Читать книгу Zschopautal ... da geht's der Heimat zu! - Malte Kerber - Страница 11

10. September 1. ETAPPE

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Döbeln – Technitz – Waldheim – Burg Kriebnitzstein – Falkenhain am Kriebnitzstausee

22 Kilometer

Obwohl uns kein nächtlicher Großstadtlärm störte, schliefen wir unruhig. Startfieber? Vorfreude!

Beim Frühstück im Hotelrestaurant großes Gewimmel. Eine dänische Reisegruppe beherrschte das Revier. Die Verabschiedung von der Hotelchefin von unserer Seite aus betont sachlich, da wir am Vorabend von ihr unhöflich behandelt worden waren. Die uns zahlenmäßig überlegene Touristenschar hatte sie überfordert, so dass wir bei ihr kein Abendbrot bekamen.

Als wir lostrabten, lag Döbeln noch in völliger Morgenruhe. Sehr verschlafene Sonnabendmorgenstimmung in der Kleinstadt. Eine ältere Frau, welche die Straße fegte, romantisierte das Bild. Eine andere etwa Gleichaltrige, die aus dem Fenster nach dem neuen Tag Ausschau hielt, fehlte ebenfalls nicht im Bild. Dagegen waren Kirchgänger, wie man für eine Kleinstadt annehmen müsste, noch nicht zu sehen. War es zu früh, oder war dies dem „atheistischen Osten“ geschuldet, wie in den westlichen Bundesländern immer wieder mehr oder weniger vorwurfsvoll festgestellt wird? Es stimmt schon: Auch nach unseren Wanderbeobachtungen sind zum Beispiel in süddeutschen Städten zur Sonnabendmorgenzeit oder des Sonntags die Kirchgänger von der Zahl her deutlich sichtbar auf dem Weg in die Gotteshäuser.

Um Kräfte zu sparen, hatten wir uns entschlossen, die langweiligen Straßenkilometer bis zum „scharfen Start“ direkt am Zusammenfluss von Zschopau und Mulde nicht zu laufen. Das erwies sich im Verlaufe des Wandertages als richtig, da sich die erste Etappe als unerwartet anspruchsvoll und lang präsentierte. An der Busendhaltestelle bis auf uns und ein Mädchen keine wartenden Fahrgäste. Wir stiegen als einzige in den vierrädrigen Vertreter des öffentlichen Nahverkehrs ein. Das sollte sich als ein kleiner Vorteil erweisen.

Durch die Busfahrt kamen wir noch zu einer kleinen interessanten Rundfahrt um Döbeln. Über die Hügel führt die Linie fast rund um die Stadt. So erschloss sich uns der Reiz ihrer Lage zwischen den Ausläufern des Erzgebirges und an den Ufern der Mulde. Als Zugabe erklärte der freundliche Busfahrer einiges zu den Stadt- und Landschaftsbildern. Wir bedankten uns beim Verabschieden.

Technitz – ebenfalls verschlafener Ort, wenngleich deutlich kleiner und dörflicher als das benachbarte Döbeln. Nach zwei oder drei Landstraßenkilometern standen wir am „scharfen Start“ unserer Wanderung. Wir sahen die Zschopau in die größere Freiberger Mulde „aufgehen“. Hier von der Mündung des erzgebirgischen Flusses wollen wir bis zu seiner Quelle wandern. Das sollen laut Wanderheftangaben genau 137 Kilometer sein. Die ersten etwa 22 Kilometer sind wir heute gewandert. Beweisfotos unseres Startstandpunktes sowie unseres Etappenzieleinlaufs wurden mit der kleinen Digitalkamera „geschossen“.

Am Anfang der ersten Etappe liefen wir einige Zeit auf einer kleinen Landstraße oberhalb des Flusses. Wir hatten Mühe, die Wandermarkierung zu finden. Endlich entdeckte Anne das rote Band auf dem etwa 20 x 30 Zentimeter großen weißen Viereck. Diesmal an einem in den Wiesenboden eingerammten Holzpfosten. Rotes Band – das Zeichen für einen Hauptwanderweg. Im Gebirge markiert es meistens den Kammweg. Das eigentliche Zschopautal-Logo soll eine stilisierte grüne Burg zeigen. Wir haben es heute noch nicht entdeckt.

Nach einer längeren Wiesenüberquerung gelangten wir endlich an den Fluss. Hier strömt er ruhig in seinem Lauf, aber sehr kräftig. Wir liefen in typischer Flussauenlandschaft: verwachsene Uferränder, feuchte und zum Teil sumpfige Wiesenstellen, sich dem Wasser zuneigende Bäume. Sogar die Bissspuren fleißiger Biber an Baumstämmen entdeckten wir. Die Sonne malte kräftig mit an diesem interessanten Landschaftsbild. Weiße Wolken am blauen Himmel rundeten das Postkartenmotiv ab. „Klärchen“ machte uns aber bald mit sommerhaften Temperaturen zu schaffen. In einer Kleingartensiedlung, durch die unser Weg führte, mussten wir um neues und frisches Wasser für unsere Trinkflaschen bitten. Die Bitte wurde uns, wenn auch mit erstaunten Blicken, gewährt. Anne stellte fest, dass die Spenderfrau nicht das Wasser aus dem Hahn hatte ablaufen lassen, bis es eine kühle Temperatur erreichte. Unaufmerksamkeit oder Sparsamkeit?

In der Nähe des Ortes Limmritz das erste Eisenbahnviadukt, das wir auf unserer Wanderung sahen. Ein kühnes Bauwerk wohl aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, welches da immer noch den Fluss überspannt. Feine Handwerkerarbeit die Brücke – Stein auf Stein gemauert und nicht aus langweiligen großen Betonteilen zusammengesteckt, wie das in heutigen Zeiten üblich ist.

Zusätzlicher Schaueffekt: Eine zweite Brücke spannte sich in der Spiegelung auf der Wasseroberfläche über den Fluss. Allerdings auf dem Kopf stehend. Ein interessantes Fotomotiv!

Unser Wanderweg führte uns einige Male vom Flussuferweg hinauf in die Hänge. Es ging durchaus zur Sache! „Naufwärts“! Ich hatte nicht vermutet, dass sich die Zschopau hier unten vor dem Erzgebirge so tief und „attraktiv“ in die Landschaft eingearbeitet hat. Ein Vorteil ihres doch wilden Laufs: keine Autostraße am Fluss störte unseren Landschaftseindruck, kein mülliger Lärm nervte unsere Ohren. Leider vermissten wir im Gegensatz zur Wanderung über die „Romantische Straße“ im Frühsommer dieses Jahres den Gesang der Vögel. Unsere gefiederten Sangesfreunde sind wohl meist schon unterwegs gen Süden, oder sie haben zwitscherndes Liebeswerben wegen getaner Arbeit nicht mehr nötig.

Gegen Mittag erreichten wir Waldheim. Ja, Waldheim! Dieses „Waldheim“, an das fast jeder denkt, wenn er den Namen der alten sächsischen Stadt hört. Ihr ungeliebtes Symbol sahen wir zuerst, als wir auf das Panorama der Stadt blickten: die Justizvollzugsanstalt, einst das größte Gefängnis Sachsens und eines der ältesten seiner Art in Europa.

Mitten in der Stadt klotzt schwergewichtig das Zuchthaus Waldheim – die heutige Justizvollzugsanstalt. Ein Ausbrechen soll damals fast unmöglich gewesen sein. Das dürfte in unseren Tagen wohl noch mehr zutreffen. Mit dem Begriff „Waldheimer Prozesse“, die 1950 an diesem finsteren Ort stattfanden, wird zwanzig Jahre nach der Bildung der neuen deutschen Bundesrepublik häufig immer noch die gesamte DDR-Geschichte „belegt“. Dass es bei diesen Prozessen vor allem und meistens um Kriegsverbrecher und Kriegsverbrechen ging, gerät bei dieser Art Geschichtsaufarbeitung meistens in den Hintergrund.

Doch zurückliegende finstere Geschichte interessierte uns an diesem schönen Sonnentag nicht. Von einer Zschopaubrücke aus genossen wir den Blick auf das Zentrum der Stadt, auf ein prachtvolles Jugendstilhaus am Ufer des Flusses, auf das Rathaus und seinen eindrucksvollen Turm sowie auf die prächtige St. Nicolaikirche.

Auf dem weiten ovalen Marktplatz herrschte gähnende Langeweile. Die Geschäfte geschlossen, wenig Leute, nur der prächtige Wettinbrunnen plätscherte redselig im Selbstgespräch vor sich hin. Mit Mühe fanden wir ein Eiscafé, in dem wir pappige Toaste als Mittagsmenü akzeptieren mussten.

Wir zogen weiter und erfreuten uns noch an einigen schönen Häusern aus der Jugendstilzeit. Waldheim wird auch als „Stadt des Jugendstils“ bezeichnet. Was wir nicht gewusst hatten: Waldheim ist die Geburtsstadt des Bildhauers Georg Kolbe – des „Vaters“ der von mir in meiner Jungmännerzeit einst so geliebten „Tänzerin“. Noch immer schwebt die lebensgroße Bronzeplastik unvergleichlich zart in der Alten Nationalgalerie zu Berlin. Wir erwiesen dem Meister vor seinem Geburtshaus am Georg-Kolbe-Platz eine kleine Gedankenreverenz.

Schön führte uns anschließend die Markierung mit dem roten Balken unter dem Blätterdach der Bäume an der Zschopau entlang. Hier erhellte sich für uns auch das Rätsel, warum einige Kilometer unseres bisherigen Wanderweges als die „Bankrottmeile“ bezeichnet werden. Ein älteres Ehepaar aus Waldheim, mit dem wir ins Gespräch gekommen waren, klärte uns auf: In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts baute man die Bahnstrecke Riesa – Chemnitz. Die enormen Kosten für die Viadukte, Stützmauern und Erdarbeiten im Zschopautal brachten die Eisenbahngesellschaft in Finanznot. Sie ging pleite. Aus diesem Grunde erhielt der Abschnitt Limmritz – Waldheim den Beinamen „Bankrottmeile“. Was man doch auf Wanderungen so alles erfahren kann! Merkwürdiges und Merkenswürdiges! Wir bedankten uns bei den freundlichen Waldheimer Leuten für den Wissenszuwachs. Sie wünschten uns für die Wanderung einen guten Weg.

Zur berühmten Burg Kriebstein ging es doch einige „Höhenmeterchen“ bergauf. Burgen liegen ja meist auf dem Berg. Burg – Berg klingt so schön beieinander. Anne stieg und schritt wacker vor sich und vor mir hin. Ich bekam doch Konditionsschwierigkeiten. Auch aus diesem Grund verzichteten wir auf eine Besichtigung der sehenswerten Burg und steuerten auf direktem Wege den Hafen an der Talsperre Kriebstein an.

Dort herrschte heute am Sonntag reger Betrieb. Anne bekam als Lohn für ihren Wanderfleiß eine doppelte Portion Leck-Eis. Nach einer guten halben Stunde Wartezeit bestiegen wir ein Fährschiff, das uns ans Tagesziel brachte. So schlossen wir unsere Wanderetappe sogar noch mit einer kleinen Dampferfahrt ab. Wir genossen die schönen Sichten auf den Talsperren-See. Die Fähre legte in dem kleinen Ort Falkenhain direkt neben der Jugendherberge an. Das stimmte uns gar nicht traurig! Unsere Wanderkraft hatte sich für diesen Tag erschöpft.

Die Jugendherberge besteht aus einem Bungalowdorf, idyllisch am See gelegen. Ich hatte uns angemeldet und eine Holzhütte gebucht. Die Begrüßung durch die Rezeptionsmitarbeiterin freundlich-lustig. Wir bekamen sogar, obwohl nicht bestellt, einen Bungalow mit Dusche und WC. Die Einrichtung jugendherbergsgemäß schlicht und einfach, aber alles sauber. Müde und doch zufrieden über den schönen Wandertag bezogen wir unser Quartier. Der Küchenchef der Jugendherberge servierte uns ein Riesenschweineschnitzel, ungesund dick paniert. Der Hunger trieb es „nei“!

Nach einem kleinen Rundgang über das Gelände des Bungalowdorfes saßen wir vor unserem Holzhaus, beide eine Flasche dunkles Weizenbier vor der Nase, blickten auf den See, sahen auf der anderen Seite des Sees die Sonne hinter den bewaldeten Hügeln verschwinden und beträumten den verdämmernden Tag. Erinnerungen an den Liepnitzsee kamen uns in den Sinn. Als Dauercamper auf der Insel Großer Werder im Norden von Berlin hatten wir viele solcher Traumabende erlebt. Abende, die ihre Spuren im Gedächtnis hinterließen und sich in den Herzen verwurzelten. Auf dem Uferweg spazierten an unserer Hütte Angelfreunde vorbei, ebenfalls Gäste der Herberge. Fast nur dickbäuchige Männer zogen mit Bierflaschenpacks bzw. Bierkästen Richtung Grillplatz.

Zu den Gästen der Jugendherberge gehören auch zwei Dauergäste, ein älteres Ehepaar aus Waldheim, Rentner. Sie mieten sich für jeweils eine Saison in einem Bungalow ein, wie sie uns erzählten. Wir waren mit ihnen in ein Neugier-Gespräch gekommen. Doch so richtig konnten wir sie nicht „aufschließen“. Offensichtlich waren sie unsicher, wie sie uns alte Tramper einordnen sollten. Die folgende Begegnung verdient es eher, festgehalten zu werden.

Vor dem Verwaltungsgebäude der Herberge gibt es einen großen Kiosk, an dem sich die Herbergsgäste zusätzlich versorgen können. Vor allem das Getränkeangebot ist reichhaltig. Ein etwa vierzigjähriger DHJ-Angestellter betreut Angebot und Verkauf. Wir versorgten uns bei ihm mit dem erwähnten Weizenbier und auch mit Selters für den morgigen Wandertag. Aus irgendeinem Grunde kam ich mit dem Kumpel in ein anfangs spaßiges Wortgefecht. Ich fragte ihn, warum weiß ich nicht, ob er „gedient“ hätte. Er antwortete: „Ja, bei den Kommunisten!“ Meine Gegenfrage darauf: „Bei denen im Osten oder bei denen im Westen, da gibt es ja auch welche?“ Er erklärte etwas mürrisch, dass er in der DDR 1988 zur Bereitschaftspolizei nach Leipzig „geholt“ worden wäre. „Im Osten gab es doch keine Freiheit!“ so erläuterte er.

Ein wenig ging das Frage-Antwort-Gespräch hin und her. Ich wollte abschließend von ihm wissen, wie es ihm denn heute so ergehen würde. Er darauf: „Also in der Saison bin ich jeden Tag hier im Kiosk. Von früh bis abends. Jeden Tag! Das ist schon ein harter Job, da hast du keine Freizeit mehr.“ Ich strich ihm spöttisch aufs Butterbrot seiner Meinung: „Na fein, da hast’e also deine neue Freiheit!“ Er winkte mit einer ärgerlichen Handbewegung ab.

Zschopautal ... da geht's der Heimat zu!

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