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Kapitel 1 Geht nicht, gibt es! Familien in der Optimierungsfalle Das Märchen von der Selbstoptimierung

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Familie ist nichts für Feiglinge. Wir geben alles für sie, all unsere Liebe, unsere Zeit und unser Geld. Und was bekommen wir dafür? Dicke Luft, lange Gesichter und nur kurze Momente des erhofften Glücks. Schätzungen zufolge investieren wir in ein Kind durchschnittlich 144.000 Euro (Wunschfee.com 2021): Von der ersten Windel bis zum Kleinwagen als Abi-Überraschung. Für die Summe kaufen sich andere ein Reihenhaus in der Provinz. Aber wir haben das Projekt Familie nicht gestartet, um Geld zu sparen, sondern um uns selbst zu verwirklichen.

93 Prozent der Deutschen geben an, dass für ihr seelisches Wohlbefinden die Familie sehr wichtig sei (CosmosDirekt 2019). Das Familienglück hängt für weit über die Hälfte der Befragten von diesen Faktoren ab: Gesundheit, Geborgenheit, Harmonie, gemeinsam verbrachte Zeit, Zufriedenheit und besondere Erlebnisse.

Im Umkehrschluss gelten also Krankheit, Abgrenzung, Unzufriedenheit, Konflikte und Langeweile als großes Unglück. Was für ein Erwartungscocktail! Es ist unmöglich, seine Familie restlos vor Krankheiten zu schützen, Abgrenzungen zu verhindern, jeden zufriedenzustellen, Konflikte unterm Teppich zu halten und jeden Tag als Event zu inszenieren. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung blickt in diesen Abgrund zwischen Anspruch und Wirklichkeit: „Nicht wenige sind unglücklich in ihren Familien. Und die, die glücklich sind, haben viel Arbeit damit (Haupt 2020).“

Noch mühsamer wird diese Arbeit, wenn Eltern mit aller Kraft das Unmögliche möglich machen wollen. Doch: Geht nicht, gibt es! Je mehr der gewünschte Idealzustand angestrebt wird, desto größer wird der Frust über das reale Familienleben. Schließlich möchte man das Beste für seine Kinder herausholen. Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1999) gewinnt diesem Prinzip eine praktische Hoffnung ab: „Ziele nach dem Mond. Selbst wenn du ihn verfehlst, wirst du zwischen den Sternen landen.“

Und die Sterne hängen manchmal verdammt hoch, wenn sie sich überhaupt blicken lassen. Bei aller Anstrengung können wir das Wohlergehen unserer Familie nur bedingt beeinflussen. Es bleibt ein unberechenbarer Prozess, wovon das körperliche und seelische Befinden der einzelnen Mitglieder wirklich abhängt. Dabei ist es nicht leicht, sich gegen die vom Zeitgeist propagierte Selbstoptimierung zu wehren.

In den Buchhandlungen verheißen uns Ratgeber „Jedes Kind kann schlafen lernen“, „Jedes Kind kann Regeln lernen“ und so geht „Erziehung ohne Schimpfen“. Wenn die Gebrauchsanleitung für meine Kinder so einfach ist, kann es ja nur an mir liegen, wenn es nicht rund läuft. Hätte ich mal die richtigen Bücher gelesen. Und angewendet. Die Essenz des Machbarkeitswahns lautet: Wer will, der kann! Und wer nicht (mehr) kann, der wollte nicht richtig.

Zudem scheinen die gegenwärtigen Bedingungen für das Familienglück selten günstig. Die Säuglingssterblichkeit war noch nie so niedrig wie heute. 1870 überlebte rund ein Viertel aller Neugeborenen das erste Lebensjahr nicht. Heute sterben drei von 1.000 Lebendgeborenen (BIB 2021). Unser Gesundheitssystem bietet eine Krankenversicherung, um die uns viele Länder beneiden.

Der Staat ehrt die Familie seit 1953 mit einem eigenen Ministerium, bietet finanzielle Unterstützung (Kindergeld, Elterngeld, Steuerfreibetrag etc.) und garantiert einen Kindergartenplatz. Ab Herbst 2026 hat jeder Anspruch auf die Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Die staatlichen Schulen und Unis sind weitgehend kostenlos. Die Kinder- und Jugendhilfe spannt mit ihren Hilfsangeboten ein soziales Netz für jede Lebenslage. In den „Sonntagsreden“ haben die verantwortlichen Politiker anscheinend alle sozialen Probleme im Griff. Angesprochen auf die Defizite bei der Kinderbetreuung und die Unterfinanzierung der Frauenhäuser in Anbetracht der zunehmenden häuslichen Gewalt, blieb die damals amtierende Familienministerin Giffey gelassen. Sie verwies stolz auf das millionenschwere Investitionspaket des Bundes. Mit großer Zufriedenheit lobte sie ihre Arbeit der letzten drei Jahre mit den Schwerpunkten: „Jedes Kind soll es packen! Wir kümmern uns um die Kümmerer! Frauen können alles!“ (Deutscher Bundestag 2021).

Da wäre ich doch dumm, wenn ich in diesen historisch „rosigen“ Zeiten keine Kinder groß und stark machen könnte. Ich muss es nur wirklich wollen. Aber ist jeder tatsächlich seines Familienglückes Schmied? Oder hat Familie Schmied einfach mal Glück und mal nicht? Und woher kommt überhaupt das Märchen von der Selbstoptimierung?

Narrative sind sinnstiftende Erzählungen, nach denen soziale Gruppen ihr Verhalten ausrichten. Hoch im Kurs steht zurzeit das Narrativ der Selbstoptimierung. Klingt doch verlockend: Ich mache meine Familie „jeden Tag ein bisschen besser“ (REWE). Irgendwann sind wir dann endlich perfekt. Der Optimierungswahn ist kontraproduktiv und menschenfeindlich, weil das Optimale stets unerreichbar bleibt. Ein perfektes Ziel ist nicht messbar und somit schwammig definiert. Es lässt sich nicht erkennen, wann und wie ich den 100 Prozent ein Stück nähergekommen bin. Meine Aufmerksamkeit ist stets nur auf das gerichtet, was nicht ideal ist. Immerhin ist es eine perfekte „Anleitung zum Unglücklichsein“ (Watzlawick 2009). Der nächste Haken: Ich lege mir eine absolute Messlatte, bei der gnadenlos nur alles oder nichts erreicht werden kann (Diesbrock 2021). Es gibt auf der Bewertungsskala lediglich zwei Markierungen: richtig und falsch.

Von den Ködern in der Optimierungsfalle erzählt schon das Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“ (Runge 1984). Ein Fischer hat versehentlich einen verwunschenen Prinzen an der Angel, der als Butt nicht kaputt gehen möchte. Der Deal: Herr Fischer lässt ihn am Leben und der Fisch erfüllt der Familie jeden Wunsch. Frau Fischer wünscht sich erst ein mittelprächtiges Haus, um aus der ärmlichen Hütte rauszukommen. Der Wunsch wird sofort erfüllt. Nach zwei Wochen sieht sie auf Pinterest eine bessere Wohnidee und ordert beim Butt ein Schloss. Nachdem mit dem Schloss die materiellen Bedürfnisse befriedigt sind, muss der Zauberfisch den schnellen sozialen Aufstieg liefern. Frau Fischer fällt rasch die Karriereleiter rauf zur Königin, Kaiserin und Päpstin. Bleibt als Krönung nur noch der Posten von Gott, den sie ebenfalls beim Butt einfordert. Bei dieser „Anmaßung“ schlägt die Moralkeule des deutschen Volksmärchens zu. Zur Strafe sitzen die Fischers sofort wieder in der ärmlichen Hütte vom Anfang.

Ähnlich erging es im echten Leben schon vielen Lottogewinnern, die von der Boulevard-Presse in diesem Stil verspottet werden: „Lotto-Lothar pleite! Nach 3 Millionen kommt jetzt Hartz 4!“

Was können wir aus dem Märchen lernen, um nicht dem Optimierungswahn zu verfallen und am Ende vor einem Scherbenhaufen zu stehen? Anstatt die unerreichbare Perfektion anzupeilen, verfolgen Sie besser kleine und realistische Ziele, wie zum Beispiel:

Ich möchte erreichen, dass jeder sein Geschirr in die Spülmaschine stellt. Ich möchte einen Abend in der Woche Zeit für mich, während mein Partner mir den Rücken freihält. Ab jetzt gebe ich nicht mehr als dreißig Euro für eine Kindergeburtstagsfeier aus. Inklusive Geschenk.

Im Folgenden möchte ich die beiden zentralen Kriterien, die in der oben genannten Umfrage mit einer „glücklichen“ Familie in Verbindung gebracht werden, näher beleuchten: Gesundheit und Harmonie.

Familie ist nichts für Feiglinge

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