Читать книгу Der weiße Dämon - Maja Kern - Страница 5

1. Juni 2010, 6.15 Uhr, Schulz

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Kommissar Schulz schlief noch ganz fest, als sein Handy klingelte. Diese frühen Anrufe bedeuteten immer das Gleiche: es ist etwas ganz schlimmes passiert und er musste sofort los. Und diesmal war es nicht anders. Schulz rieb sich die Augen, um wach zu werden. Er seufzte tief, wartete ab, bis sein Herzschlag sich etwas beruhigte, dann richtete er sich auf. Er schnappte blind nach dem gestrigen Hemd auf dem Stuhl, schlüpfte in die ausgebeutelte Hose, steckte sich den Autoschlüssel in die Tasche. Dann überlegte er kurz und nahm seine Dienstwaffe vom Tisch. Langsam machte er die Tür hinter sich zu und begann, die Treppe hinunterzusteigen. Die hölzernen Stufen quiekten beleidigt unter seinen schweren Schritten. Auf der Straße hielt er inne, atmete tief durch. Die Morgendämmerung lag noch über die Stadt. Es war kühl und klar. Schulz setzte sich in seinen Wagen und versuchte, sich vorzustellen, was ihn am Tatort erwartete. Er wusste, es wird wie immer grausam und unbegreiflich sein. Und es wird seine Aufgabe sein, das Grausame sachlich zu betrachten und nach nüchternen Erklärungen für das Unbegreifliche zu suchen.

Langsam näherte sich Schulz dem Tatort. Er parkte direkt hinter dem alten VW Golf seines Kollegen Martin Dietz. Als ich noch jung und schlank war, war ich immer der Erste. Jetzt sind es die anderen, dachte er.

Schulz und Dietz waren genau diese Gegenteile, die sich anzogen. Dietz war flink, jugendhaft und schnell im Reden. Im Gegensatz zu ihm war Schulz groß, schwer und langsam. Wenn Dietz aus dem Auto ausstieg, sprang er heraus, als ob der Autositz unter ihm brannte. Schulz dagegen schien von einem unsichtbaren Wesen festgehalten zu werden, das im Auto saß und noch bekämpft werden musste. Mit dem Kollegen Dietz verband Schulz eigentlich keine richtige Freundschaft, dafür aber eine echte Zuneigung und gegenseitige Anerkennung. Sie hatten auch eine eigenartige Art der Zusammenarbeit: am Anfang schlug jeder seinen eigenen Pfad im Wald der Fakten und Spuren. So entwickelte jeder einen unabhängigen und unbedeckten Blick auf den Fall, ohne einander zu beeinflussen. Irgendwann trafen sie sich mitten im Dickicht, um nach langem gemeinsamen Überlegen den einzig richtigen Weg zur Lichtung zu finden.

Schulz seufzte tief und befreite sich aus dem Auto. Ein schönes Haus, bestimmt um die vorletzte Jahrhundertwende erbaut. Die gesuchte Wohnung lag im zweiten Stock. Schulz sah den Fahrstuhl, nahm aber widerwillig die Treppe. Er stieß die große weiße Flügeltür an, die leicht nachgab. In der Wohnung arbeiteten bereits Sascha Ehrich und seine Leute von der Spurensicherung. Schulz grüßte kurz und schaute fragend.

„Wo?“

Ehrich machte eine unbestimmte Geste in Richtung der geöffneten Tür. Schulz trat in eine große und helle Küche ein. . Die ersten Sonnenstrahlen drangen bereits durch die heruntergelassenen Jalousien hinein. Schulz registrierte, dass hier vielleicht ein paar Wochen nicht geputzt wurde. Ungewaschene Kaffeetassen, schmutzige Teller, leere und halbleere Weingläser stapelten sich auf dem großen Küchentisch. Bier- und Wodkaflaschen, zwei Aschenbecher voll mit Zigarettenkippen. Dietz zog sich gerade die Gummischuhe über.

„Morgen, Kollege. Womit haben wir es hier zu tun?“

Dietz nickte und starrte irgendetwas an, was sich direkt hinter Schulz zu befinden schien.

„Morgen. Da, hinter dir“.

Schulz drehte sich um und zuckte unwillkürlich zurück. Auf dem Boden in der Nische hinter einem großen Kühlschrank saß, der Kopf nach vorne gebeugt, ein junger Mann. Seine Beine waren komisch verdreht, als hätte er versucht, so wenig Platz wie möglich einzunehmen. Sein T-Shirt war braun vor Blut. Durch den Staub auf dem Boden zog sich vom Fenster quer durch die Küche eine Spur. Langsam beugte sich Schulz zum Toten, der wie verwundert auf den Boden in die Blutlache starrte. Er soll am Fenster getötet worden sein, schoss es Schulz durch den Kopf. Jemand hat ihn dann bis zur Stelle geschleift, wo er sich befand. Aber warum? Wollte man den Toten verstecken? Schulz ging zur Türöffnung. Aus dieser Perspektive war der Tote tatsächlich nicht gleich zu sehen.

Jetzt merkte Schulz, dass die Blutspuren am Boden der Küche mit großer Sorgfalt verwischt worden sind. Der Mörder könnte damit nur eins bezweckt haben: der Tote sollte nicht so schnell entdeckt werden. Was hat das alles zu bedeuten?

In seinem Berufsleben hatte Kommissar Schulz schon viele Tote gesehen. Doch die erhebliche Brutalität, mit der man hier zu Werke gegangen war, machte ihn fassungslos. Was könnte hier das Motiv sein? Rache oder Eifersucht? Schulz wusste; jeder Mörder, bewusst oder unbewusst, hinterließ eine Botschaft. Um diesen Fall aufzuklären, sollte man sie entschlüsseln. Wo fangen wir an? Schulz begann, auf und ab zu gehen und Fragen zu stellen.

„Wissen wir schon, wer das ist?“

Dietz ging heraus, kurz darauf kehrte er zurück. In einer Hand hielt er einen Personalausweis. Er betrachtete ihn aufmerksam, dann reichte er ihn Schulz. Seine Miene war finster.

„Max Huber, vierundzwanzig Jahre alt, er hat die Wohnung gemietet“.

Schulz schaute sich das Passbild an. Ein junger Mann mit schönen Gesichtszügen, voller Haarpracht und einer Brille mit dunklem auffälligen Gestell lächelte kaum bemerkbar in die Kamera. Nicht wirklich aussagekräftig, wie die Passbilder eben sind.

„Die Todesursache ist uns bereits bekannt, nehme ich an?“

„Erstochen. Zwei Stiche, der erste in den Rücken, der zweite direkt ins Herz“.

Die letzten Worte von Dietz schienen für Schulz eine besondere Bedeutung zu haben, er konnte aber noch nicht sagen, welche. Er holte seinen Notizblock, suchte eine leere Seite und schrieb mit großen Buchstaben in die Mitte „Direkt ins Herz“, überlegte kurz und machte einen fetten Kreis herum. Dann näherte er sich dem Toten und blieb nachdenklich vor ihm stehen.

„Verstehe ich dich richtig, dass er es noch geschafft hat, sich umzudrehen, bevor er den zweiten Stich abbekommen hat?“

Dietz nickte und wandte sich auch dem Toten zu.

„Ich denke so. Er müsste dem Mörder praktisch in die Augen geschaut haben.“

Schulz blickte suchend nach jemandem von der Spurensicherung und entdeckte einen Techniker, der systematisch die Wandschränke untersuchte.

„Kennen wir schon den Todeszeitpunkt?“

„Vorläufig zwischen ein und drei Uhr. Genauer geht es jetzt nicht. Wir werden uns mit dem Bericht beeilen.“

Schulz nickte. Er wusste, die Spurensicherung tat ihr Mögliches, mehr war da nicht herauszuholen. Fragend schaute er Dietz an, der sich mit dem Rücken zum Fenster stellte und den Toten betrachtete.

„Was noch von der Interesse ist: Max Huber hat gestern Abend eine wilde Party geschmissen. Die Nachbarin, die hinter der Wand ihr Schlafzimmer hat, rief sogar die Polizei“.

Schulz zog die wuscheligen Augenbrauen nach oben. Seine kleinen, aber ausdrucksvollen Augen schauten Dietz interessiert an.

„Und? War die Polizei da?“

„Klar, waren sie da.“

„Weisst du was, wir brauchen dringend den Polizeibericht. Der könnte uns auf jeden Fall weiterbringen. Wer hat den Toten überhaupt gefunden?“

Dietz machte eine Handbewegung in Richtung des Korridors.

„Seine Freundin, Alexandra Keller. Sie kam von der Nachtschicht und alarmierte die Polizei“.

Schulz war verwundert.

„Fand die Party ohne ihre Beteiligung statt?“

„So sagte sie es. Sie wartet übrigens noch im Wohnzimmer, da links.“

Schulz ging in den Korridor. Er schaute nach links durch eine halb geöffnete Tür und entdeckte eine junge Frau, die nach vorne gebeugt auf der Couch saß. Sie stützte die Ellenbogen auf die Beine, das Gesicht verdeckte sie mit den Händen. Schulze trat ein und betrachtete das Mädchen. Sie nahm die Bewegung wahr und richtete sich auf. Schulz versuchte, diesen Moment festzuhalten. Es war ihm unglaublich wichtig.

Das Mädchen war dünn. Ihre Haut und Haare schienen grau zu sein. Als sie ihren Blick fragend an den Kommissar richtete, stellte er fest, dass auch die großen runden Augen grau waren. Und, obwohl sie nicht weinte, drückten diese Augen ein grenzenloses Leid aus. Aus Erfahrung wusste Schulz, dass der erste Eindruck häufig der einzig richtige war. So sehen Mörder nicht aus, abgesehen davon, sie wären gute Schauspieler, dachte er.

Schulz stellte sich vor und ließ sich schwer in einem Sessel nieder. Er schwieg, da er nicht wusste, wie er das Gespräch anfangen sollte. Das Mädchen tat ihm leid. Sie brauchte dringend jemanden, der ihr eine Schulter zum Ausweinen bereithielt, doch für Schulz kam diese Rolle nicht infrage. Er war Profi genug, um seine Aufgaben nicht aus den Augen zu verlieren. Bleib distanziert und sachlich, befahl er sich. Er räusperte sich und fuhr fort.

„Ich weiß, es ist ein schwerer Moment für Sie, trotzdem muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir können leider nicht warten“.

Sie nickte ergeben und schaute zu Boden.

„Wie heißen Sie?“

„Alexandra Keller“. Ihre Stimme klang unerwartet stark.

„In welchem Verhältnis standen Sie zum Ermordeten?“

„Wir haben uns geliebt“.

Die Antwort war bestimmt und kam sehr schnell. Schulz notierte eine kaum wahrnehmbare Änderung in der Stimme des Mädchens.

„Haben sie hier gewohnt?“

„Nein, ich miete ein kleines Appartement in der Nähe des Krankenhauses, in dem ich arbeite. So bin ich nach einer Nachtschicht schnell zuhause“.

Ich habe dich gar nicht gefragt, warum ihr getrennt wohnt, du hast aber gleich eine Erklärung abgeliefert, registrierte Schulz. Er überlegte kurz, was das alles zu bedeuten hatte. Zwei liebende Menschen leben getrennt voneinander und feiern getrennte Partys. Irgendwie komisch, selbst wenn es auf den ersten Blick modern erschien. Und jetzt ist einer von diesen Menschen tot.

„Als was arbeiten Sie?“

„Ich bin Stationskrankenschwester in der Psychiatrie“.

„Warum sind sie heute hierhergekommen?“

Schulz betrachtete das Mädchen sehr aufmerksam, es blieb ihm nicht verborgen, dass sie eine Weile nach der passenden Antwort suchte.

„Ich weiß nicht“, schwieg sie eine Weile. „Ich hatte ein ungutes Gefühl“. Der Eindruck, dass es nicht die ganze Wahrheit war, stellte sich ein. Das stimmte nicht, dachte Schulz. Du wolltest wissen, mit wem Max sich hier herumtrieb. Er schwieg eine Weile und überlegte, in welche Richtung er die Befragung lenken sollte. Er beschloss dann, sich einfach weiter vorsichtig in das Gespräch hineinzutasten; in der Hoffnung, dass der entscheidende Hinweis an der Oberfläche auftaucht.

„Wussten Sie, dass Max Huber Gäste hatte?“

Es kostete sie sichtlich Überwindung, diese Frage zu beantworten.

„Ja, er hat oft gefeiert.“

„Wissen Sie, wer gestern da war?“

„Ich habe da eine Vermutung.“

„Schreiben Sie mir bitte alle Namen auf, die Ihnen einfallen.“

Schulz riss ein Blatt Papier aus seinem Notizblock und reichte es Alexandra Keller.

Sie schrieb etwas auf, ohne zu überlegen, und gab das Blatt zurück. Dort standen drei Namen:

Stephan Faust

Uwe Farr

Tom Lange.

Der letzte Name war zweimal unterstrichen. Schulz schaute das Mädchen fragend an.

„Er war sein bester Freund. Darf ich jetzt gehen?“

Schulz beugte sich nach vorne, faltete seine Hände zusammen und schaute dem Mädchen direkt in die Augen, ruhig und durchdringend. Er wollte, dass ihr gleich klar wurde: die unangenehmsten Fragen kommen noch.

„Ich muss noch einiges klären. Erzählen Sie mir bitte, wie Sie Max Huber heute früh gefunden haben.“

Das Mädchen hielt inne und schien aufgehört haben zu atmen. Unter strengem Blick von Schulz schluckte krampfartig und fasste sich allmählich.

„Ich kam von der Nachtschicht, ich habe meinen eigenen Schlüssel. Ich wusch mir die Hände und ging in das Schlafzimmer, um mich kurz hinzulegen. Ich war verwundert, dass Max nicht im Bett war. In diesem Moment spürte ich eine Leere. Verstehen Sie mich?“

Sie machte eine Pause, ihre Augen bewegten sich suchend, als ob die passenden Worte irgendwo auf der Wand geschrieben stünden.

Sie gab auf, ließ den Blick sinken und schloss die Hände zu einem festen, schmerzenden Knoten zusammen.

„Ich spürte gleich, er ist nicht da. Er ist nicht mehr da.“ Ihre Stimme zitterte.

Schulz schwieg. Das Gefühl der Leere, das ein naher Mensch nach seinem Tod hinterlässt, war ihm sehr gut vertraut. Wie ein Stück Boden nach einem Brand, wo zuerst kein Gras wachsen will, fühlt sich die Seele an. Kahl und verlassen.

„Was haben Sie dann getan?“ fragte Schulz leise.

„Ich ging in die Küche und sah ihn. Hinter dem Kühlschrank.“

„Was ist Ihrer Meinung nach passiert?“

Das Mädchen begann zu schluchzen, ihre Augen füllten sich mit Tränen, die langsam die Wangen herunter rollten.

„Jemand hat ihn ermordet.“

„Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?“

„Nein“.

„Hatte Max Huber Feinde?“

„Nein. Soweit ich weiß.“

Klang nicht sehr überzeugend. Vermutlich weißt du mehr, aber aus irgendeinem Grund behältst du die Wahrheit für dich, das merken wir uns, dachte Schulz. Er beschloss, nicht weiter in diese Richtung zu graben und das Thema zu wechseln.

„Wie war Ihr Verhältnis zu Max Huber?“

Die Frage war sehr direkt, Schulz spürte, wie das Mädchen zusammenzuckte. Sie schwieg. Schulz dachte, dass sie in diesem Moment sehr allein und verlassen aussah. Die Antwort war kurz.

„Kompliziert.“

Sie schauten einander an, als ob es beiden erst jetzt klar geworden war, dass sie nicht nur als Zeugin befragt wurde.

„Was war denn so kompliziert an Ihrer Beziehung?“

„Max wollte seine Freiheiten haben. Er hatte auch viele flüchtige Bekanntschaften.“

Sie schaute gequält zur Seite. Schulz merkte, dass ihr alles zu viel war.

„Ich muss Ihnen folgende Frage stellen: wo waren Sie heute früh zwischen 1 und 3 Uhr?“

Sie schien irritiert zu sein. „Ich habe ihn nicht getötet. Ich habe ihn geliebt“.

Ihre Stimme klang nicht mehr fest, nur heiser und müde.

„Beantworten Sie bitte die Frage, mehr nicht“.

Sie schien verärgert zu sein.

„Ich habe bereits gesagt, ich hatte Nachtschicht“, antwortete sie trotzig

„Gibt es jemanden, der es bezeugen kann?“

„Natürlich, meine Kollegen und Patienten“.

„Gehen Sie bitte durch die Wohnung und schauen Sie sich um. Vielleicht bemerken Sie, ob etwas fehlt.“

Sie stand auf und machte ein paar unsichere Schritte. Schulz wurde bewusst, wie schmerzhaft es für sie sein musste, das Ganze aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Sie kreiste geräuschlos in der Wohnung herum und kehrte zurück.

„Es fehlt nichts.“

„Sollte Ihnen noch etwas einfallen, so können Sie mich jederzeit anrufen. Ansonsten melde ich mich in ein paar Tagen bei Ihnen“.

Als sie gegangen war, zog Schulz seinen Notizblock, schlug die Seite mit der Aufschrift „Direkt ins Herz“ auf und schrieb „Alexandra Keller“ und „Eifersucht“ darüber. Dann richtete er sich auf und fing an, sich im Zimmer umzuschauen. Es wies einen gewissen Chic auf, den man von einer Studentenwohnung nicht unbedingt erwarten würde. Ein Kamin aus weißem Marmor. Eine große Couch und zwei Sessel aus dunkelbraunem Leder. Eine hochmoderne Stereoanlage. Ein Schrank mit wertvollen Gläsern. Abstrakte Bilder an den Wänden. Am Kamin blieb Schulz stehen. Er merkte gleich: der Kamin wurde erst vor kurzem benutzt. Schulz ging in die Hocke, schob die Glasscheibe nach oben, nahm eine massive, kunstvoll geschmiedete Gabel, die gerade zur Hand war, und wühlte die Asche vorsichtig durch. In der entferntesten Ecke stieß die Gabel auf etwas Hartes. Schulz kniete sich schwerfällig hin, streckte die Hand nach vorne und fischte ein kleines, geschmolzenes Stück Aluminium heraus. Er drehte es herum. Ein vergilbter, von allen Seiten abgebrannter Papierfetzen klebte noch an dem Metallklumpen. Schulz hob vorsichtig diesen Fetzen ab. Er sah nach einem aus einem Terminplaner ausgerissenen Blatt aus, das voller Kritzeleien war. Schulz setzte die Brille auf. Zwei Buchstaben und vier Zahlen waren deutlich zu erkennen: EK 3200. Was könnte das sein? Eine Nummer? Warum sollte das Blatt verbrannt werden? Was hatte dieses Stück Aluminium zu bedeuten? Fragen über Fragen. Schulz packte seine Funde vorsichtig ein und ging in den Korridor zurück.

Das nächste Zimmer auf der linken Seite war das Arbeitszimmer. Hier herrschte die absolute Ordnung. Ein Schreibtisch mit einem großen Ledersessel, mehrere Bücherregale und eine weiche Couch. Schulz näherte sich dem Schreibtisch und zog langsam eine Schublade nach der anderen heraus. Einige Rechnungen, sorgfältig eingeheftete Kontoauszüge, einen Stapel Papier, verschiedene Quittungen. Schulz schaute sich die oberste an. Restaurant „Dolce Vita“, 2 Cozze Vino Bianco, 2 Saltinbocca, 1 Montepulciano 0,5 l. Alles in allem 78 Euro. Alles aufgegessen und ausgetrunken vor eine Woche. Nicht schlecht ist es, das Studentenleben, dachte Schulz.

Weiter fand er eine Mappe mit Schulzeugnissen. Er schlug sie auf, blätterte vorsichtig darin. Max Huber war kein schlechter Schüler. Besonders gut war er in Mathematik und Physik. Sein Deutsch war eher mittelmäßig. Schulz kniete sich schwerfällig hin und schaute unter den Tisch. Ein Papierkorb, bereits entleert.

Als Schulz versuchte, sich aufzurichten, wurde es ihm gleich schwarz vor den Augen. Er hielt sich an der Tischkante fest und wartete ab, bis die schwarzen Fliegen weggeflogen waren. Sein Blick wandelte zu den Büchern in den Regalen. Schulz zog ein Buch nach dem anderen heraus. Ausschließlich naturwissenschaftliche Fachbücher, Lehrbücher für Informatik und Reiseführer. Trocken, dachte Schulz, nichts für die Seele. Das aufgeräumte Arbeitszimmer bildete ein gewisses Gegenteil zu dem Chaos der übrigen durchgewühlten Wohnung.

Schulz schloss die Augen und versuchte seine Eindrücke wahrzunehmen. Kurz darauf gab er auf: alles war noch zu undeutlich, nichts Brauchbares. Ein Gefühl der inneren Unruhe stellte sich ein. Er hat jetzt fast die ganze Wohnung durchsucht und nichts von Bedeutung gefunden, abgesehen von dem Metallklumpen. Der Mensch Max Huber ist für ihn nicht klarer geworden. Er war und blieb nur ein blasser Schatten.

Schulz beschloss zu warten, bis die Spurensicherung abgeschlossen war. Er wollte allein in der Wohnung bleiben. Er musste sich selbst einen Eindruck verschaffen, was für eine Persönlichkeit dieser Max Huber war. Er ging zurück in die Küche. Die Leiche war bereits abtransportiert worden, nur die Blutlache blieb. Schulz spürte einen leichten Stich in seiner Herzgegend. Das geht nicht spurlos an mir vorbei, dachte er.

Er drehte den Wasserhahn auf, beugte sich nach vorne und ließ sich den Wasserstrahl in den Mund laufen. Er trank genüsslich und machte große Schlucke. Danach wischte er sein Gesicht mit einem Taschentuch ab und setzte sich an den Tisch. Er versuchte zum zweiten Mal die Gedanken, die in seinem Kopf herumschwirrten, in Ordnung zu bringen. Ein junger Mann wird mitten während einer Party ermordet. Der Mörder versucht, ihn vorerst zu verstecken. Was bedeutet das? Die Absicht des Mörders war, dass seine Tat zumindest nicht gleich aufgedeckt werden würde. Sollte es heißen, dass einige Partygäste nichts von dem Mord mitbekommen haben? Davon kann man ausgehen. Ist das überhaupt möglich? Schulz zweifelte. Die auf den ersten Blick verschwenderische Lebensweise des Ermordeten war Schulz auch ein Rätsel. Und schließlich, die Frage, wie glaubwürdig die Aussagen von Alexandra Keller waren, konnte Schulz ebenfalls nicht mit Sicherheit beantworten. War sie in den Mord verwickelt? Wusste sie mehr, als sie sagte? Ich suche weiter, dachte er, ich finde es heraus.

Er kehrte in den Korridor zurück. An der Eingangstür blieb er eine Weile stehen. Durch diese Tür kamen die Gäste, der Mörder auch. Schulz stellte sich vor, wie eine Schar lärmender Jugendlicher sich in die Wohnung stürzte. Ein dunkler Schatten schlich hinterher. Der Schatten blieb vor der Tür stehen und holte langsam ein langes Messer. Stopp. Einige Fragen gingen Schulz durch den Kopf. Wartete der Mörder im Korridor auf Max Huber? Versuchte er, ihn aus dem Wohnzimmer zu locken? Hat er auf ihn in der Küche gewartet? Und was noch wichtiger war: wurde Huber von einem Gast ermordet? Von mehreren? Oder von jemandem, der uneingeladen kam? Das Gefühl, dass an diesem Punkt etwas nicht stimmte, nicht zusammenpasste, stellte sich ein. Schulz schloss die Augen und versuchte zu erklären, was ihn so sehr verunsicherte. Er wusste es gleich: der Mörder wählte den denkbar schlechtesten Zeitpunkt für seine Tat, er war mit seinem Opfer nicht allein. Gab es dafür eine Erklärung? Entweder handelte der Täter spontan und im Affekt, oder die anderen Gäste waren in den Mord verwickelt. Eine andere Erklärung konnte es einfach nicht geben.

Schulz fing an, sich durch einen dunklen langen Korridor nach vorn zu bewegen.

Vor der Tür zum Schlafzimmer blieb er eine Weile stehen. Er wusste nicht, wonach er suchte. Er hoffte aber sehr, dass diese letzte Tür etwas Entscheidendes hinter sich verbarg. Im Schlaf ist man am ehrlichsten, dachte Schulz. Er drückte die Türklinke.

Was er zuerst sah, war ein riesiges, hohes Ehebett, das auf einem dicken hellen Teppich stand. Nanu, haben wir es hier mit der Prinzessin auf der Erbse zu tun, dachte Schulz, die durch zwanzig Matratzen und zwanzig Eiderdaunenbetten die kleine Erbse gespürt hatte. Und das nicht überlebte. Die böse Metapher gefiel Schulz, doch er schämte sich gleich für seinen Einfall.

Was sollte man von einem jungen Mann halten, der so sehr den Luxus schätzte? Schulz spürte, dass das Mordopfer ihm zunehmend unsympathischer wurde. Er konnte diese genussorientierten, verwöhnten, hochnäsigen jungen Bengel nicht ausstehen. Das Geld, das sie mit beiden Händen zum Fenster hinausschmeißen, konnten sie nicht selbst verdient haben. Das war der wichtige Punkt, ganz genau. Die weit wesentlichere Frage lag an der Oberfläche: woher nahm Max Huber die finanziellen Mittel, um so ein unbeschwertes Leben zu führen? Das finden wir heraus, aber jetzt gehen wir weiter, sagte Schulz zu sich selbst.

Er drehte sich um und erschrak. So unerwartet war das, was er sah. In einer Nische, etwas versteckt, stand ein alter Buffetschrank aus schwarzem Holz. Der war bestimmt mehrere Jahrhunderte alt. Der Schrank war von oben bis unten mit Holzverzierungen und üppigen Schnitzereien geschmückt. Die stellten Monsterköpfe mit den verschiedenen Grimassen dar: mal waren sie wütend, mal hämisch, mal wild und abschreckend. Die ganze Pracht ruhte auf drei geschnitzten Füßen aus Löwenköpfen mit geöffneten Mäulern und zwei Pfoten rechts und links. Zwei massive Kassettentüren zeigten nichtsahnende dicken Putten, die von Monstern mit wutverzerrten Fratzen und weit aufgerissenen Mäulern im nächsten Moment verschluckt werden sollten.

Über den Türen befanden sich zwei schmale Schubladen, die von einem weiteren Monsterkopf, einem einäugigen Zyklopen, getrennt wurden. Die Oberteile des Buffets schlossen über einem breiten Fries jeweils mit einem feuerspeienden Drachenkopf. Dazwischen, als die Krönung des Ganzen, stand auf Bockhufen ein Satyr. Er schien in einer Art leichter Vorbeugung erstarrt zu sein. Sein lockiger Kopf wurde von Hörnern geschmückt.

Schulz hob den Kopf, um der Figur ins Gesicht zu schauen und fuhr unwillkürlich zusammen. Boshaft und unheimlich lächelte der Satyr, seine Gesichtszüge waren auf eine wunderliche Weise menschlich und tierisch zugleich. Das Merkwürdigste daran aber war, das seine Fratze kreidebleich war. Dies bildete einen fürchterlichen Kontrast zu dem ganz dunklen Schrank.

Schulz machte einen Schritt zurück. Aus der anderen Perspektive zeigte sich der Schrank noch bedrohlicher als aus der Nähe. Dieses in Holz geschnitztes Übel schrie und heulte aus jedem Monsterkopf. Der Schnitzer sollte ganz schön vom Leben enttäuscht gewesen sein, dachte Schulz. Als ob er all seine Wut und Verbitterung in dem Schrank verkörpern wollte. Nicht unbedingt ein Objekt für das Schlafzimmer, abgesehen davon, man hat gerne Alpträume.

Schulz holte sein Handy heraus und nahm den Schrank von allen Seiten auf. Vorsichtig, als ob er erwarten würde, gebissen zu werden, öffnete er eine der Türen. Was er da sah, war nicht außergewöhnlich. Einen Schuhkarton voll alten schwarzen Tafelsilbers. Schulz suchte weiter. Alte üppige Sammeltassen, einige Döschen aus Glas, eine alte Brille mit goldenem Gestell. Die nächste Schublade enthielt schwarz-weiße, vergilbte Fotos. Fast alle Bilder zeigten die gleiche Frau. Einmal lehnte sie sich an eine Steinklippe am Strand, dann umarmte sie einen blühenden Kirschbaum. Sie hatte wunderschöne Locken, die ein liebliches Gesicht umrahmten. Man sah ihr an, dass sie gerne posierte. Jedes Foto schien sorgfältig arrangiert zu sein. Sie war mal nachdenklich, mal fröhlich, aber immer photogen. Auf einem Bild saß sie zwischen zwei anderen jungen Damen auf einer Parkbank. Alle drei trugen Kleider mit Pünktchen, sie lächelten in die Kamera. Schulz drehte das Foto um. Ein Datum: 18.08.1947, mit Bleistift gekritzelt. Das sollte die Besitzerin des gesamten Nachlasses sein, dachte er, wahrscheinlich ist sie bereits tot. Wie Max Huber. Aber was hat das alles zu bedeuten, fragte sich Schulz. Ein Sammelsurium von altem Gerümpel in einem unheimlichen Schrank einer Studentenwohnung. Schulz spürte ein Unbehagen. Er beschloss, seine Untersuchung zu unterbrechen.

Er ging auf die Straße. Er war unruhig und spürte einen leichten Schwindel. Ich muss endlich etwas gegen meinen Bluthochdruck unternehmen. Allein das Treppensteigen reicht offensichtlich nicht aus, dachte Schulz. In sich gekehrt ging er um den Häuserblock herum und dachte nach.

In seinem ganzen Leben hatte Schulz noch keine ähnliche Wohnung gesehen, die so wenig über ihren Besitzer aussagte. Er überlegte eine Weile, was dahinter stecken könnte. Plötzlich wusste er, was ihn beunruhigte. In dieser hellen Welt von weichen Teppichen und phantasievollen Bildern an den Wänden wird nicht mit einem Küchenmesser gemordet. Diese Wohnung und alles, was er von einem Studenten namens Max Huber erwartet hätte, passten überhaupt nicht zusammen. Was könnte die Erklärung dafür sein? Ein Doppelleben? Gab es vielleicht irgendwo auf der Welt einen anderen Ort, an dem Huber zuhause war? Schulz nahm seinen Notizblock aus der Jackentasche, rechts neben die Aufschrift „Alexandra Keller“ schrieb er mit fetten Buchstaben „Doppelleben“, überlegte kurz und setzte ein großes Fragezeichen dahinter.

Der weiße Dämon

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