öffnet er die Augen und richtet sich auf. Ver­schlafen reibt er sich die Augenlider. Niemand ist in der Dunkelheit zu erkennen. Da hört er die Stimme wieder.

„Hallo, ich bin es. Dein Fahrstuhlgeist.“

Fahrstuhlgeist? Das Wort sagt ihm was, aber was? Roderich braucht einen Augenblick, um in seinem mü­­den Kopf das Wort mit einer Erinnerung zu verbinden. Genau, das Mädchen im Fahrstuhl hatte er für einen Geist gehalten, also nicht wirklich für einen Geist oder höchstens nur ganz kurz hatte er das gedacht. Jetzt ist Roderich mit einem Schlag hellwach.

„Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Wo steckst du über­­­haupt?“, fragt er ins Dunkel.

„Ich bin hier oben im Luftschacht. Mach mal das Gitter auf.“

Der bleiche Mond erleuchtet schwach sein Zimmer. Um an das Gitter heranzukommen, muss er sich auf sein Bett stellen und sich recken. Beim dritten Versuch gelingt es ihm endlich das Gitter aufzustemmen. Aus dem viereckigen Loch grinst das Mädchen aus dem Fahr­­­­­­­­­stuhl auf ihn herunter. Es schlängelt sich geschickt durch die Öffnung in der Wand, lässt sich auf sein Bett plump­­sen und setzt sich wie selbstverständlich neben ihn. Roderich ist verdutzt. Wenn sie es sich schon auf seinem Bett gemütlich macht, sollte er wenigstens ihren Namen kennen.

„Wie heißt du eigentlich?“

„Rille.“

„Rille? Das soll ein Name sein?“, spottet Roderich.

„Kennst du den Spruch: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen?“, kontert Rille.

Es scheint eine interessante Nacht zu werden. „Was willst du eigentlich hier?“, will Roderich wissen. Die An­­spie­­lung auf seinen Namen übergeht er elegant.

Rille ist gekommen, um die Lampe zurückzubringen. Roderich versteht die Welt nicht mehr. Erst will sie das leuchtende Herzding unbedingt haben und eine Nacht später bringt sie es zurück.


„Ich habe keinen Strom“, erklärt Rille.

„Jeder hat Strom“, antwortet Roderich.

„Ich bin aber nicht jeder“, gibt Rille schlagfertig zu­­rück.

Roderich übergeht das Selbstlob. „Ich mache dir ein An­­­gebot, ich besorg dir Strom unter der Bedingung, dass du mir erzählst, wo du wohnst.“

„Auf dem Dachboden“, antwortet Rille, als sei es das Normalste auf der Welt.

„Und wie du in den Luftschacht gekommen bist“, bohrt Roderich weiter.

Rille betrachtet ihn prüfend. „Bist du denn schon alt genug, um ein Geheimnis für dich zu behalten?“

Auf so eine Frechheit darf man überhaupt nicht ernst­­­haft eingehen, denkt Roderich und antwortet lässig: „Nee, morgen in der Schule schreib ich alles in der ersten Stunde an die Tafel.“

Nach zwei Minuten Stille beginnt Rille zu reden: „Also gut, meine Eltern sind aus ihrer Heimat geflohen und wollten in Deutschland ein neues Leben beginnen. Aber unser Asylantrag wurde abgelehnt. In der Nacht, wo wir von der Polizei aus dem Asylbewerberheim abgeholt und zum Flughafen gebracht werden sollten, konnte ich mich im Uhrenkasten verstecken. Nachdem die Luft im Heim rein war, bin ich in den frühen Morgenstunden hierhin geflüchtet. Mein Vater ist Architekt und hat mich auf die Besonderheit eures Hauses aufmerksam ge­­­­­­­macht: die großen Luftschächte. Seitdem wohne ich in den Luftschächten.“

Ungläubig mustert Roderich das seltsame Mädchen. Wenn da nicht das Detail mit dem Uhrenkasten gewesen wäre, hätte er ihr die Geschichte vielleicht sogar ab­­gekauft, nun siegt sein Instinkt. „Ich will die Wahrheit wissen. Uhrenkasten! Dass ich nicht lache. Deine Mutter hat dir zu viele Märchen vorgelesen. Die Story kannst du deinen Puppen erzählen. Wo wohnen deine Eltern wirklich?“

„Okay, meine Geschichte ist noch nicht glaubwürdig genug. Ich muss weiter an ihr feilen“, gibt Rille widerwillig zu.

„Und was machst du den ganzen Tag in den komischen Luftschächten?“, fragt Roderich weiter nach. „Das ist doch langweilig.“

„Langweilig? Die Luftschächte sind spannender als alles, was du bisher in deinem kurzen kleinen Leben erlebt hast. Außer Fußball und ein paar blöden Com­puter­­spielen kennst du ja überhaupt nichts.“


Roderich ist verblüfft. Woher weiß das Mädchen, dass er gerne Fußball spielt und vor dem Computer hockt?

Als ob sie Gedanken le­­sen könnte, erklärt Rille, dass die vielen verzweigten Luftschächte zu allen Wohnun­­­­gen im Haus führen und sie die Leute im Haus beobachtet. Die Schächte im Gebäude sind wie das Straßennetz einer Stadt. Rille kann sogar fernsehen, denn Klatsche schaut meistens ihre Lieblingssendung. Als sie den Namen Klatsche erwähnt, wirft sie Roderich einen prüfenden Blick von der Seite zu.

„Ich weiß, du kannst Klatsche nicht leiden.“

„Das weißt du auch?“

Rille grinst. „Ich weiß alles!“

Roderich kommt zu dem Schluss, dass dieses Mädchen doch nicht so doof ist, wie er zuerst geglaubt hat.

„So, nun kennst du mein Geheimnis, bekomme ich jetzt endlich Strom?“

„Ehrensache“, antwortet Roderich. Als er auf den Flur schleicht, um ein Verlängerungskabel zu besorgen, steht plötzlich seine Mutter vor ihm.

„Roderich? Ist dir nicht gut?“

„Mama – hast du mich erschreckt. Ich muss nur mal für kleine Pandabären.“

Seine Mutter haucht ihm ein Küsschen auf die Wange und geht in die Küche. Er hört, wie sie ein Glas aus dem Schrank nimmt und Wasser einlaufen lässt. Als er wieder aus dem Bad kommt, hantiert seine Mutter noch immer in der Küche herum. Kein guter Moment, um das Kabelproblem zu lösen. Roderich kehrt ohne Verlängerungsschnur in sein Zimmer zurück. Er verabredet sich mit Rille für den nächsten Abend um zehn Uhr. Bis dahin will Roderich ein megalanges Stromkabel besorgen.

Rille aus dem Luftschacht

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