Читать книгу Nach dem Eis - Malte Kersten - Страница 5

2. Kapitel

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Wir aßen zusammen zu Abend, als ich Hans meine Erlebnisse vom Tag berichtete. Zunächst skeptische Nachfrage. Verständlich. Nach dem Essen bot sich Hans an, abzuwaschen, obwohl er nicht an der Reihe war. Da ich gekocht hatte, hatte ich nichts dagegen einzuwenden, griff aber zum Handtuch. Beim Spülen der Teller hielt Hans einen Moment inne, ihm kam eine Idee.

„Hat dein Professor dir etwas übergeben, eine CD oder so etwas meine ich?“

Er sah mich an, Schaum bis zu den Ellenbogen.

„Nein, nichts, wie kommst du darauf?“

„Na, ich meine nur so, in den Filmen geben die gehetzten Opfer immer irgendwelche ganz wichtigen Dateien an Unbeteiligte weiter, die dann anschließend von den Killern gejagt werden. Neulich habe ich im Kino den Neuen von …“

„Ist schon gut, ich habe verstanden. Nein. Ich habe nichts bekommen. Und gehetzt war Professor Oster auch nicht.“

„Woher weißt du das, ich denke, du hast ihn nur selten gesehen? Vielleicht ist er ja bis nach Kiel geflohen, traf gerade noch rechtzeitig im Büro ein und hat dir eine Mail mit seinen wichtigen Daten geschickt, bevor der Killer in sein Büro kam und – peng!“

Er blies über seinen emporgestreckten Zeigefinger, als sich unsere Blicke trafen.

„Scheiße, du hast deine Mails noch nicht gecheckt“, sagte er langsam.

Ich schüttelte genauso langsam meinen Kopf, obwohl mir sein Gedankengang etwas weit hergeholt erschien. Zumal ich keine Verletzungen gesehen hatte. Vielleicht zu Tode erschreckt?

Minuten später waren wir in Hans Zimmer und starrten gebannt auf den Bildschirm. Hans stellte die Verbindung zum Internet her und ließ mich dann an den Rechner. Von außerhalb des Instituts war es zwar nicht möglich, an die Mails heranzukommen. Doch ließ ich mir meine Mails an meine private Adresse weiter leiten. Damit hatte ich die Möglichkeit, Anfragen von meinem Chef auch dann zu beantworten, wenn ich mal nicht oder etwas später am Institut war. Es kam zwar nie zu einer solchen Situation, aber jetzt war ich froh, dass ich sofort meine von Hans aufgedeckte Wissenslücke schließen konnte.

Mit einem Mal kam mir die Theorie von Hans ganz plausibel vor. Ob er selbst ernsthaft daran glaubte oder einer spontanen Drehbuchidee folgte, weiß ich nicht.

„Und, ist da etwas?“

Ich las die Absender der als neu markierten Mails durch. Werbung und eine Mail von einem Schulfreund, sonst nichts.

„Nein, nichts, ist auch Blödsinn“, erwiderte ich. „Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun.“

„Na ja, war nur so ein Gedanke“, sagte Hans. „Mach den Rechner aus, wenn du ihn nicht mehr brauchst, ich muss jetzt los. Ich war gestern in einem Laden, das muss ich dir mal erzählen. Jedenfalls treffe ich mich da gleich mit ein paar Kollegen. Also bis nachher – oder bis morgen!“

„Wen hast du denn kennen gelernt?“

Mehr als einen vielsagenden Blick konnte ich ihm nicht mehr entlocken. „Bis morgen dann.“

Er griff sich seine Jacke vom Bett und die Wohnungstür fiel ins Schloss.

Als ich am nächsten Morgen das Haus verließ, sah ich Hans noch nicht, ich konnte nicht mal sagen, ob er überhaupt nach Hause gekommen war.

Meine erste Anlaufstelle am Institut war das Sekretariat. Dort hoffte ich auf Antworten von Frau Hubertus zu den dringendsten Fragen. Zur gewohnten Routine schien sie mir noch nicht zurückgefunden zu haben. Wohl kaum jemand, wie sie mir berichtete. Dass der Kommissar mich noch einmal sprechen wollte, überraschte mich nicht. Frau Hubertus schob mir seine Visitenkarte zu. Dass aber Herr Elster mich dringend sprechen wollte, hätte ich nicht erwartet. Näheres wusste aber auch Frau Hubertus nicht. Ich sollte mich gleich darum kümmern, bat sie mich. Wir beide wussten, dass man Elster nicht lange warten lassen konnte. Wie ich schon befürchtet hatte, war mein Büro zunächst verschlossen. Ich konnte nicht einmal meinen Computer bekommen. Der war bei der Polizei und sollte gründlich ausgewertet werden. Ich überlegte, ob ich illegalen Programm, Musikdateien oder Filme auf dem Rechner gespeichert hatte. Was aber hoffentlich nicht im Fokus der Ermittlungen stehen würde. Zunächst sollte ich bei unserer Kollegin Katja einen Schreibtisch bekommen. Ein weiterer Computer würde am Nachmittag für mich eingerichtet werden.

Frau Hubertus gab mir einen Schlüssel für das Büro und ermahnte mich abermals, Elster nicht länger warten zu lassen. Ich ging zu meinem neuen Arbeitsplatz, klopfte aber trotzdem kurz an. Wie gewohnt war Katja schon bei der Arbeit, lange bevor ich das Institut betrat. Durch ihre ordentliche Arbeitsweise sah ihr Arbeitsplatz nie nach einem anstrengenden Ringen um die wissenschaftliche Wahrheit aus. Sie ließ keine Ausdrucke oder Kopien einfach herumliegen. Alles war in Ordnern abgeheftet, die sich mit einheitlicher Beschriftung auf den Rücken im Regal hinter ihr aufreihten. Katja ist der Hermine-Typ. Mit ihrer gewissenhaften und fleißigen Arbeitsweise hatte sie schon einige Veröffentlichungen in renommierten Fachzeitschriften platzieren können, die anerkennend von der Wissenschaft diskutiert wurden. Auch deshalb war mir ein Arbeitsplatz in ihrem Büro sehr recht. Mir fehlte noch etwas der Blick für die wissenschaftliche Relevanz meiner Forschungen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sich jemand für meine Arbeit interessieren könnte, auch wenn ich den Stand der Dinge während zweier Tagungen der Fachwelt bereits vorgestellt hatte. Im Wesentlichen analysierte ich Messwerte, die von verschiedenen Stellen für das Grundwasser in ganz Schleswig-Holstein zusammengetragen wurden. Als weiteres Fernziel wollte ich den Einfluss von der Düngepraxis der Landwirtschaft auf die Wasserqualität ableiten. Ein Arbeitsschritt bestand darin, diese verschiedenen Messreihen so umzustellen, dass sie alle zueinander passten und ich einheitliche Analysen damit anstellen konnte. Davon war ich noch weit entfernt und verbrachte meine Zeit mit der theoretischen Aufbereitung heterogener Datenbasen (unglaublich, wie viele Gedanken sich darüber schon andere Wissenschaftler gemacht hatten). Eine Arbeit, die trotz des Gegenstandes trockener kaum sein könnte. Ganz abgesehen von meiner derzeitigen Situation konnte sich Katjas Arbeitsweise nur positiv auf mich und den Fortschritt meiner Arbeit auswirken. Ein Büro mit Katja zu teilen, war um Längen produktiver als das Teilen mit einem Professor, mit meinem verstorbenen Professor.

Katja tippte fleißig etwas in den Computer ein und bot beiläufig an, im Regal für meine Unterlagen etwas Platz zu schaffen. Ich musste dankend ablehnen, da ich keine Unterlagen hatte, die ich dort einstellen konnte. Im Moment nicht und später würde vielleicht ein Teil des Regals reichen. Mehr hatte ich auch nicht in meinem nun verschlossenen Büro stehen. Aber das sagte ich ihr nicht. Ich wollte nicht so desorientiert wirken. Zumindest den Anschein wahren, dass ich wissenschaftlich schon ganz gut im Thema verankert war. Denn verglichen mit ihr war ich immer noch ganz am Anfang.

Ich richtete mir meinen Arbeitsplatz ein, was aus einem Bleistift aus meiner Manteltasche und einigen Blättern Papier von Katja bestand. Mehr würde in den nächsten Tagen kommen. Diese übersichtliche Arbeitsstruktur erregte Katjas Aufmerksamkeit.

„Was machst du?“

„Ich strukturiere meinen Arbeitstag.“

Katja schaute amüsiert zu. Dann musste ich konkreter werden und ordnete die nächsten Schritte. Zwei Punkte waren schon sicher: Den Dekan anrufen und der Polizei Gesprächsbereitschaft signalisieren, beziehungsweise einen Termin ausmachen. Nur über die Reihenfolge der Anrufe war ich mir noch nicht ganz im Klaren. Aber eigentlich war die Reihenfolge egal. Da ich aber annahm, dass ich mit der Polizei zunächst nur einen Termin ausmachen würde, erschien mir dieser Punkt schneller abzuhaken zu sein. Also wollte ich damit beginnen.

Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer von Herrn Peters. Dabei machte ich bereits auf der Liste hinter seinen Namen einen Haken.

Am anderen Ende der Leitung wurde sofort abgehoben. Ich erkannte seine Stimme vom Vortag wieder. Er meldete sich etwas abwesend, als würde ich ihn bei einer konzentrierten Arbeit stören.

„Wir haben noch einige Fragen an Sie und würden diese gern zu Protokoll nehmen. Können Sie heute vorbeikommen, sagen wir so gegen sechzehn Uhr?“

Ich hörte den Kommissar kurz mit jemanden sprechen, wobei er wahrscheinlich den Telefonhörer zuhielt, da ich Einzelheiten nicht verstehen konnte.

„Also, dann erwarte ich Sie hier um sechzehn Uhr, in Ordnung? Auf Wiedersehen.“

Ich glaube mein „auf Wiedersehen“ hatte er nicht mehr gehört, Freizeichen. Und versprochen hatte ich ihm noch nichts. Etwas sprachlos und noch mit dem Hörer in der Hand starrte ich Katja an, die wegen der unglaublichen Kürze des Telefonats überrascht aufsah.

„War das alles?“, fragte sie.

„Das eigentliche Gespräch kommt noch“, entgegnete ich. „Muss man eigentlich zu so einem Gespräch hingehen? Ein Satz mehr hätte auch nicht geschadet.“

„Was ist denn los?“

„Der Kommissar hat einen Termin mit mir abgesprochen, ohne dass ich ein Wort dazu sagen konnte, hast du ja gehört.“

„Ich denke schon, dass du da hingehen musst. Vielleicht kannst du ja den Termin noch verschieben, wenn es dir nicht passt. Wann ist es denn?“

„Heute Nachmittag. Nein, das passt schon. Aber ich finde die Art etwas seltsam. Na ja, ist aber auch egal. Meine Arbeit hier wird sowieso etwas ruhen. Dann kann ich mich auch mit der Polizei unterhalten.“

Ich schrieb auf meinen Zettel hinter Peters sechzehn Uhr und umkreiste die Ziffern mehrmals. Dann bat ich Katja um die Durchwahl des Dekans. Sie hatte hinter sich die Liste mit allen Mitarbeitern und deren Telefonnummern angepinnt.

Diesmal dauerte es etwas, bis jemand abnahm. Es meldete sich die Sekretärin von Herrn Elster, Frau Fuchs. Ich berichtete ihr, dass der Dekan mich sprechen wollte.

„Ja, Sie sind das, warten Sie einen Moment, ich schaue kurz nach, ob Herr Elster beschäftigt ist.“

Ich wartete.

„Hören Sie? Ich stelle Sie jetzt durch!“

Sie stellte durch.

„Elster“, tönte es mir entgegen. Irritiert nahm ich den Hörer etwas vom Ohr weg, nannte meinen Namen und erwähnte, dass er mich sprechen wollte. Sofort veränderte er den Tonfall seiner Stimme etwas in Richtung Mitgefühl, aber nur etwas. Und er reduzierte die Lautstärke auf ein normales Niveau.

„Eine schöne Geschichte, dies, bei Ihnen am Lehrstuhl“, sagte er vorwurfsvoll. Ich verzichtete auf eine Rechtfertigung.

„Was für eine Aufregung! Ich weiß nicht, wie weit Sie am Institut eingebunden sind, aber Sie müssen wissen, dass solch eine Geschichte nicht ohne Folgen bleiben wird. Presseberichte, Gespräche auf Kongressen und schon sind die Geschichten im Umlauf. Keiner weiß mehr was Wahrheit ist und was Übertreibung, keiner kann es mehr richtigstellen. Deshalb müssen wir jetzt sehr, sehr behutsam vorgehen. Wir müssen an das Renommee des gesamten Instituts denken. Deshalb schlage ich vor, Sie kommen eben mal rüber und wir besprechen das weitere Vorgehen.“

„Ja, gern, dann komme ich gleich rüber.“

Das gern war natürlich übertrieben, aber sein Anliegen klang dringend.

„Und das sage ich Ihnen jetzt schon, ich erwarte absolutes Stillschweigen über alles was wir besprechen werden, es geht um den Ruf des Instituts.“

„Ja, natürlich.“

Er hatte bereits aufgelegt.

„Ja vielen Dank, Herr Elster, ich fühle mich schon etwas besser, nein, Herr Elster, ich weiß noch nicht wie meine Arbeit weiter geht, ja, Herr Elster, da stimme ich Ihnen zu, schlimme Geschichte, besonders für die Angehörigen des Toten. Bla, bla, bla.“

Ich legte auf.

„Was war denn jetzt wieder?“, fragte Katja.

„Das Einzige, was den Elster interessiert, ist, dass der Ruf seines Instituts nichts abbekommt. Ich soll gleich zu ihm hingehen, dann wollen wir besprechen, was zu tun ist. Oder vielmehr will er mir klarmachen, was ich sagen und nicht sagen darf. Ein absolutes Stillschweigen über alles, wahrscheinlich auch über das Telefonat eben, setzt er voraus!“

„Ja, Herr Oster war nicht besonders beliebt.“

„Ich mochte ihn ja auch nicht, aber das geht doch etwas zu weit, finde ich.“

„Ja, da hast du Recht. Hatte er eigentlich Familie? Von ihm weiß ich das gar nicht.“

„Er war geschieden und hatte einen Sohn, soweit ich weiß. Richtig ausführlich hatten wir uns über solche Themen nie unterhalten.“

Da der Nieselregen einen Moment mal aussetzte und sich lediglich der graue Himmel auf dem nassen Pflaster spiegelte, beschloss ich, ohne Mantel zum Nachbargebäude hinüber zu gehen, wo der Dekan sein Büro hatte. Auch wollte ich damit zumindest mir signalisieren, dass das Treffen nur kurz sein sollte. Katja wendete sich wieder ihrer Arbeit zu. Erfreut, wie es mir schien. So viel Unruhe am Arbeitsplatz war sie nicht gewohnt.

Draußen war es dann doch etwas kälter, als ich mir es vorgestellt hatte. Ich drängte mich an einer Gruppe wartender Studenten vor dem Kiosk vorbei, die Einen mit einem heißen Kaffee in der Hand, die anderen noch ohne. Ein Student, dessen Abschlussarbeit ich mit betreute, begrüßte mich. Ich nickte ihm etwas weniger aufmerksam zu, als es eigentlich meine Art war und realisierte, dass auch bei mir der Prozess des Absonderns vom akademischen Fußvolk voll im Gange war. Aber im Moment hatte ich wirklich andere Dinge im Kopf als freundlichen Smalltalk mit Studierenden.

Als ich das Sekretariat des Dekans betrat, schlug mir eine angenehme Wärme angereichert mit Kaffeeduft entgegen. Auch in diesem Gebäude waren die Büros schon älter und daher die Einrichtung eher in dunklem Holz gehalten. Frau Fuchs kam mir einige Schritte entgegen und wies gleich auf die offene Tür zum Büro von Herrn Elster. Ich klopfte dort nochmals an den Türrahmen und betrachtete dabei den gedeckten Tisch in der Besprechungsecke. Neben einem Schälchen mit abgepackter Kondensmilch stand ein Schälchen mit Würfelzucker und ein Teller mit Gebäck. In der Mitte des Tisches auf einer kleinen Tischdecke ein Blumenstrauß in einer Vase. Ob Frau Fuchs diese Blumen täglich auswechselte? Oder Kunstblumen? Dann trat Herr Elster in mein Gesichtsfeld.

Wie eigentlich immer trug er über einem karierten Hemd ein Kordsakko. Nur einmal sah ich ihn in anderer Kleidung. Bei der feierlichen Entgegennahme eines internationalen Preises für das Institut trug er einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Fliege. Das war eine Veranstaltung, zu der alle Mitarbeiter eingeladen waren, wir Doktoranden allerdings mehr im Hintergrund blieben. Nach den Ansprachen fand sich die Gruppe der Professoren in einer Ecke des Saals zusammen und deren Stimmung wurde mit jeder Runde Sekt ausgelassener.

Herr Elster wies auf einen Sessel und ich nahm Platz. Die Sitzgruppe war sehr tief und weich. Ich fiel in das Polster. Frau Fuchs brachte eine Thermoskanne mit Kaffee herein. Herr Elster wies sie an, dass er jetzt nicht mehr gestört werden wollte. Die Sekretärin schloss von außen leise die Tür.

Es trat eine Pause ein, in der ich gespannt darauf wartete, was nun kommen sollte. Herr Elster sammelte sich oder suchte einen möglichen Einstieg ins Gespräch. Der Blumenstrauß war echt. Herr Elster öffnete mit einem zarten klack den Verschluss seiner Armbanduhr. Er nahm sie ab und legte sie auf der blanken Tischplatte ab. Das schwere Armband machte metallische Geräusche auf der harten Platte. Ein dünner Stapel Textseiten lag exakt ausgerichtet in der Tischecke.

„Wie lange arbeiten Sie nun schon bei Herrn Oster?“, war sein Einstieg. Sicher sehr weit ausgeholt. Die nächsten Fragen würden dann den Kern seiner Absicht weiter einkreisen. Ich beantwortet ihm seine Frage und holte auch etwas weiter aus, indem ich von einzelnen Arbeitsschritten meiner Arbeit berichtete. Dies schien genau in seine gewünschte Richtung zu gehen, denn er stellte interessiert weitere Fragen.

Ich entdeckte einen kleinen Käfer auf einem Blatt vom Blumenstrauß. Wo der wohl zu dieser Jahreszeit herkam?

Leider lenkte Herr Elster dann das Gespräch auf meinen wunden Punkt, den Veröffentlichungen meiner Teilergebnisse. Da ich bereits meinen Forschungsstand während zweier Tagungen der Fachwelt präsentieren konnte, hatte ich wenigstens etwas vorzuweisen, zumal die Tagungsbände mit jeweils einem Text von mir zusätzlich verlegt wurden. Doch war mir klar, dass dies nicht zu einer vollwertigen Veröffentlichung gezählt werden konnte.

Das war dann auch exakt der Punkt, den Professor Elster dann sehr breit erörterte. Der Käfer hatte das Ende des Blattes erreicht und tastete erstaunt mit den vorderen Beinchen die Leere hinter dem Blatt ab. Schwarz und voller gelber Tupfer. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, wenn eine Doktorarbeit erstellt wird, ohne weitere Veröffentlichungen. Doch ist es auch jedem Doktoranden klar, dass eine Reihe von Veröffentlichungen in hoch dotierten Fachzeitschriften für eine weitere wissenschaftliche Laufbahn Voraussetzung sind. Daher gibt es immer wieder Doktorarbeiten, die über die üblichen drei Jahre hinaus dauern. Gerade die Doktoranden von Herrn Elster waren für eine lange und sehr lange Bearbeitungszeit ihrer Doktorarbeiten bekannt. Allerdings konnte dann auch jeder Absolvent auf eine Reihe von Veröffentlichungen zurückblicken, die oftmals zumindest hilfreich für eine der begehrten Stellen in renommierten Forschungseinrichtungen waren.

„Wir müssen auch überlegen, wie es jetzt mit Ihrer Arbeit weiter gehen soll“, schloss er nun den Bogen und sah mich direkt an.

Wir waren beim Anlass meines Besuches.

„Wir müssen nach vorne blicken. Es soll für Sie kein Neustart sein, Sie sollen Ihre Arbeit weiter machen, aber vielleicht liegt auch eine Chance in dem Wechsel.“

Ich verstand nicht so recht, was er konkret meinte, wenn er denn etwas konkret meinte. Währenddessen hatte der Käfer beschlossen, am Blatt wieder herunterzuklettern.

„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken machen können. Aber mir ist klar, dass einiges anders werden wird.“

„Auf den Punkt gebracht, Sie brauchen einen neuen Betreuer. Meist werden die Arbeiten fast neu geschrieben, wenn ein Betreuer gewechselt wird. Die Arbeiten müssen in das Forschungsfeld des betreuenden Forschers passen. Ansonsten wäre es kein Mehrwert für den Betreuer und seien wir ehrlich, wer würde eine fremde Arbeit unterstützen, wenn diese nicht in das eigene Forschungsumfeld passen würde?“

„Ja, da haben Sie sicherlich recht.“

„In Ihrem Fall allerdings könnte ich mir vorstellen, dass Ihr Thema sich einigermaßen in die Themen hier am Lehrstuhl einpassen könnte, auch wenn wir hier ganz andere Schwerpunkte haben. Aber sagen wir mal auf der Metaebene wären durchaus Überschneidungen vorhanden. Wir haben ja auch schon früher mit Oster zusammen gearbeitet.“

Das war mir neu. Dann kannte er Oster schon, als dieser noch in Dresden war. Das war das Erste, was mir durch den Kopf ging. Als ich langsam den Inhalt seines Satzes verstand, war ich erst einmal sprachlos, was sich sicher in meinem Gesicht ablesen ließ. Denn Herr Elster fuhr fort, ohne eine Antwort zu erwarten. Er schob seine Armbanduhr etwas zur Seite, korrigierte aber gleich die Lage wieder.

„Denken Sie darüber nach, zunächst müssen wir uns um die naheliegenden Dinge kümmern. Haben Sie einen Verdacht, eine Vermutung, wer den Kollegen Oster derart gehasst hat, dass er zu so einer Tat fähig wäre? Sind Ihnen irgendwelche Personen bekannt, die man als Feinde von Herrn Oster bezeichnen könnte? Denn, ohne der Arbeit der Polizei zuvorkommen zu wollen, denke ich, dass wir davon ausgehen können, dass der Kollege Oster keines natürlichen Todes gestorben ist.“

„Nein, niemand, ich kann mir beim besten Willen niemanden vorstellen, der so etwas getan haben könnte“, erwiderte ich überrascht.

Woher nahm er die Gewissheit, dass es kein natürlicher Tod war? War er von der Polizei informiert? Wobei mir das „wie“ völlig schleierhaft war, denn zumindest ich hatte keinerlei Spuren bei Oster gesehen.

„Sind Ihnen irgendwelche Taten oder einfach Worte und Meinungen von Oster bekannt, die vielleicht jemanden so weit bringen könnten?“

„Auch nicht, unser Kontakt war immer etwas spärlich, meist über E-Mails, da fasste er sich besonders kurz. Nein, irgendwelche Begebenheiten in dieser Richtung hat er mir gegenüber nie erwähnt.“

Johann hatte mich gleich verdächtigt, Oster mit einem Kissen erstickt zu haben. Zu schroff hatte dieser mir Passagen meiner Doktorarbeit um die Ohren gehauen. Aber das meinte Herr Elster hoffentlich nicht.

„Hat Herr Oster Ihnen vor kurzem irgendwelche Akten anvertraut, CDs oder Daten per E-Mail?“

Da war es wieder – augenblicklich fiel mir die Vermutung von Hans vom Vorabend wieder ein. Für meinen Geschmack häuften sich diese Vermutungen über einen Zusammenhang mit mir zu sehr.

„Nein, auch nicht, wie kommen Sie darauf?“

„Ihnen ist also nichts Ungewöhnliches in der letzten Zeit bei Herrn Oster aufgefallen?“

„Nein, nichts, nicht einmal, dass er plötzlich in meinem – also unserem Büro morgens war, das ist vorher auch schon mal vorgekommen.“

„Na schön, dann gibt es von dieser Seite her keine Überraschungen.“

Dabei musterte er mich aufmerksam, als erwartete er eine Antwort von mir.

„Wann haben Sie das Gespräch mit der Polizei?“

„Heute Nachmittag, um sechzehn Uhr werde ich mich mit Herrn Peters unterhalten.“

„Schön, sagen Sie ihm das Gleiche, was Sie mir eben berichtet haben, schmücken Sie es meinetwegen mit ein paar Geschichten von Herrn Oster und seiner Universität in Dresden aus, aber halten Sie unser Institut aus der Geschichte heraus. Sagen Sie nicht mehr als unbedingt notwendig und keinesfalls etwas über Unstimmigkeiten oder Zwistigkeiten. Die Polizei wartet bei solchen Untersuchungen nur auf solche Stichworte. Im Nu wird daraus eine große Geschichte gemacht und jeder wird befragt. Das ist etwas, was wir hier überhaupt nicht gebrauchen können. Unstimmigkeiten gibt es immer, auch hier bei uns. Aber daraus entsteht nicht solch eine Geschichte.“

Mit einer knappen Armbewegung umfasste Elster das gesamte Institut und meinte konkret das Dahinscheiden meines Betreuers.

„Also – ich verlasse mich auf Sie!“

Wieder musterte er mich scharf. „Geben Sie mir einen Bericht, wie es bei der Polizei gelaufen ist. Ich verlasse mich auf Sie“, wiederholte er. „Und was den Fortgang Ihrer Arbeit angeht, denken Sie darüber nach, wir sprechen später noch einmal darüber.“

Indem er aufmerksam seine Papiere vor sich sortierte gab er mir zu verstehen, dass unsere Unterredung nun beendet wäre.

Ein Aspekt der Unterredung ging mir nicht mehr aus den Kopf, als ich wieder zurück in mein neues Büro ging. Auch Herr Elster hatte zumindest in Betracht gezogen, dass Oster mir etwas übergeben haben sollte. Damit war er schon der Zweite, der dies für möglich hielt. Vielleicht wird die Polizei mir diese Frage nochmals stellen. Daher könnte an diesem Gedankengang durchaus etwas dran sein. Hans hatte es mir anschaulich geschildert, was sich die Drehbuchautoren in einer ähnlichen Situation einfallen lassen.

Meine E-Mails hatte ich bereits überprüft. Mein Büro konnte ich nicht mehr betreten und meinen Rechner konnte ich nicht mehr benutzen. Den hatte Herr Peters. Damit blieben eigentlich kaum noch Möglichkeiten, wo ich nach rätselhaften Akten oder Dateien suchen konnte. Da ich mir keinerlei Motiv für eine solche Datenübergabe denken konnte, konnte ich mir auch nicht vorstellen, wie solche Daten aussehen müssten. Tausende von Datensätzen in einem Datenbankauszug, eine Liste von Namen oder ein auf einen Zettel gekitzeltes Passwort oder eine Schließfachnummer. In den Filmen, die Hans so vorschwebten, waren es meist CDs mit massenhaften Daten, die niemals an die Öffentlichkeit gelangen durften. Aber welche Daten könnten in unserem Institut kursieren, die eine solche Bedeutung erlangen?

„Wie ist es gelaufen?“

Katja ließ ihre Finger über die Tastatur ihres Computers tanzen und bearbeitete sicher gerade ein weiteres Kapitel ihrer Dissertation. Sie vollendete noch den Satz, bevor sie vom Bildschirm aufschaute.

„Ich darf nichts sagen!“

„Ach, komm schon.“

„Na ja, in etwa so, wie ich es mir vorgestellt hatte“, erklärte ich nun. „Ich soll alle Details vom Institut gegenüber der Polizei verschweigen. Eigentlich soll ich nichts sagen, was aber auch meinem Wissensstand entspricht. Überhaupt, der Dekan wirkte irgendwie erleichtert, dass ich nichts wusste, mir ist nichts aufgefallen, Oster hat mir nichts übergeben und so weiter.“

„Was denn übergeben?“

„Ah, gut, du bist also nicht der Meinung, dass Oster mir irgendwelche wichtigen Daten kurz vor seinem Tod anvertraut haben müsste?“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Ich weiß nicht, es liegt wahrscheinlich an den vielen Krimis, die fest im Unterbewusstsein verankert sind. Die häufigste Frage seit gestern war, was mir Oster kurz vor seinem Tod heimlich noch anvertraut hätte.“

„Und?“

„Und was?“

„Was hat er dir anvertraut?“

„Nichts. Warum auch? Es wird doch sicher noch andere Menschen geben, die ihm näher standen als ich, wenn er denn überhaupt etwas zu übergeben hatte.“

„Hier im Institut warst du aber die einzige Person, mit der er regelmäßig kommunizierte.“

„Ja, das stimmt schon, auch wenn ich es nicht als regelmäßig bezeichnen würde. Oder kommunizieren. Aber sag mal, welche Motive gäbe es hier bei uns? Selbst wenn Oster irgendwelche wichtigen Dateien hätte, die nun weg sind, was könnte er damit machen?“

„Na, zum Beispiel verkaufen. Wenn es irgendwelche Forschungsergebnisse wären, die die Wirtschaft interessiert, könnte ich mir schon vorstellen, dass es für vorzeitige und exklusive Informationen einen Markt gibt.“

„Aber wenn er solche Ergebnisse verkaufen möchte, wird er doch nicht umgebracht.“

„Umgebracht? War es kein natürlicher Tod, Herzversagen oder so etwas?“

„Der Dekan scheint davon auszugehen, dass es kein natürlicher Tod war. Wobei ich nicht weiß, wie er darauf kommt.“

„Die Gerüchteküche beginnt zu brodeln. Aber stimmt, dann müsste es jemanden geben, der verhindern will, dass Herr Oster diese Ergebnisse verkauft. Aber ich glaube, für solche Überlegungen unterhältst du dich besser mit Johann, der ist da irgendwie kreativer“, meinte Katja lachend. „Ich muss mich hier um meine Fakten kümmern.“

Ihre offene Handfläche umschrieb in einem Bogen einen Stapel von Ausdrucken, einigen Büchern und ihren Computer.

Für den Nachmittag nahm ich mir bis auf das Gespräch mit Herrn Peters nichts weiter vor. Da die Kripo nicht sehr weit von unserem Institut entfernt liegt, beschloss ich, dort hin zu Fuß zu gehen. Ich mied den lauten Westring und ging stattdessen entlang der Veloroute über die Hansastraße und dann entlang des Schrevenparks. Das Dienstgebäude machte im Eingangsbereich einen etwas trostlosen Eindruck. Der Empfangsbereich, mit Glas vom Eingangsbereich abgetrennt, war nicht besetzt, doch ließ eine über den Stuhl gehängte Jacke vermuten, dass der Pförtner bald wiederkommen würde. Als ich mir die Regentropfen aus dem Mantel schüttelte, kam ein junger Beamter aus einen der Gänge zum Empfang geeilt und fragte freundlich, ob er helfen könne.

„Ich suche Herrn Peters, ich habe einen Termin bei ihm.“

„Hauptkommissar Peters?“

„Ja, genau, um sechzehn Uhr wollte er mich treffen.“

„Wir haben hier nämlich mehrere Peters, dann will ich mal nachschauen.“

Er betrat seinen abgetrennten Bereich und schlug in einer Liste nach, die an der Wand griffbereit hing. Offensichtlich hatte er die Zimmernummer von Herrn Peters nicht im Kopf.

„Zimmer 218, im zweiten Geschoss.“

Er kam wieder aus seinem Glasanbau heraus und wies mit ausgestrecktem Arm den Gang entlang, aus dem er eben kam.

„Am Ende des Flurs im Treppenhaus in den zweiten Stock, dann rechts halten und auf der rechten Seite die zweite Tür.“

Auch wenn der Eingangsbereich etwas verlassen wirkte, war auf dem angrenzenden Flur und im Treppenhaus viel Betrieb. Einige Bürotüren standen offen und ich konnte teils ordentliche Räume aber auch überquellende Bürotische sehen. Es nahm niemand wirklich Notiz von mir, anscheinend war es normal, dass auch Besucher hier durch die Gänge gingen. Im zweiten Stockwerk ging es dann deutlich ruhiger zu, der Teppichboden schluckte meine Trittgeräusche und alle Türen waren geschlossen. Ich klopfte an der Tür 218 an und trat ein. Vor mir saß an einem Schreibtisch eine Sekretärin, wie ich annahm. Ich nannte meinen Namen und sagte, Herr Peters erwarte mich um sechzehn Uhr. Sie schien über meinen Besuch informiert zu sein und führte mich in ein angrenzendes Zimmer, bat mich Platz zu nehmen und einen Moment zu warten.

Der Raum war spärlich eingerichtet, ein großer Tisch mit sechs Stühlen herum, ein niedriges Regal neben dem Fenster, auf dem eine Grünpflanze dahin kümmerte. Das helle Deckenlicht spiegelte sich auf dem glänzend sauberen Linoleumboden. Ein Bild von einer Berglandschaft hing an der Wand. Sicher ein Relikt eines längst vergessenen Mitarbeiters. Ich verbrachte nur einen kurzen Moment damit, nach einem Insekt in der Grünpflanze Ausschau zu halten (konnte aber keines entdecken), als Herr Peters den Raum betrat oder vielmehr die Tür aufstieß. Mit der Hand auf der Türklinke erteilte er Anweisungen an eine weitere Person, die ich von meinem Platz aus nicht sehen konnte. Dann trat er wirklich ein, schloss die Tür geräuschvoll und drückte mir kräftig die Hand. Er wies auf den Stuhl, von dem ich mich gerade erhoben hatte und ordnete dabei schon einige Papiere, die er aus einem Papphefter heraus holte.

„Wir haben erfahren, dass Herr Oster schon vorgestern nach Kiel gekommen ist, bevor Sie ihn gestern tot in Ihrem Büro aufgefunden haben. Wir interessieren uns für diesen letzten Tag. Können Sie uns etwas dazu sagen?“

So eröffnete Herr Peters das Gespräch und schaute mir gerade in die Augen. Hier im Dienstgebäude trug er nur einen grauen Rollkragenpullover. Zusammen mit seinen spärlichen und sehr kurz gehaltenen grauen Haaren sah er wie ein isländischer Fischer aus.

„Das habe ich Ihnen gestern schon erzählt, ich habe Oster, Herrn Oster, am Morgen im Büro gefunden und vorher nicht gesehen. Ich wusste nicht einmal, dass er nach Kiel kommen wollte.“

„Haben Sie eine Vermutung, wo er sich vorher aufgehalten haben könnte?“

Er machte sich ein paar Notizen und ich überlegte kurz.

„Er übernachtete, soweit ich weiß, immer bei seiner Tante, wenn er in Kiel war. Das hat er mir jedenfalls einmal so angedeutet.“

„Ja, das ist uns inzwischen bekannt, dort war er nicht. Die alte Dame hat keine Ahnung, wo er sich aufgehalten haben könnte.“

„Dann könnte er auch in seinem Auto übernachtet haben. So etwas hatte er schon öfters gemacht. So war das mal bei einem Kongress in Leiden, in den Niederlanden. Er kam etwas spät los, fuhr dann die ganze Nacht durch und schlief im Auto, bis die Tagung dann morgens begann. Weil er es dann versäumte, sich ein Hotelzimmer zu besorgen, schlief er die zweite Nacht auch noch im Auto. Ich selbst war nicht dabei, er hatte es mir nachher erzählt. Warum er das tat, habe ich nie so richtig verstanden, zumal er die Übernachtungen doch von seiner Uni bezahlt bekommt. Aber anscheinend macht es ihm wenig aus, im Auto zu schlafen.“

Es klopfte kurz und eine junge Beamtin trat ein. Sie schloss hinter sich die Tür, reichte mir die Hand und stellte sich als Kommissarin Lund vor. Zwei Dinge gingen mir gleich durch den Kopf: Ich suchte nach der Krimiserie, in der die Kommissarin ebenfalls Lund hieß, in Kopenhagen, in Stockholm? Zum anderen war sie kaum älter als ich, sodass es mir durchaus angeraten erschien, die akademische Laufbahn zumindest einmal zu überdenken und mit anderen Ausbildungswegen zu vergleichen.

Sie setzte sich neben Herrn Peters, mir schräg gegenüber.

„Es bleibt also die Frage, wo war Herr Oster“, nahm Herr Peters wieder das Gespräch auf.

Frau Lund strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und studierte kurz die Notizen von Herrn Peters.

„Seit diesem Kongress war er mehrmals in Leiden, in den Niederlanden“, erklärte ich, „er hatte da zusammen mit einem Kollegen dort von der Uni eine internationale Zusammenarbeit aufgebaut. Er war auch öfters mal nur für einen Tag dort, deswegen komme ich jetzt darauf. Wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen den Namen und das Institut heraussuchen.“

„Welcher Art war diese internationale Zusammenarbeit?“, fragte Frau Lund.

„So weit ich weiß, haben sie zusammen Artikel für wissenschaftliche Zeitschriften verfasst. Aber ich glaube, sie wollten auch einen Projektantrag schreiben. Heute ist es eigentlich unmöglich, ohne internationale Kontakte den Zuschlag für ein Projekt zu bekommen“, fügte ich hinzu, da ich annahm, dass die beiden über die Vergabebedingungen wissenschaftlicher Projekte wenig Bescheid wussten.

In welcher Serie spielte eine Frau Kommissarin Lund mit? Ich nahm mir vor, Hans danach zu fragen. Der müsste es wissen. Einen Augenblick überlegte ich, Frau Lund selbst zu fragen, doch war dies ganz klar dafür nicht der richtige Zeitpunkt.

„Wann war Herr Oster das letzte Mal in Leiden?“, fragte sie.

Ich dachte kurz nach, es musste schon einige Zeit her sein. Er war nach dem Kongress mindestens zweimal in Leiden, vielleicht auch noch öfter. Da er mir nicht alles erzählte, könnte es durchaus sein, dass er dort war, ohne dass ich es wusste.

„Hat Ihnen Herr Oster in letzter Zeit etwas anvertraut, eine CD, eine Akte oder etwas Ähnliches?“, mischte sich Herr Peters wieder in das Gespräch ein. „Auf Ihrem Rechner konnten wir keinen Hinweis finden, keine ungewöhnlichen Dateien oder gespeicherte E-Mails.“

Meine vielleicht nicht ganz legale Musiksammlung fiel offensichtlich nicht in ihren Aufgabenbereich. Ein ganz klein wenig war ich erleichtert. Und doch, da war sie wieder, die Frage nach den geheimnisvollen Daten.

„Jetzt müssen Sie mir mal erklären, warum jeder glaubt, Herr Oster müsste mir kurz vor seinem Tod eine CD gegeben haben.“

„So? Wer glaubt das?“

„Einfach jeder, der mit mir über den Toten spricht. Und nein, ich habe nichts bekommen“, fügte ich hinzu.

„Wer hat Sie danach gefragt?“ Er sah mich an.

„Der Dekan, meine Kollegen, auch mein Mitbewohner, irgendwie jeder, der hört, dass er mein Chef war.“

Er schaute kurz zu Frau Lund hinüber, die sich keine Notizen mehr machte, sondern mich ansah. Dann blickte auch er mir starr in die Augen als erwartete er, dass ich fortfahren würde. Doch hatte ich alles gesagt, was mir dazu einfiel.

Es entstand eine Pause, in der ich erst in seine grauen und dann in ihre blauen Augen schaute. Lund, Lund – oder in Oslo? Auch jetzt schien mir der Augenblick nicht passend zu sein.

„Woran ist denn nun Herr Oster gestorben?“, beendete ich die eingetretene Stille.

Kommissarin Lund machte sich Notizen, Herr Peters holte aus seinem Papphefter ein Papier hervor, welches er mir zuschob.

„Erkennen Sie diese Person?“

Ein Foto aus einer Verkehrsüberwachungskamera. Das Schwarz-Weiß-Bild war gestochen scharf. Die Bilder gleicher Art, die ich bisher von mir gesehen hatte, waren deutlich schlechter in der Qualität. Es lag schon einige Jahre zurück und ich konnte mich spontan nicht mehr daran erinnern, in welcher Höhe ich ein Verwarnungsgeld zahlen musste. Mit frischem Führerschein hatte ich mir den Wagen meiner Mutter ausgeliehen und wollte zu einer Party eines Schulfreundes fahren. Den ersten Teil des Abends verbrachte ich dann etwas zerknirscht. Ich hatte genau in den Blitz geschaut. Das Foto zeigte mich in Großaufnahme mit wenig geistreichem Gesichtsausdruck. Den Wagen konnte ich erst mal nicht mehr ausleihen („Lässt man den Jungen einmal allein fahren.“).

Auf diesem Bild waren alle Details des Autos gut zu erkennen. Das Nummernschild mit einer Kieler Nummer, eine kleine Beule am rechten Kotflügel und sogar die Marke der Zigarettenschachtel auf dem Armaturenbrett meinte ich am Logo erkennen zu können. Nur – der Fahrer war nicht zu erkennen. Dort, wo der Kopf zu vermuten wäre, war nur ein Stück Stoff zu sehen. Zuerst dachte ich, der Kopf würde fehlen, doch dann erkannte ich, dass der Kopf komplett verhüllt war. Der Mensch schien ein Sack über den Kopf gestülpt zu haben.

„Dem werden Sie kaum ein Vergehen nachweisen können!“

„Das ist der Wagen von Herrn Oster, aufgenommen bei Hannover am Vormittag des Tages vor seinem Tod. Erkennen Sie Herrn Oster?“

Erstaunt betrachtete ich das Foto nochmals. Es hätte wirklich jeder sein können. Herr Oster war beim besten Willen nicht zu erkennen. Aber möglich wäre es. Nur was hätte er dort zu der Zeit zu suchen gehabt? Quicklebendig und voller Tatendrang?

„Können Sie sich vorstellen, was Herr Oster dort gemacht hat?“

„Nein, keine Ahnung“, erwiderte ich langsam und betrachtete noch einmal alle Details.

„Wie konnte der denn überhaupt Auto fahren, mit dem Ding über dem Kopf?“

„Das ist ein Pullover, sehen Sie mal genau hin. Wahrscheinlich wollte er ihn gerade an- oder ausziehen, musste dann aber wieder mit beiden Händen ins Lenkrad fassen. Es ist zwar schwer, im Auto einen Pullover auszuziehen, aber durch die Maschen kann man eigentlich noch ganz gut sehen.“

„Oder er wollte so, unerkannt meine ich, von der Kamera geblitzt werden?“

„Sie können ihn jedenfalls nicht erkennen, Armbanduhr, Form der Hände, Fingernägel?“

„Nein, möglich wäre es, aber, nein, eindeutig nicht.“

Er schaute auf das Bild und nickte.

„Frau Lund wird jetzt noch Ihre Fingerabdrücke aufnehmen. Wir müssen die mit den Abdrücken in Ihrem Büro abgleichen.“

Er raffte seine Papiere zusammen und Frau Lund erhob sich. Damit war die Unterredung beendet.

Zusammen mit Kommissarin Lund ging ich in ein benachbartes Büro, wo uns eine Kollegin eine Art Stempelkissen und ein Formular übergab. Die Abnahme meiner Fingerabdrücke war schon vorbereitet, wie ich am Formular erkennen konnte. Mein Name und Anschrift waren bereits eingetragen. Ein wenig fühlte ich mich überrumpelt, aber bevor ich noch richtig überlegen konnte, ob ich mich dagegen wehren sollte, hatte Frau Lund schon meine Hand ergriffen und meine Finger auf das Stempelkissen gedrückt. Warme Hände.

Nach dem Eis

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