Читать книгу Nach dem Eis - Malte Kersten - Страница 7
4. Kapitel
ОглавлениеEs war kälter geworden. Ungewöhnlich kalt. Auch tagsüber unter dem Gefrierpunkt, in Kiel eher selten. Meine Gedanken schweiften umher, ähnlich den tanzenden Schneeflocken. Sie hatten den engen Rahmen meines Forschungsthemas längst verlassen, als Frau Hubertus zu uns ins Büro geschneit kam. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich aus dem Fenster geschaut hatte.
„Ja, wenn ich nicht störe, haben Sie schon gehört?“, fragte sie mich.
„Was gehört? Und Sie stören nie.“
„Dass übermorgen die Beerdigung von Herrn Oster stattfinden wird und zumindest Sie dabei sein sollten. Der Dekan schickt diese Mitteilung herum.“
„Hier? Nicht in Dresden?“
„Ja, hier. Er hatte hier wohl auch noch Verwandtschaft. Die haben das veranlasst“, erklärte Frau Hubertus und hielt mir einen Zettel entgegen. Da sie aber weiter fortfuhr, konnte ich mir das Entziffern der kleinen Schrift auf dem wackelnden Papier in ihrer Hand ersparen.
„Alle Institutsangehörige sollten anwesend sein, von engeren Mitarbeitern von Herrn Oster wird eine Teilnahme erwartet. Dazu gehören Sie und ich wohl auch. Es geht um zwölf Uhr in der Friedhofskapelle los. Ja, das wird eine eisige Angelegenheit“, griff Frau Hubertus meinen Blick zum Fenster auf. Wobei ich nicht sagen kann, ob die Doppeldeutigkeit der Aussage Absicht war. Die Tür sprang auf und Johann kam herein.
„Moin, was ist denn hier los?“, fragte er.
„Übermorgen findet die Beerdigung von Herrn Oster statt. Alle Institutsangehörige sollten anwesend sein, auch Sie“, erläuterte Frau Hubertus.
„Gibt es etwas zu essen?“
Tadelnder Blick von Frau Hubertus.
„Und ziehen Sie sich angemessen an“, sagte sie betont streng, als sie wieder unser Büro verließ.
„Wo soll ich denn jetzt so etwas herbekommen?“, überlegte ich und betrachtete mein kariertes Hemd und die nun schon etwas ausgewaschene Jeans. Gedanklich meinen Schrank zu durchforsten, hatte keinen Sinn. Ich hatte keinen Anzug für solche Anlässe, zumindest nicht in Kiel. Bei meinen Eltern hing noch mein Anzug, den ich zur Hochzeit meiner Schwester getragen hatte. Meine Eltern bestanden darauf, dass ich ordentlich gekleidet war und kauften mir den Anzug. Einmal getragen, dann in den Schrank gehängt. Nein, ein weiteres Mal hatte ich ihn noch hervorgeholt. Zum Vorstellungsgespräch bei Herrn Oster. Ich war dann reichlich overdressed, da Oster selbst sehr legere und unorthodox das Bewerbungsgespräch geführt hatte.
„Glück gehabt, ich habe sogar zwei schwarze Anzüge, den alten kannst du haben“, erwiderte Johann. „Der ist noch ganz in Ordnung.“
Johann ist zwar einen halben Kopf kleiner als ich, aber trotzdem waren damit zumindest meine Sorgen wegen der Garderobe beseitigt. Im Kopf betrachtete ich seinen schwarzen Anzug unter meinem Mantel und kam schnell zum Schluss, dass dies ungefähr dem „angemessen“ von Frau Hubertus entsprechen musste. Super, Problem gelöst.
„Was ist denn mit dir los, gar nicht unterwegs heute?“, begrüßte ich Hans und schüttelte den Schnee aus meinem Mantel. Hans war unerwartet zu Hause. Gequälter Gesichtsausdruck.
„Ich muss nächste Woche meine Hausarbeit abgeben und bin etwas in Verzug. Da muss die Zerstreuung warten“, formulierte er sehr gewählt aber niedergeschlagen.
„Was gibt es Neues aus der Kriminalistik?“, fragte er mit deutlich mehr Energie in der Stimme.
„Eigentlich nicht viel.“
Ich fasste mein Gespräch bei der Polizei und der Beerdigung übermorgen zusammen.
„Übermorgen, das passt perfekt. Nachmittags?“
„Nein, um zwölf geht es los“, erwiderte ich erstaunt.
„Na, macht nichts, das lässt sich arrangieren. Dir ist doch klar, dass die meisten Informationen auf den Beerdigungen zu haben sind, oder? Ich wette mit dir, dass auch deine Freundin von der Kripo dort sein wird.“
„Ich habe keine Freundin bei der Kripo“, erwiderte ich. „Und soll das heißen, dass du zur Beerdigung gehen willst?“
„Na klar gehe ich, das versteht sich doch von selbst. Du allein bist mit der Situation doch völlig überfordert. Doch was ziehe ich an?“
Er schaute sich suchend um, als erwartete er, einen schwarzen Anzug irgendwo hängen zu sehen.
„Aber du bist doch gar nicht eingeladen. Anderseits, wem sollte das auffallen. Wahrscheinlich werden ziemlich viele Leute vom Institut dort sein. Und wenn jemand fragt, bist du der neue Doktorand von Professor XY.“
„So in der Art hatte ich mir das auch gedacht. Ich werde mich umhören, die Augen offenhalten, alle Hinweise aufsaugen, die Verdächtigen befragen und“, nach den dramatischen Gesten eine bedeutungsvolle Pause, „mal sehen wie deine Kripo Freundin aussieht.“
„Ach komm, hör auf, ich kenne sie doch gar nicht. Aber denkst du, ich sollte ihr von der Beerdigung berichten?“, fragte ich nach einer Weile.
„Na klar“, sagte er augenzwinkernd. „Obwohl du da wahrscheinlich etwas spät dran bist. Sie weiß es bestimmt schon.“
Johann brachte mir seinen Anzug zweiter Wahl morgens mit ins Büro. Da der Friedhof und die Kapelle nur wenige Minuten vom Institut entfernt lagen, wollten wir zusammen eine halbe Stunde vorher losgehen. Bis dahin tippte Katja unermüdlich und ich nahm mir vor, den Professor aus Leiden für die Kommissarin herauszusuchen. Ich glaubte, mich dunkel zu erinnern, dass Oster einmal in einer E-Mail den Namen erwähnt hatte. Daher nahm ich mir mein E-Mail-Fach vor. Nach etlichen Filterfunktionen hatte ich den Namen gefunden: Prof. van Basten. Um diese Angelegenheit vom Tisch zu haben, schrieb ich kurz eine Mail an die Kommissarin.
Um elf Uhr zog ich mich um. Der Anzug sah wirklich ganz gut aus. Auch wenn es jetzt die zweite Wahl war. Passend kam unsere hübsche studentische Hilfskraft herein und lachte laut, als sie mich in Unterhose am Arbeitsplatz sah. Sicher aus Verlegenheit, denn zufällig hatte ich meine coolsten Boxershorts an.
Katja zog die Stirn in Falten, als sie meine etwas zu kurze Hose sah. Beim Überziehen der Jacke wurde es nicht besser. Auch die Ärmel waren für ihren Geschmack etwas zu kurz. Doch mit meinem Mantel darüber, der zwar nicht schwarz, sondern grau war, dachte ich, dass ich einigermaßen passabel gekleidet war. Katja hatte einen schwarzen Hosenanzug an und sah wie immer angemessen gekleidet aus. Die Tür ging auf und Johann platzte herein.
„Hey, passt ja perfekt, sieht gut aus!“ Er klopfte mir auf die Schulter. Seine Ärmel- und Hosenbeinlänge entsprach der allgemeinen Norm. Er bewegte sich lässig und ungezwungen. Bei seiner Großgrund-Herkunft war es durchaus denkbar, dass der eine oder andere Anlass eine solche Garderobe erforderte.
Unglaubliche Schneemassen sind die ganze Nacht hindurch vom Himmel gefallen. Zusammen mit einem starken Nord-West Wind häufte sich der Schnee an den Straßenecken zu hohen Wehen auf. Wir machten uns auf den Weg. In einiger Entfernung arbeitete sich eine weitere Gruppe festlich in Schwarz gekleidet wie Pinguine durch den Schnee. Bereits nach dem zweiten Schritt fühlte ich die feinen Eiskristalle an den zu kurzen Hosenbeinen in meine Schuhe eindringen. Mit nassen Füssen in der Kapelle stehen, super Aussichten. Auch Frau Hubertus sah nicht glücklich aus mit ihren feinen, schwarzen Schuhen.
„Wir hätten Schneestiefel anziehen sollen“, murmelte sie, verbissen durch den Schnee und gegen den Wind gehend. Neben uns kam ein Räumfahrzeug vorbei. Mit viel Krach beförderte es den Schnee der Straße auf den Radweg und wir mussten weiter auf den Fußweg ausweichen.
Wir kamen sehr pünktlich bei der Kapelle an, mussten jedoch vor der Tür warten, da eine andere Trauerfeier noch nicht beendet war. Viele Grüppchen dunkel gekleideter Menschen standen im Schnee herum und unterhielten sich. Die Pinguinkolonie. Der auffälligste Pinguin, quasi der Kaiserpinguin, war Hans. Er unterhielt sich angeregt mit einem Professor aus der Bewässerungstechnik. Weitere Doktoranden standen im Halbkreis um beide herum. Als Hans mich näher kommen sah, entschuldigte er sich und kam mir entgegen.
„Wie siehst du denn aus?“, raunte ich ihm zu, als er mit Verschwörermiene neben mir stand. Er lächelte geschmeichelt. Sein Outfit hatte bei mir die gewünschte Wirkung gezeigt.
„Na, vielleicht ein wenig overdressed. Ich habe eine Bekannte beim Theater. Leider hatten sie keinen anderen Anzug mehr. Aber cool, oder?“
Er trat einen Schritt zurück, damit ich ihn in voller Größe bewundern konnte. Ein schwarzer Frack, darunter weißes Hemd mit aufwendiger Rüschchenlösung als Kragen und sicher auch als Manschetten. Die waren aber nicht zu sehen. Weiter, offenstehender Mantel, trotz der Kälte. Mozarts Lieblingsoper vielleicht, ganz sicher nicht einundzwanzigstes Jahrhundert.
„Mach doch wenigstens deinen Mantel zu, dann sieht man das Kostüm nicht so sehr.“
„Geht nicht“, raunte er mir zu und deutete verstohlen auf den abgerissenen Knopf. „Macht aber nichts, es läuft prima. Alle wollen praktisch über deinen toten Professor reden. Ich muss weiter machen, da vorne steht die Witwe, wir sehen uns nachher.“
„Geschiedene Witwe oder Ex-Witwe“, flüsterte ich ihm noch hinterher, aber er war schon wieder weg und mischte sich unter die Wartenden.
Die geschiedene Ex-Witwe war eine unscheinbare Frau mittlere Größe, mittleren Alters. Neben ihr stand ein mürrisch schauender Halbwüchsiger, dessen auffälligen schwarzen Haare das halbe Gesicht verdeckten. Die Haarfarbe sah nicht echt aus, das Desinteresse schon. Weitere Menschen, meist ältere, gruppierten sich um die beiden. Ich selbst war der Familie des verstorbenen Professors vorher noch nie begegnet, daher sah ich es jetzt als übertrieben an, mich vorzustellen. Ich drückte mich und war mir sicher, dass Katja in meiner Situation ganz anders damit umgegangen wäre.
Etwas abseits aller Wartenden erkannte ich Herrn Peters intensiven Blick. Hier war er aus dem gleichen Grund wie Hans. Hoffentlich benimmt sich Hans nicht zu auffällig. Der Schneesturm zerrte an seinem Mantel und ließ den barocken Kragen flattern wie die Trikolore beim Sturm auf die Bastille.
Die Menschenmenge wurde dichter. Alle rückten wegen der Kälte enger zusammen. Da ich viele Gesichter nicht kannte, nahm ich an, dass hier mehrere Trauerfeiern stattfinden sollten. Ich sah den Pastor herauskommen, mit jemanden kurz reden und wieder im Gebäude verschwinden, wobei er einen großen Schritt über einen Schneeberg machen musste. Wie eine zerzauste Krähe. Johann machte eine spöttische Bemerkung, woraufhin Katja ihm ans Schienbein trat. Nur leicht, denn er klopfte sich zwar entrüstet den Schnee von seinem guten Anzug, scherzte jedoch gleich weiter.
Der angegebene Zeitpunkt war langsam überschritten und immer noch war kein Beginn oder Einlass. Wir wurden ungeduldiger, die Kälte kroch unter die Mäntel. Immer noch hüpfte Hans von einer Gruppe zur anderen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man noch auffälliger sich hier bewegen konnte. Das wachsame Auge des Gesetzes lag einen Moment lang auf ihm.
Zwischen dem Rauschen des Windes in den Tannen war eine einsame Glocke von der Kapelle zu hören. Die Gespräche verstummten und alle wandten sich erwartungsvoll dem Eingang zu, der tatsächlich weit geöffnet wurde.
Trotz der Kälte beeilte sich niemand, in die Kapelle zu kommen. In angemessener Ruhe trippelten alle durch die Flügeltür. Katja, Frau Hubertus, Johann und ich blieben etwas im Hintergrund, sodass es noch eine Weile dauerte, bis wir in den beheizten Vorraum der Kapelle gelangten. Hans war weiter vor uns eingetreten und schnell aus meinem Blickfeld verschwunden. Auch Herrn Peters konnte ich nicht mehr ausmachen. Als wir die Kapelle erreichten, war der Raum schon weitgehend gefüllt. Wir fanden hinten noch einige freie Reihen, in denen wir uns niederließen. Dankbar für ein halbwegs warmes Plätzchen.
Vorn war der Sarg aufgebahrt und über und über mit Blumenkränzen bedeckt.
„Einer ist auch von uns, ein Kranz“, raunte mir Frau Hubertus zu, als sie meinen überraschten Blick sah. „Ich glaube, der Dekan hat sich sehr um die Beerdigung bemüht. Die geschiedene Frau von Herrn Oster kam auch nur angereist.“
„Das ist aber nett von ihm“, konnte ich nur entgegnen. Sie nickte ernsthaft.
Mit der Zeit wurden die gedämpften Unterhaltungen etwas lauter. Wir mussten weiter warten. Hans hatte ich noch nicht wieder entdeckt. Herr Peters saß einige Reihen vor uns ganz außen. Herrn Elster konnte ich nicht sehen. Auch hatte ich ihn draußen vor der Tür nicht gesehen, wie mir jetzt klar wurde.
„Wo ist Elster?“, fragte ich Johann. Der beendete die Betrachtung seiner blauen Finger, schaute mich an, hob seine Augenbrauen und sagte: „Beim Buffet?“
„Ach Quatsch, hast du ihn draußen schon gesehen?“
„Nein, habe ich nicht, ich sage doch, der ist schon beim Buffet. Wo wir uns hier noch die Finger abfrieren, haut der sich schon den Bauch voll. Der weiß, wo der Trauerschmaus stattfindet.“
Aus Johann war nichts Genaueres mehr herauszubekommen. Er fror wirklich und war äußerst schlechter Laune. Daher wendete ich mich an Frau Hubertus zu meiner anderen Seite.
„Haben Sie Herrn Elster hier schon gesehen?“
„Nein, jetzt wo Sie es sagen, ich habe ihn heute noch nicht gesehen.“
Merkwürdig. Erst macht er so ein Theater, dass jeder kommen muss und jetzt war er selber nicht da.
Die Trauergäste wurden unruhiger. Der Pastor besprach sich mit einigen aus der ersten Reihe. Herr Peters ließ seinen Blick über die Reihen schweifen. Schuhe scharrten. Verhaltenes Gelächter weiter vorn.
„Mir reicht es“, kam es von Johann. „Noch zehn Minuten, dann geh ich. Ich erfriere hier sonst.“
Der Wind und die Kälte draußen hatten uns so ausgekühlt, dass uns die bescheidene Wärme der Kapelle nicht mehr aufwärmen konnte. Von der Tür her fühlte ich einen kalten Luftstrom meine bloßen Knöchel umfassen. Ich hätte auf den Anzug verzichten sollen.
„So, Schluss jetzt, lass mich mal durch.“
Johann stand auf. Ich setzte mich aufrecht hin, um ihn vorbeizulassen.
„Nun bleiben Sie schon“, sagte Frau Hubertus nicht mehr gespielt entrüstet, als er sich auch an ihr vorbei zwängte.
„Johann, setz dich hin“, bestand auch Katja.
Doch der knurrte nur noch böse und arbeitete sich weiter durch die Reihe hindurch dem Ausgang zu. Dort verschwand er, ohne sich noch einmal umzusehen.
„Der ist aber sauer.“
Katja schüttelte den Kopf.
Der Pastor zupfte ein paar Blumen zurecht und verschob das Mikrofon um dreißig Zentimeter. Der mürrische Halbwüchsige schaute zu Boden oder schien mit seinem Telefon zu spielen. Fairerweise muss ich sagen, dass ich das nicht genau sehen konnte, sondern lediglich vermutete.
Frau Hubertus stieß mich sachte an.
„Sehen Sie mal, wer da kommt.“
Ich blickte zum Ausgang und sah, wie sich Herr Elster den Schnee von seinem Mantel im Gehen abklopfte und vorsichtig nach vorn durchging. So eilig, wie es die Situation gerade noch erlaubte, denn er stützte sich auf zwei Krücken. Ein Fuß steckte in einem Gipsverband. Erstaunt sahen wir uns an, Katja, Frau Hubertus und ich. Ihm im Schlepptau folgte Johann mit einem gequälten Grinsen auf den Lippen. Herr Elster ließ sich von ihm aus dem Mantel helfen und legte diesen auf einem Stuhl ab. Mit einer Geste wies er Johann an, sich auf den Platz daneben zu setzen. Dann humpelte er eilig auf den Pastor zu, der ihm entgegenkam. Beide besprachen sich kurz, Elster deutete auf seinen Fuß, der Pastor schüttelte ungläubig seinen Kopf. Elster setzte sich vorsichtig, der Pastor trat an das Mikrofon und schaute suchend über unser aller Köpfe hinweg. Er verließ noch einmal seinen Platz und eilte mit großen Schritten zum Ausgang.
Frau Hubertus zuckte erschrocken zusammen. Die Orgel hinter uns setzte ein. Würdevoll schritt der Pastor wieder zum Mikro. Alle Unterhaltungen verstummten. Es ging los.
Nachdem die Orgelklänge verklungen waren und der Pastor einen Moment lang schweigend in die Menge gesehen hatte, setzte er an zu reden. Er begann mit einem Zitat aus der Bibel, sagte einiges zum Tod im Allgemeinen und ging dann über, aus dem Leben von Herrn Oster zu berichten. Als er im Lebenslauf beim Institut anlangte, schwieg er wieder einen Moment.
Herr Elster war bereits bei den letzten Worten mühsam aufgestanden (eine Krücke fiel scheppernd auf den harten Boden) und wartete nun mit mehreren Zetteln in der Hand auf seinen offensichtlich abgesprochenen Einsatz. Die Krücken ließ er am Platz. Der Pastor schwieg und Herr Elster starrte den Fußboden an. Dann machte der Pastor den Platz am Mikrofon frei. Herr Elster hüpfte gemessen ans Mikro und sortierte seine Blätter am Pult, räusperte sich und schaute dem Pastor gleich in die Runde, bevor er zu sprechen ansetzte. Er begrüßte die Trauernden, die Familie und die Institutsangehörige, die er mit „meine Freunde“ betitelte. Er brach ab und begann seine Brille mit einem großen, karierten Taschentuch zu putzen. Er schwankte ein wenig, als er die Hände vom Rednerpult nahm. Katja und ich sahen uns an. Es war still im Saal. Herr Elster begann wieder seine Papiere zu sortieren. Er schien ein wenig irritiert zu sein.
„Wir alle haben einen lieben Verwandten, einen guten Freund und einen hervorragenden Wissenschaftler verloren.“
Katja setzte sich aufrechter hin.
„Ich kann mich noch gut an unser erstes Zusammentreffen vor genau neun Jahren und drei Monaten erinnern.“
Er nahm wieder seine Brille ab und hielt sie gegen das Licht.
„Ich war Gastredner während einer Tagung in Dresden und ich hatte noch nicht das Vergnügen, ihn kennen gelernt zu haben. Da ich mich in dem Universitätskomplex nicht auskannte, ging ich am Morgen durch die Flure auf der Suche nach dem richtigen Hörsaal. Es war relativ früh, vielleicht halb acht. Normalerweise ist es zu dieser Zeit sehr ruhig in den Universitäten.“
Der Halbwüchsige mit den wirren Haaren im Gesicht stand auf und ging dem Ausgang entgegen.
Herr Elster fuhr unbeirrt fort. „Wir alle kennen die Vorliebe der Studenten für den morgendlichen Schlaf.“
Hier machte er eine Pause, um dem Publikum Zeit für ein Schmunzeln oder gar leisem Lachen zu lassen.
„Als ich jedoch am Hörsaal sieben vorbeikam, hörte ich ein unglaublich lautes Getöse. Es wurde gerufen und laut gelacht. Ich nahm an, dass dort Studenten herum tobten, vielleicht auf eine Vorlesung wartend.“
Ich sah plötzlich einige Reihen vor mir Hans aufstehen. Er schlängelte sich an seinen Sitznachbarn vorbei dem Ausgang zu. Bei jeder Person entschuldigte er sich, wie ich leise hören konnte. Seine Rockschöße blieben öfters an Stuhllehnen oder Handtaschen hängen, woraufhin seine Entschuldigungen teils noch mit weiteren Worten ausgeschmückt wurden.
„Ich öffnete daher die Tür, um die jungen Leute zur Ruhe zu bringen, und war nicht wenig erstaunt, den werten Kollegen Oster inmitten einer aufgeregten Schar von Studenten zu sehen. Alle diskutierten wild durcheinander, allen voran Kollege Oster. Als sie mich erblickten, trat der Kollege Oster auf mich zu und fragte mich, ob ich einen Moment lang teilnehmen möchte an der Vertiefung von Kennzahlen.“
Hans hatte gerade den letzten Sitz passiert und eilte nun mit weiten Schritten und wehendem Mantel dem Ausgang zu, als Herr Peters sich erhob und sich ebenfalls dem Ausgang näherte. Mein Erstaunen ging in echte Sorge über. Was wollte er von Hans und was, wenn unsere Nachforschungen, bescheiden zwar, aber immerhin, ans Tageslicht kamen?
Herr Elster stockte einen Moment, bevor er weiter fortfuhr. „Er hatte seine Studenten einige Zahlen schätzen lassen, um so die Neugier zu wecken. Wie er mir später einmal sagte, festigte er damit diese Zahlen besser in den Köpfen der jungen Leute. So war er eben, gern dabei, wenn es darum ging, Neues auszuprobieren. Das war unser erstes Zusammentreffen. Daraus sollten noch viele weitere Treffen werden, bis der werte Kollege Oster hier in Kiel die Stelle annahm.“
Ich hatte von dieser Geschichte bisher noch nichts gehört, Katja offensichtlich auch nicht.
„Wie waren denn deine Erfahrungen mit ihm?“, fragte sie mich leise.
„Ich würde sagen, ein pädagogisches Händchen hatte er nicht“, erwiderte ich ebenso leise.
„Ob sich Elster diese Geschichte ausgedacht hat?“
„Psst“, machte Frau Hubertus.
„Na, jedenfalls ordentlich übertrieben, würde ich sagen.“
Ich war mit den Gedanken bereits draußen bei Hans. Sicher traf jetzt Peters auf ihn.
„… aber nicht nur ein großartiger Pädagoge“, hörte ich Elster weiter vortragen, „auch ein vielseitiger Wissenschaftler, der manche kniffelige Frage beantworten konnte.“
Hier ging Elster nicht weiter ins Detail und ich beschloss, auch den Saal zu verlassen. Ich musste eingreifen, bevor Hans in seinem jugendlichen Überschwang etwas Falsches sagte.
„So manches Drittmittelprojekt konnte er für unser Institut gewinnen“, trug Herr Elster gerade vor, als auch ich mich an allen Trauergästen vorbei in Richtung Ausgang vorschob. In Frau Hubertus Blick meinte ich einen echten Vorwurf zu sehen, Katja sah mich eher erstaunt an. Doch auch Herrn Elster blieb mein Abgang leider nicht verborgen.
„Überhaupt, zeigte Kollege Oster viel Geschick beim Umgang mit unseren externen Geldgebern“, sagte er gerade, wobei er mich mit den Blicken bis zum Ende der Stuhlreihe fixierte und in seine Stimme ein Stakkato legte, was mir jedes einzelne Wort um die Ohren fegte. Mit einer Steigerung, die ich in der Mitte der Stuhlreihe nicht für möglich gehalten hätte. Ich bereute meine Entscheidung, als ich endlich den Ausgang erreichte.
Beim Öffnen der Tür, nahm ich aus dem Augenwinkel heraus wahr, dass vorne auch Johann aufgestanden war und behutsam sich dem Ausgang näherte. Ein schwaches Herz hatte Elster nicht. Mit grimmiger Entschlossenheit steigerte er nochmals den Nachdruck in seiner Stimme. Ich verließ den Saal, ohne auf Johann zu warten.
Die Vorhalle war kälter als der Saal und menschenleer. Hans und die anderen mussten also draußen im Schnee warten. Gleich neben dem Eingang fand ich die geflüchteten Trauergäste im Schnee stehen, sich unterhaltend. Der Halbwüchsige mit einer Zigarette im Mund.
„Sie verzichten auf die Rede von Ihrem Professor?“ Herr Peters richtetet gleich das Wort an mich.
Ich winkte ab.
„Die Rede kenne ich schon. Die Ehrungen der Kollegen klingen immer gleich.“
„Werden bei Ihnen häufiger Professoren beerdigt?“, erkundigte er sich sachlich.
„Nein, natürlich nicht, aber irgendwelche Ehrungen finden zwischendurch doch schon mal statt.“
„Aber was macht ihr denn alle hier draußen?“, fragte ich in die Runde, um einerseits von mir abzulenken und vor allem, um schnell zu erfahren, was die drei nun schon besprochen hatten. Dabei sah ich vor allem Hans an, der ein sehr unbekümmertes Gesicht machte. Auffallend unbekümmert.
„Das möchte ich auch gern wissen“, erwiderte Herr Peters mit dem Blick zur Tür, wo gerade Johann herauskam, uns sah und eilig zu uns herüberkam.
Zum Glück antwortete Johann ungewollt für uns alle auf die Frage.
„Was für ein Gesülze! Das hält doch niemand aus!“ Voller Erleichterung sog er die kalte klare Luft ein und wandte sich an Herrn Peters.
„Sie sind doch der Kommissar, der den Todesfall untersucht, wenn ich mich nicht irre, gibt es bei Ihnen auch solche Veranstaltungen?“
„Und Sie sind?“
„Johann Kiekbusch, wir hatten schon kurz das Vergnügen. Als Sie den Toten im Institut in Augenschein genommen hatten“, ergänzte er.
Ich war verblüfft. Johann konnte auch ernsthaft reden. Im Mantel und seinem schwarzen Anzug sah er recht respektabel aus. Wohingegen der kalte Wind wieder um meine Knöchel herum pfiff.
„Mit Ihnen würde ich mich gern kurz unterhalten“, sagte der Kommissar an den Halbwüchsigen gewandt. Dieser zuckte nur die Achseln und spuckte in den Schnee. Der Kommissar sah erwartungsvoll in die Runde bis wir begriffen und uns ein wenig entfernten. Mir war der Gang der Dinge mehr als recht. Ich musste unbedingt erfahren, was Hans schon alles angestellt hatte. Daher war dies auch meine erste Frage, als wir außer Hörweite waren.
„Was hast du dem Kommissar gesagt? Warum bist du dem Halbwüchsigen nachgegangen und überhaupt, auffälliger konntest du dich nicht bewegen?“
„Dem Kommissar habe ich nichts gesagt, dem Stiefsohn deines verstorbenen Professors, falls du den mit 'Halbwüchsiger' meinst, bin ich gefolgt, um in Ruhe mit ihm zu sprechen und auffällig – nun ja, das ist vielleicht Ansichtssache. Jedenfalls haben sich alle gern mit mir unterhalten.“
Hans war ein wenig gekränkt. Ich versuchte durch einen Themenwechsel die Stimmung etwas aufzubessern.
„Kennt Ihr euch? Hans, Johann – Johann, Hans.“
„Hallo.“
„Hallo. Bist du auch bei uns am Institut? Ich glaube, ich habe dich noch nie dort gesehen.“
„Ich habe gerade bei Professor Schmid über den Radumfang von Mähdreschern angefangen zu promovieren.“
„Professor Schmid?“
„Lass sein, Hans, wir sind hier unter uns“, unterbrach ich, bevor es noch abenteuerlicher wurde. „Hans ist mein Mitbewohner. Er meint, hier auf der Beerdigung würde er noch etwas über den Tod von Oster herausbekommen.“
„Hey, cool, dann ermittelst du undercover sozusagen?“
„So etwas in der Richtung, ja.“
„Aber was ist mit dem Fuß von Elster, hat er dir etwas gesagt?“ Ich unterbrach die beiden.
„Ausgerutscht. Irgendwo war nicht gestreut und Elster hat sich einen Bänderriss oder so etwas zugezogen. Kompliziert, daher der Gipsverband. Denn eigentlich wird so etwas nicht mehr gegipst. Aber du kennst ja unseren Elster, es muss immer etwas Besonderes sein.“
Das war es also, das war der Grund für die Verzögerung. Elster ist ausgerutscht. Ganz einfach.
„Was hast du denn schon herausbekommen?“ Johann wollte von Hans einen kurzen Bericht.
Hans holte tief Luft.
„Also, Herr Oster war ständig im Büro, hat immer gearbeitet. Hier in Kiel oder in Dresden, wo er eben gerade war. Er war immer auf der Suche nach weiteren Geldgebern für irgendwelche Projekte, meist erfolgreich. Die Arbeit, die er durch solche Knallköpfe wie dich hatte“, damit sah er mich an, „konnte ihn rasend machen. 'Knallköpfe' war übrigens die Formulierung seiner Exfrau, die im Übrigen auch ihm gegenüber recht harte Worte benutzte. Also aus ihrer Sicht war der Professor ständig am Institut und hat gearbeitet. Und nun kommt es. Die meisten Exkollegen von Herrn Oster waren mehr oder weniger der Ansicht, dass er ziemlich wenig am Institut war und überhaupt eher faul. Obwohl seine Beziehungen zur Wirtschaft wohl wirklich gut waren. Aber darauf hat sich Herr Oster wohl mehr oder weniger ausgeruht. So jedenfalls die Meinungen der Kollegen, die ihn schon länger kannten. Vielleicht auch Neid? Der Halbwüchsige dort“, und damit deutete er auf den Stiefsohn, „hat eigentlich soweit die Meinung seiner Mutter gestützt: Herr Oster war kaum zu Hause und hat zumindest vorgegeben, ständig am Institut zu sein. Interessant ist vielleicht noch, dass er Golf gespielt hatte und in letzter Zeit offensichtlich Geldsorgen hatte.“
„Geldsorgen?“
„Ja, so jedenfalls die Aussage vom Halbwüchsigen. Er wollte im letzten Sommer gern noch mal mit der Familienyacht oder Ex-Familienyacht über die Ostsee schippern, ging aber nicht mehr, da sein Ex-Stief-Vater das Schiff verkaufen wollte. Warum, war auch gleich meine Frage. Der Halbwüchsige meinte, dass es Geldsorgen sein müssten, da Oster wohl das Schiff eigentlich liebte und nun, da er häufiger in Kiel war, auch häufiger nutzte. Und ein neues Schiff wollte er sich nicht zulegen.“
Johann pfiff anerkennend.
„Und was meinst du?“, fragte er mich. „Hat Oster nun gearbeitet oder war er faul und zu Hause?“
„Kann ich nicht sagen. Ich habe ihn nur gesehen, wenn er hier war. Dann allerdings war er meist den ganzen Tag an meinem Arbeitsplatz. Und ich in der Bibliothek.“
„Übrigens, noch etwas Interessantes. Herr Oster war vor einiger Zeit noch einmal bei seiner Ex-Familie. Der Halbwüchsige meinte, er suchte etwas in seinen Kisten, die er noch bei denen stehen hat. Er machte wohl einen ziemlich nervösen oder aggressiven Eindruck.“
„Wann war das denn?“
„Das wusste der Halbwüchsige nicht mehr so genau, vor ungefähr einem Monat.“
„Und was hatte er gesucht?“
„Weiß der Halbwüchsige auch nicht. Überhaupt interessiert er sich wenig für seinen Ex-Stief-Vater, war wohl kein allzu harmonisches Vater-Sohn-Gefüge. Nur die Sache mit dem Schiff, da kam er aus seinem Desinteresse etwas heraus. Er wollte wohl mit ein paar Kumpels einen Segeltörn machen und war richtig enttäuscht, dass das nun nicht mehr ging.“
Wir standen im Schnee und mutmaßten noch ein wenig. Derweil Herr Peters wohl die gleichen Dinge vom Halbwüchsigen hörte, die wir schon kannten.
„Hans, wie beiläufig hast du dich mit dem Halbwüchsigen unterhalten? Wird er gleich Peters sagen, dass du ihm auch schon all die Fragen gestellt hast?“
Der Halbwüchsige schaute beim Reden kurz zu uns herüber.
„Ach was, ganz nebenbei, nein, eigentlich haben wir uns über Heavymetal unterhalten. Gut, dass ich früher in meiner Jugend in einer Metal Band gespielt habe.“
„Hast du?“, fragte ich, als Peters gelassen zu uns herüberkam.
„Hört mal, Männer“, er schlug einen jovialen Ton an und schob mit der Stiefelspitze, Cowboy-Stiefel, Schnee zur Seite, bevor er mir scharf in die Augen sah, „ihr haltet euch ab jetzt aus der Sache heraus. Ich habe keine Ahnung, was ihr mit euren Nachforschungen anstellen wollt, aber ihr behindert unter Umständen damit unsere Arbeit. Wir wissen noch nicht, was wirklich vorgefallen ist. Aber sicher ist“, und hierbei senkte er sowohl die Stimme als auch den Kopf mitten in unsere kleine Runde, „Herr Oster ist keines natürlichen Todes gestorben. Da draußen läuft jemand herum, der aus Gründen, die wir noch nicht kennen, in der Lage ist, zu töten.“
Er schaute jedem von uns in die Augen.
„Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Wir alle wussten nicht, was wir daraufhin antworten sollten. War es jetzt amtlich? Oder hatte er übertrieben, um uns einzuschüchtern. Johann und Hans machten irgendwelche Geräusche, die wie eine Zustimmung klingen konnten.
„Na ja, wir interessieren uns einfach dafür, was mit meinem Doktorvater passiert ist“, setzte ich an.
„Und damit ist jetzt Schluss. Keine Nachforschungen, keine Fragen mehr. Einfach abwarten. Ist das klar?“
Damit ließ er uns stehen und stapfte durch den Schnee wieder zurück ins Gebäude.
Der Halbwüchsige rauchte. Wie alt war er eigentlich?
„In einer Metal Band also, ja?“