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1. Juni 2010, 10.30 Uhr, Tom Lange
ОглавлениеSchulz parkte vor einem unauffälligen, weißen Reihenhaus, mühte sich aus dem Auto heraus und betätigte die Klingel. Er wartete nicht lange. Die Tür ging auf, ein junger, blonder, kräftiger Mann lächelte den Kommissar freundlich und selbstbewusst an. Schulz fielen zwei Reihen gesunder weißer Zähne auf. Soviel zum ersten Eindruck, dachte er. Da der Junge den Kommissar fragend anschaute und sich nicht vom Fleck rührte, übernahm Schulz die Initiative. Er stellte sich vor und machte eine entschiedene Bewegung, die unmissverständlich verdeutlichte, dass er hinein will. Der junge Mann ging zur Seite und ließ ihn durch. Sein Lächeln war inzwischen verschwunden, er wirkte angespannt und gleich um Jahre älter geworden.
„Sind Sie Tom Lange?“
Der junge Mann nickte. Schulz meinte, einen leichten Anflug von Panik gespürt zu haben. Er war schon sehr lange im Geschäft. Er war sich sicher, dass in bestimmten Situationen selbst die Luft sprechen konnte und jede Menge Informationen übertrug.
Tom Lange stand unentschlossen da. Schulz kullerte mit den Augen in Richtung Sessel.
„Darf ich?“
„Natürlich“, Tom Lange war gezwungen, sich auch hinzusetzen. Den Rücken hielt er kerzengerade, die Hände legte er flach auf die Knie. Er gab sich Mühe, nicht die Fassung zu verlieren, doch man sah ihm an, dass er sich sehr ungemütlich fühlte.
„Kennen Sie Max Huber?“, Schulz fing jeden Atemzug seines Gegenübers auf.
„Ja, ich kenne Ihn“.
Die zweite Welle der Panik war so deutlich zu spüren, dass Schulz kurz überlegte, ob er die Handschellen holen soll. Doch er beherrschte sich.
„Er wurde heute früh ermordet“.
Die Verwirrung auf dem Gesicht des Jungen war echt. Ob wegen der schlechten Nachricht oder vor der Sorge, in einer sehr unangenehmen Situation mittendrin zu stecken. Er sagte nichts. Schulz wartete ab, Tom Lange schaute zum Boden und schwieg.
„Sie waren doch heute Nacht bei ihm in der Wohnung, nicht wahr?“
Tom Lange nickte. Es gelang ihm nicht, seine Aufregung unter Kontrolle zu bekommen. Seine Lippen zitterten, die Augen signalisierten pure Angst, was Schulz an den Blick eines Hundes erinnerte, der gerade geschlagen wurde und noch nicht wusste, ob das Schlimmste schon vorbei war oder noch bevorstand.
Schulz schaute Tom Lange ernst an und nahm einen Notizblock aus der Tasche.
„Erzählen sie mir alles, was da passiert war.“
„Wir kamen so gegen 22.00 Uhr zu Max.“
„Wer – wir?“
„Ich, Stephan Faust und Jenny Radowski“.
„Wer sind die Beiden?“
„Max und wir drei waren in einer Schulklasse“.
Schulz griff zu seinem Notizblock, notierte etwas darin und gab seinem Gesprächspartner zu verstehen, dass er auf eine Fortsetzung wartete. Tom Lange fing sich allmählich und erzählte weiter.
„Wir wollten ein bisschen feiern, trinken, Musik hören. Bei Max war das alles möglich. Keine nervenden Eltern, die Krankenschwester hatte Nachtschicht.“
„Was für eine Krankenschwester?“ Die wuscheligen Augenbrauen hoben sich leicht.
„Na, seine Freundin, Alex.“
„War sie eifersüchtig?“
„Und wie! Sie konnte mitten in eine Party platzen und alles trockenlegen. Sie wollte immer wissen, mit wem Max gerade zusammen war. Nicht selten haben sie sich deswegen gestritten. Ich hatte den Eindruck, dass es ihm langsam zu viel wurde, aber er brachte es irgendwie nicht fertig, Schluss zu machen. Und dann noch diese Geschichte mit Jenny…“
„Was für eine Geschichte?“
Schulz konnte nicht durchschauen, ob das, was ihm erzählt wurde, tatsächlich wichtig war oder nur dafür ausgegeben wurde. Außerdem machte er sich Sorgen, dass das Gespräch außer Kontrolle zu geraten drohte.
„Jenny und Max fühlten sich offensichtlich voneinander angezogen. Vor einem Monat kamen sie sich näher und wurden von der Krankenschwester überrascht. Es gab einen Riesenkrach. Max musste schwören, dass Jenny nie wieder über die Türschwelle kommen würde.“
„Aber sie ist gestern trotzdem gekommen“.
„Ja. Sie war der Meinung, dass die Beziehung zwischen Max und Alex nicht mehr zu retten ist“.
„Erzählen Sie bitte weiter“. Schulz klopfte leicht mit den Fingern gegen die Armlehne. Die plötzliche Gesprächsbereitschaft des jungen Mannes machte ihm Sorgen. Genauso wie sein freundliches Lächeln, das wieder auf seinem Gesicht strahlte.
„Etwas später kam Uwe mit seiner Freundin Gabi. Uwe studierte Informatik genau wie Max. Wir tranken etwas. Max verkündete, dass die Krankenschwester zur Nachtschicht war und man nichts zu befürchten hatte. Dafür gab es extra Wodka für jeden. Max spielte Gitarre und sang. Wir redeten über Geld und Ruhm. Über die Zukunft. Max meinte, als Informatiker hätte er gute Karten in Sachen Arbeit“.
„Was passierte dann? Gab es Streit?“
Tom Lange zögerte. Es sah so aus, als ob er nach den passenden Wörtern suchen würde. Oder vielleicht überlegte, wie er die Wahrheit verbergen konnte.
„Nein, eigentlich nicht. Wir tranken viel, bestimmt wurden wir immer lauter. Dann hatte jemand die Idee, auf dem Balkon zu singen. Wir gingen auf den Balkon. Die Mädchen saßen am Tisch, wir sangen Serenaden. Je lauter, desto besser. Was weiter passierte, weiß ich nicht mehr. Ich war betrunken. Keine Ahnung, wie ich nach Hause kam.“
„War noch jemand in der Wohnung?“
„Soweit ich weiß, nein“, sagte Tom Lange zögernd.
Schulz horchte auf. Die Antwort war komisch. Als ob er wusste, dass er etwas nicht wissen sollte, ja sogar durfte.
„Wie soll ich das verstehen?“
„Na, ich war betrunken, habe vielleicht nicht alles mitgekriegt. Bei Max war es immer so, dass alle kamen und gingen, wann sie wollten.“
Er log, es war eindeutig.
„Wann haben Sie Max Huber zum letzten Mal gesehen?“
Die große Bedeutung der Frage lag in der Luft. Schulz registrierte, dass Tom Lange sich viel Zeit ließ, um nachzudenken.
„Genau kann ich es nicht sagen. Ich war sehr betrunken. Ich weiß nur, dass es einen Anruf auf dem Handy von Max war. Er ging in die Wohnung hinein. Ich glaube, seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich habe ihn nicht umgebracht“.
Der letzte Satz klang leise, aber mit Betonung. Was aber wichtiger war, dass der Satz saß, als ob man ihn stundenlang vor dem Spiegel geübt hätte. Die Zeit anzugreifen war gekommen.
„Ich hoffe, Sie sind es sich im Klaren darüber, dass Sie dem Kreis der dringend Tatverdächtigen angehören?“
Das freundliche Lächeln auf Toms Gesicht verschwand blitzartig. Er schaute den Kommissar angriffslustig an.
„Sie werden nicht nachweisen können, dass ich es war.“
Schulz war er es gewöhnt, diesen Satz zu hören. Und trotzdem regte er sich jedes Mal aufs Neue auf.
„Und, waren Sie es?“
Tom schaute zur Seite.
„Ich sage kein Wort mehr“.
„Zu schade. Ich bin gezwungen, Sie zu einem offiziellen Verhör einzuladen.“
„Aber bitte“.
„Morgen um 11.00 Uhr im Polizeipräsidium.“
Schulz stand auf. Er war verärgert. Tom Lange hatte Recht. Ihm den Mord nachzuweisen war zu diesem Zeitpunkt genauso schwer, wie an seine Unwissenheit zu glauben.
„Wir werden diesen Mord aufklären, seien Sie beruhigt“.
Schulz ging, ohne sich zu verabschieden. Tom Lange wusste bestimmt mehr, als er gesagt hatte, aber da war etwas Wichtigeres dabei. Bei allen Bemühungen, einen guten Schauspieler abzugeben, konnte Tom Lange eines nicht verbergen: er war von dem Besuch von Schulz nicht überrascht. Dafür gab es nur eine einzige Erklärung: er wusste bereits vorher, dass Max Huber tot ist.