Читать книгу Der weiße Dämon - Maja Kern - Страница 4

2 Stunden zuvor, Sigrid Wendl

Оглавление

Sigrid Wendl war außer sich. Sie kam gerade aus der Dusche, zog ihren blauen Lieblingspyjama an, machte es sich im Bett gemütlich, knipste das Licht aus und schloss die Augen. Und gerade in diesem Moment hörte sie es: jemand hinter der Wand sang laut und aufdringlich in Begleitung einer Gitarre. Ruckartig richtete sich Sigrid im Bett auf. Wieder dieser Max Huber! Asozialer Trottel! Was für eine Zumutung! Unerträglich.

Wie oft wurde sie schon aus dem Schlaf auf diese unsanfte Weise gerissen? Sigrid dachte nach. Bestimmt schon zehnmal, oder fünfzehn. Spielt keine Rolle. Sie versuchte sich abzulenken, doch in ihren Gedanken tauchte das Gesicht von Max auf. Ebenmäßige Gesichtszüge, stolzer Blick aus dunklen Augen, volles wuscheliges Haar. Er trat selbstbewusst und gleichzeitig entspannt auf, er schien niemanden um sich herum zu bemerken. Er fühlte sich sicher, er forderte alle heraus. Wie alt ist er überhaupt? Bestimmt unter fünfundzwanzig. Was macht er? Er studiert wahrscheinlich. Diese Leute arbeiten nicht, sie feiern. Und trinken. Und schreien. Und lassen die Nachbarn nicht schlafen. Sigrid lauschte. Hinter der Wand hörte sie Stimmen, weibliches Gelächter. Sie versammeln sich erst, Max schmeißt wieder eine Party. Der Teufel soll sie alle holen!

Sigrid nahm eine Zeitung. Die Zeilen sprangen vor ihre Augen, ohne einen Sinn zu ergeben. Sigrid schloss die Augen und spürte die Wut der Hilflosigkeit. Sie fühlte sich todmüde, aber an Schlafen war trotzdem nicht mehr zu denken. Sie fing an, sich wieder zu erinnern, wie alles anfing, als sie zum ersten Mal in diese wunderschöne, lichtdurchflutete Wohnung kam. Gleich wusste sie, dass sie nur hier und nirgendwo anders leben möchte. Die beste Lage! Die hohen Decken! Der warme Parkettboden! Die Nachbarn waren auch in Ordnung. Wer hätte schon daran gedacht, dass hinter der Wand auch jemand wohnt, im Nachbarhaus. Diese Wand sollte uns trennen, wir haben miteinander nichts zu tun. Wir begrüßen uns nicht im Treppenhaus, wir bitten einander nicht, den Briefkasten zu leeren, wenn einer in den Urlaub fährt. Wir sollten uns nie begegnen. Eigentlich. Aber diese blöde Wand lässt mich an deinem beschissenen Leben teilnehmen, Max Huber. Schlafen, wenn du es mir erlaubst, und ungewollt bei deinen Partys dabei sein.

Sigrid spürte, dass sie die Wut nicht mehr unterdrücken konnte, sie musste etwas dagegen tun, jetzt gleich. Wie spät ist es eigentlich? Sie schaute auf die Uhr. Zehn nach eins. Der Lärm hinter der Wand nahm zu. Die Musik aus dem Recorder war zu hören, Freudenschreie, Klatschen. Sigrid öffnete das Fenster, der Nachbarsbalkon war voller rauchender Jugendlicher; an einem Tisch saßen zwei Mädchen, sie lachten aus Leibeskräften. Die Tür zur Wohnung stand offen. Sigrid lehnte sich aus dem Fenster so weit wie möglich hinaus und versuchte ruhig, mit Nachdruck zu sprechen.

„Geht es etwas leiser? Ich kann nicht einschlafen.“

Sie schauten Sigrid nicht mal an und lachten noch lauter. Eine stand auf und ging in die Wohnung. Sie rief jemandem etwas zu. Sigrid schloss das Fenster. Ihr Versuch, die Nachbarsjugend zu beruhigen, schien nicht zu fruchten. Im Gegenteil, die Musik wurde nur noch lauter. Na, wartet, jetzt wird es noch lustiger. Wir schauen erst mal, wie schnell die Ordnungshüter euch bezähmen.

Sigrid ging in die Küche und wählte die 110. Es hat bestimmt eine Ewigkeit gedauert, bis jemand dran war. Dieser Jemand war hörbar enttäuscht, als er den Grund des Anrufs erfuhr. Ja, man schaut vorbei, aber man könne nicht sagen, wann. Prima!

Sigrid riss das Fenster auf, schaute auf die leere, dunkle Straße. Kein Streifenwagen, keine Menschenseele, keine Hilfe. Der Lärm war jetzt auch hier deutlich zu hören. Zum Heulen das alles. Wie oft hatte sie schon versucht, ihm ins Gewissen zu reden, dachte sie, als sie sich zufällig auf der Straße begegneten. Keine Chance. Max schaute nur zu Seite, kein Wort. Schweigsam wie ein kleines Mädchen. Aber jetzt kräht er wie ein Hahn im Hühnerstall.

Plötzlich öffnete sich die Eingangstür des Nachbarhauses und fiel gleich wieder ins Schloss. Sigrid erkannte die Umrisse einer männlichen Statur. Der Mann ging eilig in Richtung Haltestelle davon. Schön, ein Schreihals weniger. Sigrid schüttelte den Kopf, ging weg vom Fenster. Wann kommt endlich die Polizei, fragte sie sich müde. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie ging ins Schlafzimmer, legte sich ins Bett und schlief gleich ein.

Der weiße Dämon

Подняться наверх