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Optimierungsfalle Harmonie

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Konflikte sind anstrengend und passen nicht zu der idyllischen Vorstellung, dass die Familie stets vom Band der Liebe zusammengehalten wird. Reibungen sind unvermeidbar. Wenn der Haussegen schief hängt, ereilen uns typische Gedanken wie: Warum können sich nicht alle ein bisschen zusammenreißen? Schließlich schlucke ich auch alles herunter. Ist es zu viel verlangt, das Gleiche von den anderen zu erwarten? Ja, anscheinend ist es zu viel.

Unser Harmoniebedürfnis basiert auf den Erfahrungen mit Konflikten in unserer Herkunftsfamilie. Wer in seiner Kindheit oft Streit ertragen musste, verbindet damit Ängste wie: Ich werde an meinem wundesten Punkt verletzt. Ich werde mit Liebesentzug bestraft. Ich werde vielleicht für immer verlassen. Hoffentlich droht keine Gewalt.

Andere sind von Kindesbeinen an sturmerprobt und empfinden Auseinandersetzungen als weniger bedrohlich. Sei es, weil sie im Elternhaus einen lösungsorientierten Umgang mit Problemen kennengelernt haben, sei es, weil nach dem reinigenden Gewitter am nächsten Tag alles wieder gut war. So bringen Paare unterschiedlich geprägte Erwartungen an das Harmonie-Level in die neu gegründete Familie mit ein. Was für den einen als harmlose Meinungsverschiedenheit gilt, kann für den anderen schon einen erbitterten Streit darstellen.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht sollte dem Wunsch nach nahtloser Harmonie ebenfalls nicht entsprochen werden. Der Weg zur Individualität der Kinder ist mit Reibungen gepflastert, sonst ist die Ablösung von Eltern und Geschwistern nicht möglich.

Ein weiterer Grund, aus dem die Optimierungsfalle hier zuschnappt: In der harmoniegesteuerten Familie darf es keine Unterschiede geben. Das führt unweigerlich zu Konflikten, weil die verschiedenen Bedürfnisse nicht gewürdigt werden. Wer das Aufblitzen von Unterschieden konsequent unter dem Deckel halten will, versucht, Feuer mit Stroh zu löschen. Denn: Streit entsteht, wenn sich die unterschiedlichen Bedürfnisse, Werte und Ziele der Familienmitglieder überkreuzen. Dann rasseln völlig unterschiedliche Vorstellungen von Richtig und Falsch aneinander. Eltern berufen sich auf ihr Bestimmungsrecht. Kinder pochen auf ihr Selbstbestimmungsrecht. Und Geschwister fordern Gerechtigkeit.

Die Kunst ist es nun, eine Kommunikation zu entwickeln, welche die individuellen Unterschiede in der Familie wertschätzend zur Sprache bringt, ohne sie aus Sorge vor Disharmonie beseitigen zu wollen.

Aus Sicht der systemischen Familientherapie ist das Würdigen und Akzeptieren von Unterschieden ein zentraler Schlüssel zur Konfliktlösung (Bateson 1984). Dazu sollte man wertschätzend miteinander reden.

Ich werde in diesem Buch Möglichkeiten aufzeigen, wie in den verschiedenen Familienphasen die Kommunikation gestaltet werden kann, damit sich destruktive Muster nicht verfestigen.

Konflikte entzünden sich an Problemen. Ich weihe Sie in das Geheimnis ein, wie Sie in der Familie mit der Magie der Bewertung Probleme beliebig herstellen und wieder in Luft auflösen können. Ein Problem entsteht nämlich nur, wenn Sie den Unterschied zwischen einem IST-Zustand und einem SOLL-Zustand negativ bewerten. Zwei Beispiele: Sie betrachten einen IST-Zustand bei einem Familienmitglied (vollschlank) und vergleichen ihn mit dem von Ihnen willkürlich definierten SOLL-Zustand (schlank). Bisher gibt es kein Problem. Das stellen Sie erst wie folgt her: Sie bewerten den Unterschied zwischen IST und SOLL als schlecht. Simsalabim! Und schon erscheint aus dem Nichts ein echtes Problem: „Es ist problematisch, dass du vollschlank bist, weil du nach meiner Bewertung schlank sein solltest!“

Und wie lassen Sie das Problem wieder verschwinden? Sie verabschieden sich von der bisherigen Bewertung. Sobald Sie es nicht mehr negativ beurteilen, dass eine Tatsache (IST) nicht Ihren Wunschvorstellungen (SOLL) entspricht, gibt es auch kein Problem mehr.

Das zweite Beispiel: Eine alleinerziehende Mutter ist mit ihren Nerven am Ende, weil ihr der pubertierende Sohn alle Kraft raubt. Erst geißelt sie sich mit Selbstvorwürfen, weil sie in ihrem erschöpften Zustand die Erziehungsaufgaben nicht mehr nach ihren eigenen Ansprüchen erfüllen kann. Dann bewertet sie den Unterschied zwischen dem IST (Erschöpfung) und dem SOLL (anspruchsvoll erziehen) nicht mehr als negativ. Sie sagt sich, ich steige für eine Weile aus der Erziehung aus, weil ich einfach nicht mehr kann. Natürlich stellt sie weiter die Versorgung und den Schutz des Jugendlichen sicher. Aber durch die Entscheidung, dem „Terror des Solls“ eine Absage zu erteilen, wird großer Druck von ihr genommen und eine spätere Lösung wahrscheinlicher.

Mutproben, um aus der Optimierungsfalle herauszukommen

•Ich verabschiede mich von der Hoffnung, in der Familie einen idealen Soll-Zustand erreichen zu können.

•Ich gönne mir öfter den Luxus, den Unterschied zwischen der Realität und meinem Wunsch-Zustand nicht negativ zu bewerten. So zaubere ich ein Problem weg und mache der Familie und mir das Leben leichter.

•Ich freunde mich mit der Tatsache an, dass ich es in der Familie nicht allen recht machen kann.

•Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf das Erreichte, anstatt auf das noch nicht Erreichte.

•Ich bin gnädig mit mir selbst und verurteile mich nicht mehr, wenn ich meinen (unrealistischen) Ansprüchen nicht genügen kann.

1PEKiP: Prager Eltern-Kind-Programm für Babys, die sich in einer Gruppe mit Gleichaltrigen treffen.

Familie ist nichts für Feiglinge

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