Читать книгу Der weiße Dämon - Maja Kern - Страница 8
Sigrid Wendl
ОглавлениеSigrid schaute auf die Uhr: sie musste los. Egal, wie verständnisvoll der Chef war, die Kunden dürfen nicht warten. Das kleine Architektenbüro, in dem sie arbeitete, lag in der Stadtmitte. Sigrid nahm die Straßenbahn.
Der Tag war hell und fröhlich. Sigrid beobachtete die Menschen, die sich vor den Straßenbahntüren versammelten, auf den Bahnsteig flossen, um sich dann wieder am Eingang zu quetschen.
„Sie ahnen nicht, wie schnell sich alles ändern kann. Ein Augenblick entscheidet über Glück und Unglück, über Leben und Tod“. Sigrid war verärgert und betrübt zugleich. Was für ein mieser Typ, dieser Max Huber: als er noch lebte, störte er. Und ordentlich zu sterben, ohne andere zu belästigen, gelingt ihm auch nicht, dachte sie. Sigrid grübelte weiter und stellte verwundert fest, dass zu allem, was sie jetzt spürte, sich ein neues komisches Gefühl beimischte. Es war die Schuld. Konnte man sich überhaupt schuldig fühlen, ohne schuldig zu sein? „Ich habe ihn in dieser Nacht mit aller Kraft gehasst und jetzt ist er tot“, dachte sie. „Habe ich dazu beigetragen? Es ist unmöglich. Ich wollte lediglich, dass er leiser wird, dass er mich in Ruhe lässt,“; sie konnte sich selbst nicht überzeugen. “Jetzt wird er mich nie mehr stören“, Sigrid war den Tränen ganz nahe.
Auf der Arbeit war sie unaufmerksam. Sie erledigte ihre Aufgaben automatisch und ohne viel nachzudenken. Als die Kunden abgefertigt waren, hielt Sigrid es nicht mehr aus und rief ihre beste Freundin Mandy an.
„Gehst du mit mir zu Mittag essen? Ich habe Neuigkeiten, nicht gerade erfreuliche“.
„Ist dir etwas passiert? Wieder dieser Daniel?“, Mandy klang beunruhigt.
„Nein, nein, mir geht es gut. Also, kommst du?“
„Klar“.
Mandy war eine unverbesserliche Optimistin. Alles, was passierte, konnte unter keinen Umständen einfach zu schlimm sein, ohne irgendwelche positiven Auswirkungen auf das weitere Leben zu haben. Sie vertrat die Meinung, dass man zuerst sich selbst überzeugen sollte, es werde alles gut. Hatte man das geschafft, fing automatisch ein neues, besseres Leben an. Sigrid fand diese Einstellung primitiv, wenn nicht gar gefährlich. Erstens reichte schon etwas Lebenserfahrung um zu begreifen, dass alles auf gar keinen Fall gut werden könnte. Zweitens, wenn es einem gut ging, dann ging es einem eben gut, und es musste keine Überzeugungsarbeit geleistet werden. War das Gegenteil der Fall, half jedes Autotraining auch nicht mehr weiter.
Abgesehen von dieser Lebenseinstellung gab es zwischen den beiden Freundinnen viele Gemeinsamkeiten. Ihrer Ansicht nach gab es im Leben drei wunderschöne Dinge: gutes Essen, gutes Kino und gute Männer. Vorbei das letzte nicht so eindeutig war. Was hier zuerst gut erschien, konnte unter Umständen in das Gegenteil umschlagen. Wie das eben mit diesem Daniel war.
Er war verrückt nach Sigrid. Blumen, Champagner und romantisches Abendessen bei Kerzenlicht waren für ihn eine Selbstverständlichkeit. Sigrid dachte schon, dass sie das Glück hatte, das zu besitzen, wonach die anderen das ganze Leben suchten. Sie zogen zusammen. Kaum einen Monat danach entpuppte sich Daniel als extrem genussorientiert, faul und egozentrisch. Statt Champagner gab es jetzt nur ein Bierchen vor dem Fernseher, die Blumen wurden durch nicht mehr so frische, überall liegende Socken ersetzt. Mit der Romantik war es vorerst vorbei, und Sigrid hatte große Schwierigkeiten, ihren „Prinzen“ loszuwerden. Als es endlich klappte, war sie überglücklich. Ab und zu wurde Daniel trotzdem aktiv und belästigte Sigrid mit Perspektiven des gemeinsamen Lebens. Manchmal wartete er auf sie im Treppenhaus ihres Hauses.
Als Sigrid sich dem Café um die Ecke näherte, war Mandy bereits da. Ihre blonden Locken erinnerten entfernt an Antennen, die sich nach allen Seiten streckten, um Nachrichten zu empfangen. Sie stand unter Spannung und konnte vor Neugier kaum auf dem Stuhl sitzen.
„Was wolltest du mir erzählen?“
„Weißt du noch, dieser junge Mann, der hinter meiner Schlafzimmerwand wohnte und ständig Lärm machte? Heute Nacht wurde er ermordet,“ schluchzte Sigrid.
Mandy machte große Augen. „Wie spannend! Und du spielst jetzt Miss Marple?“
„Nicht ganz. Ich bekam heute Besuch von einem dicken Kommissar, er wollte alles wissen.“
„Und, was hast du ihm erzählt?“
„Eigentlich nicht viel. Es passierte zwar hinter der Wand, ich habe aber trotzdem nichts mitgekriegt. Keine Todesschreie, keine Schüsse, nichts.“
Sigrid sah, wie enttäuscht ihre Freundin wurde.
„Wie wurde er dann ermordet?“
„Erstochen“.
„Nanu, das war bestimmt eine eifersüchtige Frau“.
„Kann sein, natürlich. Ich hoffe, es wird bald aufgeklärt. Ich fühle mich nicht besonders gut.“
„Warum das denn? Schau mal, welche Vorteile diese Lage mit sich bringt. Erstens, es gibt vorerst keinen Lärm, zweitens, du hilfst bei der Aufklärung eines Verbrechens, drittens, es kann sein, dass dein neuer Nachbar wesentlich netter sein wird und, wer weiß, vielleicht…“
„Ach, lass das. Jemand stirbt und du machst Scherze. “
Sigrid war über die Reaktion von Mandy sehr enttäuscht. Nur pure Neugier, kein bisschen Mitleid. Typisch Journalistin!
„Jetzt bist du gekränkt. Dabei wollte ich nur, dass du auf andere Gedanken kommst, die Sache positiv betrachtest und …“
„Schon gut, ich bin nicht gekränkt, nur etwas müde und traurig. Es wird schon wieder. Weißt du, was ich nicht verstehe? Die Wohnung war voller Jugendlicher … Waren sie alle … haben sie alle …? Verstehst du mich?“
Sigrid konnte den Satz nicht beenden: ihr wurde übel von dem Einfall. Sie schaute Mandy ängstlich an, die es offenbar auch begriffen hatte: ihre Miene wurde ernst.
„Du meinst, es sieht wie eine Hinrichtung aus?“
Sigrid nickte. Mandy sprach das Unaussprechliche aus.
„Es ist natürlich nichts auszuschließen. Aber vielleicht findet sich eine ganz nüchterne Erklärung dafür. Hältst du mich auf dem Laufenden?“
„Klar“, Sigrid war erleichtert, dass die Mittagspause zu Ende war.
„Mach dir nicht so viele Gedanken. Vielleicht hat er das Ganze ja verdient“.
Obwohl es Mandy gelang, die Stimmung etwas aufzuheitern, war der Tag trotzdem gelaufen. Die letzten Arbeitsstunden zogen sich hoffnungslos hinaus. Sigrid war beinahe erstaunt, als sich der Tag doch seinem Ende neigte. Abgeschlagen und müde schleppte sie sich nach Hause. Egal, was sie machte, all ihre Gedanken kreisten um den Mordfall. Die Gereiztheit war weg, jetzt spürte sie nur noch Trauer und Verzweiflung. Ein junger Mensch stirbt gerade ein paar Meter von dir entfernt, und was machst du? Du bekommst das gar nicht mit, du hast nur dich selbst im Kopf und deine heilige Nachtruhe, dachte sie.
Im Bett wälzte sich Sigrid hin und her. Ruhe gab es, aber schlafen konnte sie nicht. Das ist keine Ruhe, das ist die Totenstille, dachte Sigrid.
Und dann kam noch etwas hinzu, was Sigrid besonders beunruhigte. Sie stellte enttäuscht fest, dass die alte Angst vor dem Schlafen im Dunkeln zurückkehrte.
Sie erinnerte sich, als sie noch ein kleines Mädchen war: damals lag sie im Bett und hörte eine Gute-Nacht-Geschichte, die von ihrer Mutter vorgelesen oder erzählt wurde. Doch sie wusste: der Abschiedskuss auf die Stirn markierte die Grenze zwischen der hellen vertrauten fröhlichen Welt und dem kalt-bedrohlichen Nichts. Jetzt wird die Lampe ausgeknipst und ich muss mich wieder versuchen zu überreden, die Augen zu schließen: dir wird nichts passieren, morgen erwachst du wieder in deinem Bett. Irgendwann schlief sie immer ein, wenn sie zu müde war, mit dieser Angst zu kämpfen.
Auch diesmal schlief sie ein. Der Schlaf war schwer und krankhaft. Sie träumte, sie ginge über eine unendliche grüne Wiese. Die Sonne schien, der trockene heiße Wind wehte. Sie ging weiter und weiter, ohne das Ziel ihrer Reise zu ahnen. Die Sonne war jetzt schwer auszuhalten. Sie brannte auf dem Gesicht, auf dem Rücken und ließ den Mund austrocknen. Das Gras war nicht mehr grün, es war grau geworden und so hoch, dass Sigrid kaum noch etwas um sich herum sah. Sie mühte sich weiter, sie machte einen Schritt nach dem anderen, doch sie bewegte sich nicht von der Stelle. Eine Welle der Verzweiflung überkam sie. Die panische Angst verlorenzugehen, einfach zu verschwinden, war kaum auszuhalten. Sie wurde ruckartig wach, doch der Traum war immer noch sehr präsent. Sigrid hatte Angst, wieder einzuschlafen, weil sie auf keinen Fall diesen Traum zu Ende träumen wollte.
Sie stand auf und überlegte, was sie jetzt machen sollte. Der Traum hatte etwas mit dem Mord zu tun, das war ihr klar. Sie konnte nicht einfach weitermachen, als ob nichts geschehen wäre. Es ist etwas ganz Schlimmes passiert und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie überlegte eine Weile, doch sie kam zu keinem Entschluss. Sie legte sich wieder ins Bett, aber schlafen konnte sie nicht. So begegnete sie dem Sonnenaufgang, stand auf und fuhr zur Arbeit.