Читать книгу Tödliche Mauern - Manfred Brüning - Страница 5

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Dienstag, 9. Dezember

Die Frühschicht schloss den Haftraum zur Lebendkontrolle auf.

»Knieling, was ist los? Noch im Bett? Auf geht’s! Ein neuer Tag wartet auf Sie.«

»Ich glaube, ich bin krank. Ich habe Halsschmerzen, die Nase ist dicht und mein Kopf dröhnt. Mir ist schwindelig.«

»Fieber? Ich benachrichtige den medizinischen Dienst.«

»Nicht nötig. Was von allein kommt, geht auch wieder von allein. Alte Oldenburger Weisheit.«

»Ich melde Sie trotzdem beim medizinischen Dienst an.«

***

Sein Schwiegersohn war auf seiner Joggingtour beim Backshop vorbeigekommen und hatte Brötchen gekauft. Konnert bückte sich und hob seine Tüte von der ersten Stufe der Treppe auf.

Zahra.

Ihr Name streifte durch seine Gedanken. Er goss heißes Wasser in den Kaffeefilter und sah zu, wie die braune Brühe versickerte. Über sich hörte er die Schritte seiner Tochter.

Am Küchentisch blies Konnert über seinen Becher und schlürfte einen ersten kleinen Schluck. Zurückgelehnt auf dem Stuhl, auf dem er schon gesessen hatte, als noch seine Frau das Frühstück für ihn und die beiden Kinder gemacht hatte, überdachte er wieder einmal die Entscheidungen des letzten Sommers.

Zahra. Immer mehr hatte sie ihn herausgefordert. Er erinnerte sich an den Samstag im August. Sie wollte unbedingt mit ihm in einen Hochseilgarten fahren. Er konnte sich den enormen Altersunterschied und die allzu entgegengesetzten Freizeitinteressen nicht mehr schönreden. Sie hatte erst gequengelt und dann versucht, ihn mit weiblichen Tricks umzustimmen. Später hatten sie sich gestritten und ihm war der Satz herausgerutscht, dass er ihr weder den fehlenden Vater ersetzen konnte, noch sich weiter auf ihren sportlichen Lebensstil einlassen wollte. Das war der Anfang vom Ende ihrer Beziehung gewesen. Zahra war es, die schließlich mit ihm Schluss gemacht hatte, nachdem er abgelehnt hatte, dass sie bei ihm einzog. Am 22. September hatten sie sich endgültig getrennt. Herbstanfang. Seitdem frühstückte er wieder allein in seinem Haus und fühlte sich einsam.

Auf der Fahrt ins Kommissariat meldete sich sein Handy. Am Sicherheitsgurt vorbei fummelte er es aus seiner Hosentasche. Rechtsanwalt Keil rief an. Ein fleißiger Mann, stellte Konnert fest, so früh hat er schon den Anrufbeantworter abgehört und ist an die Arbeit gegangen. Sie verabredeten ein Treffen für 11:15 Uhr in seiner Kanzlei.

Im Büro saß Babsi bereits am Schreibtisch und bearbeitete die Tastatur. Das hatte er erwartet. Es kam Konnert so vor, als hätte sie am Wochenende noch mehr zugenommen. Kummerspeck, schoss es ihm durch den Kopf. Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme unter der Brust und überprüfte den Text auf dem Bildschirm.

Konnert war in der Tür zum Großraumbüro stehengeblieben und musste unwillkürlich auf ihre linke Hand blicken. Kein Verlobungsring mehr.

Er ging zu ihr. »Moin, Babsi. Gut, dass du schon hier bist.«

»Moin«, kam es müde zurück. »Vergiss nicht, dass ich für 15 Uhr einen Termin bei meiner Frauenärztin habe.«

»Ich werde daran denken.«

***

Um 8:19 Uhr verließ Michael Otten zum unbegleiteten Ausgang die Haftanstalt. Obwohl ein leichter Graupelschauer niederging, stellte er sich neben das gläserne Haltestellenhäuschen und wartete.

In Gedanken nannte er sich zum ungezählten Mal einen Idioten. Statt nach dem Richtfest ein Taxi zu nehmen und zwanzig Euro zu zahlen, setze ich mich in mein Auto und fahre angetrunken los. So blöd kann auch nur ich sein.

Auf dem Nachhauseweg hatte er dann einem Fiat Panda die Vorfahrt genommen. Die Fahrerin starb noch an der Unfallstelle. Sie hatte eine ihrer Töchter und deren Freundin von einem Discobesuch abgeholt. Die beiden Mädchen mussten schwer verletzt ins Klinikum gebracht werden. Er selbst hatte nur ein paar Prellungen und ein Schleudertrauma erlitten.

Verurteilt wurde er zu zweiundfünfzig Monaten Gefängnis ohne Bewährung, weil er schon zweimal in einer Alkoholkontrolle aufgefallen war. Wegen guter Führung stand für ihn demnächst die vorzeitige Entlassung an.

Der Bus kam und mit ihm stieg ein Mann ein, der Otten trotz der Kälte den Schweiß auf die Stirn trieb.

Vor vier Monaten hatte sich der Fremde zum ersten Mal an ihn herangeschlichen und zu ihm gesagt: »Ich bin Eugen. Mehr musst du von mir nicht wissen.« Er hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und geraunt: »Ihre Frau hat mir freundlicherweise verraten, wann Sie Ausgang haben.« Otten hatte ihm den Kopf zugewandt. Er wollte erst sagen: »Hände weg!«, hatte dann aber nur die Hand angestarrt. Dem kleinen Finger fehlte das letzte Glied. Er meinte, so etwas in einem japanischen Kriminalfilm gesehen zu haben. Der verkürzte Finger war das Erkennungszeichen der Yakuza. Er erinnerte sich daran, weil er sich damals gefragt hatte, ob man dem Schauspieler das Fingerglied tatsächlich amputiert hatte. Es hatte so echt gewirkt. Eugen sah aber mehr wie ein Sinti oder Roma und nicht wie ein Asiat aus.

Nur mit halbem Ohr hatte er zugehört, wie Eugen von ihm verlangte, mit Sascha Knieling eine erotische Beziehung zu beginnen. Er hatte natürlich gezögert und sich geweigert. Dann hatte Eugen damit gedroht, seine Frau oder die beiden Töchter zu entführen und in die Prostitution zu verkaufen. Er hatte ihn angegrinst: »Ich versichere dir, wir haben dazu die Mittel und die Möglichkeiten«. Da hatte er zugestimmt. Seitdem tauchte er immer auf, wenn Ottens Ausgang genehmigt worden war. Er erkundigte sich dann nach dem Fortschritt des Verhältnisses zu Knieling. Otten hatte zunächst ausweichend geantwortet, weil er immer noch nicht glauben konnte, dass es dem Gangster ernst mit der Drohung war. Aber dann hatte dieser ihm von Telefongesprächen mit seiner Frau erzählt und wie gut sie sich verstehen würden.

Da hatte Otten damit gedroht, zur Polizei zu gehen. Eugen hatte ihm dann auf dem Handy einen Film gezeigt. Zwei fast unbekleidete Prostituierte standen am Straßenstrich und fassten sich in den Schritt oder boten ihre Brüste an. Im Hintergrund waren Palmen zu sehen und dunkelhäutige Menschen. »Ihr Vater meinte, er müsse seine Schulden bei uns nicht bezahlen und könnte besser zur Polizei gehen. Die würde ihn und seine Familie beschützen. Kapierst du jetzt, warum ich weiß, dass du nicht zur Polizei gehen wirst?« An dem Nachmittag hatte Otten resigniert.

Am Dienstag vor einer Woche war Eugen ihm in einem Alfa Romeo auf dem Weg von der Bushaltestelle in Tungeln nach Hause gefolgt. Er hatte ihn gezwungen, ins Auto einzusteigen. Dort musste er einen Text auswendig lernen. Wörtlich sollte er den auf einen Zettel schreiben und Knieling heimlich zustecken. »Von mir aus kannst du deine Handschrift verstellen«, hatte er gegrinst. Otten hatte die Anweisung befolgt.

Jetzt schob sich Otten an einzelnen Fahrgästen vorbei in den hinteren Teil des Busses. Auf der letzten Bank saß ein Pärchen und fummelte miteinander. Er ließ sich auf einen Sitz am Gang fallen. Eugen folgte ihm durch den Bus und drängte ihn auf den Fensterplatz. Er zischelte: »Ist alles klar, mein Freund?«

»Ich bringe das nicht. Ich bin Zimmermann. Ich kann mit Hammer, Säge und Beil umgehen. Was Sie verlangen, ist für mich unmöglich.«

»Du wirst es tun. Heute. Denk an deine Frau und deine hübschen Töchter. Was werden sie von dir denken, wenn sie erfahren, was du für eine Schwuchtel bist. Überleg dir das. Dann kannst du es. Weigerst du dich, holen wir die Damen ab.« Er tippte auf seinem Handy herum und ließ einen anderen Film ablaufen. Ein schlanker Mann war darauf zu sehen, der mit Ottens Töchtern sprach und sie offensichtlich belästigte. Eugen verzog das Gesicht zu einem überheblichen Grinsen. »Du machst es. Heute! Stimmt’s?«

Ottens Hände verkrampften sich um den Riemen seiner Sporttasche. Ihm schossen die genauen Anweisungen des Mannes durch den Kopf. Um nicht loszuschreien, hielt er die Luft an, bis im schwindelig wurde.

»Heute! Halte dich an das, was ich dir gesagt habe, und alles wird gut.« Gleichzeitig steckte er Otten einen Schein in die Tasche. »Die nächste Rate, mein Freund.«

An der nächsten Bushaltestelle stieg Eugen aus. Otten sah ihm hinterher und schauderte. Eugen hatte die rechte Hand um seine Kehle gelegt.

***

Eine Stunde nach Dienstantritt meldete sich Konnert wie abgesprochen beim Kriminaloberrat. Wehmeyer saß in Uniform hinter seinem Schreibtisch und las mit einem gelben Marker in der Hand ein Manuskript.

»Ich muss heute Nachmittag einen Vortrag an der Polizeiakademie in der Bloherfelder Straße halten. Willst du das nicht für mich übernehmen?« Er grinste.

»Nein, danke. Das mach du mal. Dafür wirst du ja auch besser bezahlt als ich.«

»Schmerzensgeld.«

»So schlimm?«

Wehmeyer nickte. »Was anderes. Adi, ich kann hier im Haus nicht mit jedem darüber sprechen. Aber mit dir. Es betrifft dich auch.«

Konnert rätselte, was denn wohl so geheimnisvoll sein könnte.

»Du weißt, die Stelle des Leiters vom FK6, Kinder und Jugend, Ermittlungsgruppe Fahrrad, muss zum 1. April neu besetzt werden.«

Konnert hatte schon davon gehört, dass sich der derzeitige Leiter nach Lüneburg beworben hatte und ausgewählt worden war.

»Und was habe ich damit zu tun?«

»Es gibt bisher zwei externe Bewerbungen für die Stelle.« Wehmeyer machte eine Pause. »Und Bernd Venske hat seine Unterlagen auch eingereicht.«

Konnert schwieg. Mal wieder.

»Venske will jetzt Karriere machen und nicht abwarten, bis du deinen Stuhl freimachst.«

Der Kriminaloberrat erwartete vergebens eine Reaktion.

»Nun sag endlich was dazu!«

»Bernd ist ein guter Polizist. Du hast recht, dass er weiterkommen möchte. Was spricht dagegen, dass er sich beworben hat?«

»Die Stelle ist schon vergeben. Die Ausschreibung war nur pro forma wegen der Vorschriften. Steck ihm, dass er seine Bewerbung zurückziehen soll. Sonst gibt es nur unnötiges Gerede im Haus. Du weißt doch, wie die Leute so sind.«

»Wie unfair ist das denn?«

Eine Pause entstand.

Der Kriminaloberrat sah Konnert fragend an. »Ist noch was?«

»Ich … ich brauche auch einen Rat.« Er erzählte von seinem Besuch im Gefängnis. »Der Gefangene machte den Eindruck, dass er tatsächlich um sein Leben fürchtet. Der schauspielert nicht.«

Jetzt war es Wehmeyer, der schwieg.

»Kennst du vielleicht den Direktor der JVA?«

»Kennen? Wir sind uns bei verschiedenen Gelegenheiten begegnet. Koop wird sich schon an mich erinnern. Aber kennen? Ihn so gut kennen, dass ich ihn von einer umgehenden Verlegung überzeugen kann, ohne Gründe zu nennen … Nein.«

Mit zusammengekniffenen Lippen rutschte Konnert auf die Vorderkante des Besucherstuhls.

»Wenn du willst, versuche ich es«, sagte Wehmeyer.

»Lass es lieber. Es war keine gute Idee von mir. Koop ist clever und kombiniert meinen Besuch mit deinem Anruf und wittert doch Kriminelles im Hintergrund. Nein, vergiss es.«

Resigniert lehnte sich Konnert kurz zurück, um gleich wieder aufzuspringen.

Der Oberrat reichte ihm die Hand über den Schreibtisch.

»Mir läuft die Zeit weg«, murmelte Konnert zum Abschied.

***

Auf dem Hörneweg parkten die Einsatzwagen der Spurensicherung. Die Blaulichter auf den Mannschaftswagen einer Hundertschaft der Bereitschaftspolizei blinkten. Zusammen mit den Experten und Mitarbeitern ihres Teams suchte Stephanie Rosenberg die Wiesen und Ufer rechts und links der Haaren in Richtung Osten ab. Sie hofften Spuren im Zusammenhang mit der Vergewaltigung der Studentin zu finden. Die Flüche der Polizisten über das Scheißwetter und den morastigen Untergrund waren verstummt. Nur noch die Geräusche der an Weiden und Steine stoßenden Suchstöcke waren zu hören.

Die Gruppen passierten den Drögen-Hasen-Teich und erreichten die nächste Straße. Im trockenen Sand unter der Brücke fand eine junge Polizistin ein Fahrrad und markierte die Stelle.

Auf dem Quellenweg sei sie unterwegs gewesen, hatte das Opfer am Abend des Vortags ausgesagt. Kurz vor der Einmündung Hartenscher Damm hatte der Mann sie angehalten. Er hatte gefragt, ob sie ein Handy dabei habe und sie für ihn die Polizei anrufen könnte. Als sie in ihrer Handtasche gekramt hatte, ist er dann plötzlich auf sie losgegangen. Sie hatte ihm ihr Fahrrad entgegengeschleudert und war geflüchtet. Er hatte sie aber eingeholt, festgehalten, ihr den Arm über die Schulter gelegt und ihr ein Messer an die Kehle gedrückt. So wurde sie weitergeschoben. Dann hatte er sie losgelassen und vor sich her gestoßen. In der Dunkelheit war sie mehrfach gestolpert. Immer wieder hatte er sie hochgerissen und vorwärtsgetrieben. Über einen langen Holzsteg sei sie getaumelt. Sie konnte sich auch noch an ein Eisenrohr erinnern, an das sie sich geklammert hatte. Wo genau er sie gegen einen Maschendrahtzaun gedrückt und betäubt hatte, das wusste sie nicht genau. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, seien die Schmerzen ihrer Kopfhaut gewesen, als der Mann sie an den Haaren herumgerissen habe.

Ein Zug der Hundertschaft ging weiter an der Haaren entlang. Die beiden anderen Züge durchstreiften das Gelände westlich vom Hörneweg. An den aufgeweichten Wiesenrändern lag nur Müll. Weder das Messer noch die Kleidung des Opfers wurden gefunden. Im Gras der nassen Wiesen und auf den schlammigen Wegen konnte keine brauchbare Spur sichergestellt werden.

Stephanie bedankte sich bei den Frauen und Männern der Hundertschaften für ihren Einsatz. Die Beamten der Spurensicherung gossen noch die Fußspur und Reifenspuren auf beiden Parkplätzen am Drögen-Hasen-Weg aus. Sie hatten wegen der Feuchtigkeit aber wenig Hoffnung, brauchbares Material sicherstellen zu können.

Stephanie und ihre Leute reinigten provisorisch Schuhe und Hosen und begannen dann, die Bewohner der umliegenden Häuser zu befragen. Doch niemand hatte etwas gehört oder gesehen.

***

Michael Otten überlegte, ob er sich eine Verletzung zufügen sollte. Er stand in seinem Holzschuppen an der Kreissäge und schnitt aus gebrauchten Paletten kurze Bretter für den Kaminofen. Immer wieder kamen ihm die Worte des Fremden in den Sinn. Mach bloß keine Faxen. Denk an deine Frau und deine Töchter. Seine Hände zitterten. Das Sägeblatt kreischte im verkanteten Holz auf. Er stellte die Maschine ab und schlurfte in Richtung Haus.

Ein Regenschauer ging nieder. Unter dem Dachvorsprung drehte er eine Zigarette und zündete sie an. Noch immer flatterten seine Finger. Er dachte an das Video mit seinen Töchtern, das Eugen ihm gezeigt hatte, und an die halbnackten Mädchen auf irgendeinem Straßenstrich.

Am vergangenen Freitag hatte er gesagt: Vergiss nicht. Wir sind wie die Bildzeitung. Wohin du auch fliehst, wir sind schon da. Otten schleuderte die Kippe in eine Pfütze und rieb sich die Hände warm.

»Micky! Wo steckst du?«

Er stakste ins Haus. »Ich war nur eine rauchen.«

»Du hast kein Holz mitgebracht. Was ist heute los mit dir?« Seine Frau sah ihm besorgt ins Gesicht.

»Hole ich gleich noch.«

»Hat dich eigentlich dein Kollege abgeholt? Er ist immer so nett und zuvorkommend, wenn er anruft und fragt, wann du das nächste Mal nach Hause kommst.«

»Ja, er ist ein Stück im Bus mitgefahren und hat mir wieder einen Hunderter zugesteckt.« Mit belegter Stimme fügte er an: »Wir müssen ihm dankbar sein.«

»Er kann ja gern mal mitkommen, wenn du uns besuchst, und einen Kaffee mittrinken. Lade ihn doch beim nächsten Mal ein. Ohne seine Unterstützung könnten wir uns manches nicht mehr leisten.«

»Das mache ich. Ich gehe jetzt und hole Brennholz rein.«

Im Schuppen ballte Otten die Faust und ließ die Säge aufheulen.

***

Das Rechtsanwaltsbüro in Wardenburg lag in einer Nebenstraße. Es war in einem ehemaligen Geschäft untergebracht. Die beiden Schaufenster waren mit großflächigen Bildern vom Oldenburger Landgericht und dem Amtsgericht beklebt worden. Im einstigen Verkaufsraum zog ein bis unter die Zimmerdecke reichender, korallenroter Stahlschrank den Blick auf sich. Die spärlichen Regale an ockerbraunen Wänden glänzten papageiengelb und enthielten nur einzelne Akten. Eine ältere Dame empfing Konnert. Ihr Schreibtisch bestand aus zusammengeschraubten Europaletten, über die eine Glasplatte gelegt worden war.

»Mein Sohn erwartet Sie.« Sie stand auf und öffnete eine Tür im Hintergrund. »Enno. Herr Konnert.«

Ein Mann mit hellbraunen Locken und einem gewinnenden Lächeln erschien im Türrahmen. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Hauptkommissar.« Er streckte ihm die Hand entgegen, um sie gleich in einer ausholenden Bewegung einladend zur Seite zu schwingen. »Treten Sie ein in mein bescheidenes Heim.«

An der granitgrauen Stirnwand hingen Diplome, Urkunden und Prüfungszeugnisse in orangefarbenen Holzrahmen. Der Schreibtisch war eine Chippendale-Konsole, die türkisgrün angemalt worden war. Um sie herum standen vier gleichfarbige, aufgepolsterte Barockstühle.

»Bitte nehmen Sie Platz.« Er wartete, bis sein Besuch sich gesetzt hatte, und fragte: »Tee oder Mineralwasser?«

»Danke. Nichts. Sehr freundlich, aber ich will nur kurz bleiben.« Konnert war irritiert von der kunterbunten Farbenpracht. Er überlegte, ob er diesem exzentrischen Juristen zutraute, Knielings Verlegung durchzusetzen. Aber Äußerlichkeiten sollten sein Urteil jetzt nicht bestimmen.

»Herr Keil, Sie waren Sascha Knielings Anwalt. Er steckt in einer äußerst problematischen Situation.« Konnert berichtete, was Knieling ihm anvertraut hatte.

Der Anwalt hörte aufmerksam zu.

»Ich bin hier, um Sie zu fragen, ob Ihnen vielleicht etwas einfällt, was ihm helfen könnte.«

»Es ist nicht meine Art«, antwortete Keil, »so aus dem Augenblick heraus Ratschläge zu erteilen. Ich werde mir Zeit nehmen und über die Sachlage nachdenken. Sie erhalten von mir bis 15 Uhr eine Nachricht.« Damit kam Keil hinter seinem Schreibtisch hervor. »Sie hatten es eilig.«

***

Neben seinem Mittagessen in der Kantine lag der Block mit karierten DIN-A4-Blättern. In der Mitte der Seite hatte Konnert das Wort Verlegung eingekreist. Von da aus führten Pfeile zu Begriffen und Ideen, die ihm zu diesem Stichwort eingefallen waren.

Er schob sich mit der linken Hand Pommes in den Mund.

Keine Lösung schien ihm brauchbar zu sein. Unwirsch strich er eine nach der anderen durch. Das Papier riss ein.

Konnert schrak auf, als Venske sein Tablett ihm gegenüber auf den Tisch stellte. »Mit den Schlägereien vom Wochenende bin ich so gut wie fertig.« Er setzte sich und griff zum Besteck. »Es gibt noch eine schwerwiegendere Anzeige. Ein Albaner hat ein Messer gezogen und einen Griechen an der Hüfte verletzt. Natürlich war bei allen Fällen wieder zu viel Alkohol im Spiel.«

»Ja, das stimmt.«

»Du hast mir überhaupt nicht zugehört.«

»Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Du hast mir überhaupt nicht zugehört.«

»Nein, vorher.«

»Vergiss es!«

Konnert schob seinen Teller zur Seite. »Mir ist aber etwas anderes zu Ohren gekommen. Du hast dich auf die Stelle FK6 beworben.«

»Hätte ich dich erst um Erlaubnis bitten sollen?«

»Natürlich nicht. Aber ich weiß mehr darüber.«

»Ist schon entschieden, dass ich wechseln werde?«

»Die Bewerbungsfrist ist noch nicht abgelaufen. Es ist trotzdem schon entschieden worden. Es tut mir leid, aber du wirst bei uns im FK1 bleiben müssen.«

»Weshalb?«

»Ganz, ganz oben gibt es irgendeine Interessenlage. Da hat einer durchgesetzt, dass jemand anderes die Stelle bekommen soll.«

»Dagegen gehe ich an. Wer steckt dahinter?«

»Lass es. Es ist zwecklos. Du stehst hinterher nur als schlechter Verlierer da. Ich rate dir, zieh deine Bewerbung zurück.«

Wortlos stieß Venske seinen Teller weg, so dass er gegen Konnerts Wasserglas prallte. Er stand auf, wandte sich im Gehen noch einmal um und quetschte zwischen den Zähnen hindurch: »Es gibt auch andere Stellen.«

Konnert war der Appetit vergangen. Eigentlich musste er sich sofort um Venske kümmern. Das verschob er jedoch auf später. Er hatte jetzt schwerwiegendere Probleme und überlegte, wer einflussreich genug wäre, um Knieling formlos verlegen zu lassen.

***

Im Büro der Staatsanwältin glänzten die dicken Blätter des Geldbaums auf der Fensterbank. Sie hat einen grünen Daumen, stellte Konnert fest und setzte sich neben einer Birkenfeige auf den Besucherstuhl.

»Herr Hauptkommissar, wie geht es Ihnen?«

»Danke der Nachfrage.«

»Was kann ich für Sie tun?«

Konnert bemerkte ihr Lächeln und schilderte das Problem mit Sascha Knieling. »Ich laufe von Pontius zu Pilatus und suche nach einer Lösung. Der Gefangene setzt seine ganze Hoffnung auf mich. Er hat niemanden sonst, der ihm helfen könnte. Fällt Ihnen vielleicht etwas ein?«

Erst zog sie die Augenbrauen hoch und machte große Augen, dann zuckte sie mit den Schultern. »Wenn wir ein paar Tage Zeit hätten, dann … Aber von jetzt auf sofort. Da bin ich so ratlos wie Sie.«

Dorothee Lurtz-Brämisch beugte sich nach links und zog eine Schublade ihres Schreibtisches auf. »Ich habe die Adresse des Abteilungsleiters vom Referat 303 im Justizministerium in Hannover. Er ist für die Vollzugsgestaltung und Behandlungsmaßnahmen zuständig. Den kenne ich ganz gut. Manchmal gibt es ...« Sie richtete sich auf. »Aber in der Kürze der Zeit. Nein, selbst auf dieser Ebene passiert nichts so schnell.«

Mit zusammengekniffenen Lippen saß Konnert auf seinem Stuhl und nickte.

Auf der Rückfahrt ging ihm durch den Kopf, er könnte bei der Staatsanwältin seine Zeit verschwendet haben. Er fuhr an der Polizeiinspektion vorbei und parkte vor der Auferstehungskirche.

Auf den Friedhof kamen heute nicht einmal die Witwen, die sich sonst täglich auf den Weg zum Grab machten. Wer wollte auch bei diesem Wetter hier draußen sein. Nur er saß auf seiner Lieblingsbank, blickte über das anonyme Urnenfeld des Neuen Friedhofs, fror und rauchte. Den Mantel eng um den Körper gewickelt, den Kopf nach vorn gestreckt, als wollte er gegen eine Wand anrennen, saß er da. Seine Augen fanden eine bestimmte Stelle auf dem Rasen. Da hatte einmal eine Blumenschale gestanden. Er hatte sie damals minutenlang angestarrt, als er einmal mitschuldig am Tod eines Mannes geworden war.

Werde ich heute einen Mann retten können? Ich habe immer noch keinen Weg gefunden, Knieling zu helfen, betete er still. Die Bedrohung ist für ihn real. Ihm selbst sind keine Lösungen eingefallen. Er setzt alle seine Hoffnungen in mich, den Bullen, der ihn ins Gefängnis gebracht hat.

Zurück im Kommissariat fand Konnert die Nachricht von Anwalt Keil. Er hatte auch keinen Vorschlag machen können.

Konnert ging zum Fenster und sah hinaus zu den kahlen Lindenbäumen auf der anderen Straßenseite. Es gibt immer einen Ausweg, sagte er sich. Aber ihm wollte keiner einfallen.

***

In der geöffneten Haftraumtür drehte sich Michael Otten noch einmal um. Sein Gesicht war gerötet, wie nach einem langen Lauf. Er atmete gleichmäßig. Seine Hände lagen ruhig am Türrahmen. Prüfend schweifte sein Blick durch die Zelle. »Schlaf dich gesund. Gute Besserung. Bis morgen«, sagte er laut. Dann ließ er die Tür zufallen und bummelte die sechs Schritte hinüber zu seinem eigenen Haftraum.

Um 15:24 Uhr öffnete die diensthabende Beamtin Maike Lüttmann die Tür zu Knielings Haftraum vor dem Nachteinschluss. Die Fenstervorhänge waren zugezogen. Das Licht einer kleinen Lampe neben dem Fernseher reichte ihr aus, um den Gefangenen zu erkennen. Er lag mit dem Gesicht zur Wand in seinem Bett. Die Bettdecke war bis über die Schultern heraufgezogen. Unter seinem Kopf konnte Maike Lüttmann das Ende eines Schals erkennen. »Knieling? Alles okay?«

Sie versperrte die Tür und betrat den Raum. Die Tür fiel hinter ihr bis auf einen Spalt zu. Es dauerte knapp eine halbe Minute, bis sie zurück in den Flur kam, die Tür sachte zudrückte, den Riegel umlegte und abschloss.

Otten saß zwei Hafträume weiter an seinem Tisch. Der Fernseher war eingeschaltet. Sturm der Liebe lief. Er achtete weder auf die Telenovela, noch nahm er die Geräusche aus dem Flur war. Starr sah er auf seine Finger, die eine Zigarette nach der anderen drehten.

***

Viel zu oft ließ Konnert an diesem frühen Abend seine Augen durch sein Büro schweifen.

Die Wände waren in seinem Urlaub in einem angenehm hellen Ockerton gestrichen worden. Dorothee Lurtz-Brämisch hatte nach der Renovierung sogar aus ihrem Staatsanwaltsbüro einen Zierspargel und einen Farn spendiert und ihm auf die Fensterbank gestellt. Sie hatte sogar Pflegeanweisungen auf einem Zettel dazugelegt. Bei Vangogh in der Cloppenburger Straße hatte er sich dann drei Kunstdrucke von Gustav Klimt gekauft, sie rahmen lassen und seinem Schreibtisch gegenüber aufgehängt. In der Mitte hing das Bild Farmer’s Garden und links und rechts davon Tannenwald und Birkenwald. Sein Blick blieb an der schlanken Geradlinigkeit der Bäume hängen, die zum Himmel strebten.

Direkt, ohne Umwege, aufs Ziel zusteuern. Dieser Gedanke kam ihm beim Anblick der Bilder in den Sinn, und die vergeblichen Versuche, für Knieling etwas durch die Hintertür zu erreichen. Spontan griff er zum Telefon und ließ sich mit dem Nachtdienst der Justizvollzugsanstalt verbinden.

Ich bin weder Priester, noch unterliege ich in diesem Fall der Schweigepflicht, versuchte er sich zu überzeugen. Wenn ich nur auf diese Weise sein Leben retten kann, dann muss ich eben alles sagen.

»Herr Hauptkommissar, was gibt’s?«

»Ich hatte gestern Nachmittag ein Gespräch mit dem Gefangenen Sascha Knieling. Er eröffnete mir, dass er eine anonyme Drohung erhalten hat und um sein Leben fürchtet. Ich hatte den Eindruck, dass er tatsächlich von seiner Ermordung ausgeht. Er bat mich, dafür zu sorgen, dass er in eine andere Haftanstalt verlegt wird.«

»Herr Konnert, wir werden morgen mit dem Gefangenen über seinen Wunsch sprechen. Das geht hier alles seinen geregelten Gang. Vielen Dank für Ihren Anruf.«

»Aber er fühlt sich bedroht!«

»Er ist bei uns absolut gut aufgehoben, Herr Kommissar. Knieling hat sich heute krankgemeldet. Er ist tagsüber im Haftraum geblieben. In der Zwischenzeit ist der von meiner Kollegin verschlossen worden. Sicherer als in seinem Bett kann er die Nacht nicht verbringen. Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Konnert.«

»Und morgen, wenn die Zelle wieder aufgeschlossen wird?«

»Glauben Sie mir, auch dann ist er unter ständiger Aufsicht. Wir werden ihn besonders im Auge behalten. Wie ich schon sagte, man wird mit ihm alles Weitere besprechen.«

Bei Konnert blieb ein zwiespältiger Eindruck zurück. Einerseits beruhigte es ihn, dass Knieling eingeschlossen in seiner Zelle vor Angriffen geschützt war. Andererseits nagte an ihm der Zweifel, ob es korrekt war, die Bedrohung mitzuteilen. Aber Besseres war ihm nicht eingefallen.

***

Niemand konnte sich noch daran erinnern, wer den Vorschlag gemacht hatte, die Bibel Abschnitt für Abschnitt durchzusprechen und beim ersten Vers anzufangen.

Mittlerweile hieß die Bibelstunde Gesprächskreis, aber der Beschluss von damals hatte noch Gültigkeit. Also lasen die vierzehn Frauen und Männer an diesem Abend den Text im ersten Buch Mose, Kapitel 34.

Dina, die Tochter Jakobs, war vergewaltigt worden, und ihre Brüder rächten die Schande auf grausame Weise mit einem Massenmord.

Konnert dachte sofort an die Studentin und ihre Vergewaltigung am Drögen-Hasen-Teich. Er schwieg. Ein Gespräch kam nicht in Gang.

»Adi, sag du doch mal was dazu. Du bist doch der Fachmann, wenn es um Vergewaltigungen geht.« Die grauhaarige Käthe Nowak neben Pastor Többens errötete. »Du weißt schon, wie ich das meine.«

»Warum nehmen sich Männer Frauen mit Gewalt?«, wollte Uschi Dörkens wissen und beugte sich erwartungsvoll nach vorn.

»Frauen vergewaltigen auch Männer«, ergänzte Renke Brunn.

»Ja, aber nicht so oft wie andersherum«, entgegnete Uschi Dörken.

»Also, Adi, warum?«

»Wollt ihr etwa einen Vortrag von mir über die Ursachen von Gewalt hören?«

»Keinen Vortrag, aber Stichworte, die uns weiterhelfen.«

»So genau weiß niemand, warum einige Männer Frauen gegenüber gewalttätig werden und andere nicht. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze. Die einen sagen, es sind die Gene. Jeder Mann würde das Verlangen in sich tragen, seine Partnerin zu unterwerfen und zu kontrollieren. Nur durch soziale Kontrolle und Strafandrohungen könnte das unterdrückt werden. Andere geben Gewalterfahrungen in der Kindheit als Grund an. Im Feminismus herrscht die Meinung vor, dass es die über Jahrhunderte akzeptierte Unterdrückung der Frauen ist, die immer noch in Gesellschaft und Erziehung nachwirkt. Es gibt auch Wissenschaftler, die eine frühkindliche Hirnschädigung plus ungünstige Familienverhältnisse bei Gewalttätern festgestellt haben.«

Konnert sah sich um. »Reicht das? Es gibt auch noch ein paar Theorien aus Psychologie, Pädagogik und Biologie. Wollt ihr die auch noch hören?«

»Das bringt uns doch nichts für die Auslegung des Bibeltextes«, warf Renke Brunn ein.

Konnert dachte an Sascha Knieling, der sich lieber selbst umbringen wollte, als sich bücken zu müssen. Die missbrauchte Studentin kam ihm auch wieder in den Sinn, und Stephanies Satz: Sie erstickt in Selbstvorwürfen, Flashbacks und ist völlig desorientiert.

»Ich stelle erst einmal fest, dass sich die Männer in den letzten fünftausend Jahren nicht geändert haben«, sagte Käthe Nowak. »Sie meinen, alles mit Gewalt regeln zu können. Dinas Brüder reagierten damals doch auch so und brachten die ganze Familie des Vergewaltigers um.«

Vor zwei Jahren, erinnerte sich Konnert, hatten die schwarzen Engel wie die Brüder gehandelt. Sie rächten gequälte und geschändete Zwangsprostituierte, indem sie deren Peiniger misshandelten, sie ermordeten und auch noch ihre Leichen schändeten.

Für einen Moment träumte er davon, er hätte sich um die Stelle im FK6 beworben und dürfte sich zukünftig nur noch um Fahrraddiebstähle oder pubertierende Jugendliche kümmern. Dann drängte sich der Gedanke an Knieling wieder in den Vordergrund. Liegt er sicher in seiner Zelle, oder hat man ihn schon in eine Gemeinschaftszelle verlegt oder auf die Krankenabteilung?

»Aber was steckt hinter aller Gewaltanwendung?«, fragte Pastor Többens. »Warum fällt uns Menschen zum Beispiel bei Kindesmissbrauch oder Vergewaltigung oder Völkermord als Erstes die Todesstrafe für die Täter ein? Warum gilt immer noch Wie du mir, so ich dir, Auge um Auge, Zahn um Zahn?«

»Weil das gerecht ist«, antwortete Bodo Martsch, der sich bis jetzt still verhalten hatte. »Nur die Angst vor harten Strafen hält die Gene in Schach, wie Adi eben schon ausgeführt hat. Wir brauchen mehr Polizei auf den Straßen und keine Wohlfühlgefängnisse mit Einzelzimmern. Wisst ihr, was die Unterbringung von Kinderschändern und Mördern uns Steuerzahler kostet?«

»Die Todesstrafe ist natürlich die preiswerteste Lösung. Meinst du das, Bodo?« Käthe Nowaks Augen sprühten Funken. »Wenn du so weiterredest, stehe ich auf und gehe.«

Konnert mischte sich wieder ein. »Einzelzellen dämmen die Gewalt in Strafanstalten wirksam ein, Bodo. Denk daran, Gefangene sind Menschen mit den gleichen Gefühlen, Bedürfnissen und Träumen, wie du und ich sie kennen.« Er sprach leise, wie es seiner Gewohnheit entsprach, wenn er innerlich erregt oder wütend war. »Freiheitsentzug ist eine harte Strafe.«

Die Gesichter in der Runde erstarrten. Jeder hatte den scharfen Unterton Konnerts mitbekommen.

Pastor Többens versuchte an die Frage anzuknüpfen. »Was wäre passiert, wenn Dinas Brüder statt Rache zu üben und zu morden, dem Täter vergeben hätten? Wie viel Blut wäre nicht vergossen worden?«

Niemand reagierte.

»Ich weiß, so etwas ist überhaupt nicht leicht zu vergeben. Aber gibt es einen anderen Weg, Blutrache zu beenden?«

Es dauerte, bis Renke Brunn endlich das Schweigen brach und einen weiteren Gedanken äußerte: »Versteht mich nicht falsch. Ich will auf keinen Fall die Schuld für Vergewaltigungen den Frauen in die Schuhe schieben. Aber Fakt ist, dass das Hirtenmädchen Dina doch den Sohn des Stadtkönigs mit ihrem Auftreten und ihrer Schönheit gereizt hat, oder?«

»Richtig«, stimmte Bodo zu, »und deshalb trägt das Mädchen auch eine Mitschuld.«

»Habt ihr sie noch alle?« Käthe Nowak klappte ihre Bibel zu. »Als Nächstes verlangt ihr, dass Frauen entweder im Haus zu bleiben haben oder in der Öffentlichkeit eine Burka tragen müssen.«

»Wir Männer sollten bei diesem Thema besser den Mund halten«, warf der weißhaarige Heinz Lösekamp ein. »Was ratet ihr Frauen uns?«

»Das ist endlich ein vernünftiger Vorschlag. Fragt uns Frauen. Alle Männer in dem Bibeltext reden und feilschen und handeln ständig, ohne auch nur einmal Dina zu fragen. Die, um die es die ganze Zeit geht, wird überhaupt nicht einbezogen. Das ist die eigentliche Ursache von Gewalt gegen Frauen. Männer agieren, als wären die Frauen unmündige Kleinkinder oder Handelsware, über die sie bestimmen oder die sie nach ihrem Gutdünken verhökern können.«

Konnert rutschte nervös hin und her. »Entschuldigt mich bitte. Ich muss noch einmal telefonieren.« Damit packte er seine Bibel und sein Notizbuch ein und ging.

Schon im Flur hatte er sein Handy aus der Hosentasche gefummelt und rief in der Haftanstalt an.

Man sagte ihm, dass Knieling ruhig in seiner Zelle schlafen würde.

***

Otten dachte daran, dass Eugen ihm gesagt hatte, es ginge um Gerechtigkeit. Endlich müsste ein Urteil vollstreckt werden. Er brauche kein schlechtes Gewissen zu bekommen. Es sei sogar eine gute Tat, die er vollbringen würde.

Er hetzte in die Nasszelle und schaffte es gerade noch, den Toilettendeckel zu heben, bevor er sich erbrach. Mit einem schlechten Geschmack im Mund hockte er auf den Fliesen. Es kostete ihn Mühe, sich am Waschbecken hochzuziehen. Schwankend blieb er stehen. Sein Blick streifte den Spiegel. Schnell wandte er sich ab. »Verdammt! Verdammt! Verdammt!«

Um sich abzulenken, begann er wieder Zigaretten zu drehen, bis der Tabakbeutel leer war. Erst dann zündete er sich eine an und legte sich aufs Bett. Die Zigarette war noch nicht aufgeraucht, da stand er schon wieder auf und verschwand erneut in der Toilette.

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Die Beamten in der Sicherheitszentrale der JVA ließen das Objektiv ihrer Infrarotkamera die Gebäudefront absuchen. Sie stoppten am Fenster des Haftraums von Michael Otten. Auf einem ihrer Monitore sahen sie, wie der sonst eher unauffällige Inhaftierte unruhig in seiner beleuchteten Zelle auf und ab tigerte.

Sie entschieden sich dagegen, die Nachtschicht zu beauftragen, bei ihm vorbeizusehen.

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Der Infrarot-Terrassenstrahler über Konnert wärmte seinen Nacken. Er saß mit einer Decke über den Knien in seinem Rattansessel, rauchte und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Ich habe für Knieling getan, was ich tun konnte. Mit einem Mal schoss ihm die Möglichkeit durch den Kopf, dass sich irgendein Mithäftling Knieling gegenüber nur einen schlechten Scherz erlaubt haben könnte. Im Gefängnis gibt es genauso viel Missgunst und Hass wie außerhalb der Mauern. Wenn nicht noch mehr. So recht glauben konnte er dann doch nicht, dass die ganze Aktion nur ein grausamer Jux sein sollte. Aber weiß ich, was in gelangweilten, neidischen, verqueren Köpfen vorgeht?

Seine Augen wanderten über den Rasen, den jetzt sein Schwiegersohn pflegte. Die Kanten waren exakt abgestochen. Zwischen den Stauden in den Rabatten lag das Schreddergut vom herbstlichen Heckenschnitt. War schon richtig, dass der Junge den Garten übernommen hatte. Nur dass er eine Katzentreppe an die Hauswand montiert und die Balkontür aufgesägt hatte, um eine Katzenklappe einzubauen, das hatte Konnert nicht so gefallen.

Er stopfte den Tabak in seiner Pfeife nach. Langsam kam er zur Ruhe. Wie es seine Gewohnheit war, blickte er noch einmal auf den vergangenen Tag zurück. Er dankte für abgeschlossene Tätigkeiten und überließ unbeantwortete Fragen und ungelöste Probleme seinem himmlischen Vater. Wie so oft schloss er sein Gebet mit der Zuversicht, dass morgen ein neuer Tag sein würde. Und wenn nicht, das war seine Überzeugung, dann brauche er sich jetzt auch keine Sorgen um Dinge zu machen, die er nicht mehr beeinflussen konnte. Er hielt es nicht mit Luther, der selbst dann noch einen Apfelbaum pflanzen wollte, wenn er wüsste, dass der Weltuntergang kurz bevorstand.

Tödliche Mauern

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