Читать книгу Tödliche Mauern - Manfred Brüning - Страница 6
ОглавлениеMittwoch, 10. Dezember
»Guten Morgen.«
Der Justizvollzugsbeamte Andreas Brenner schaute zur Lebendkontrolle in Knielings Haftraum. Er sah ihn mit dem Gesicht zur Wand im Bett liegen und erinnerte sich daran, dass der Gefangene im Übergabeprotokoll als krank verzeichnet war. Er regte sich nicht. Der Vollzugsbeamte zog die Tür ganz auf, sah noch einmal den Flur entlang, verriegelte die Tür und betrat die Zelle.
»Herr Knieling, wie geht es Ihnen?«
Der Häftling reagierte nicht.
»Herr Knieling?«
Mit den Fingern stupste der Bedienstete die Schulter des Inhaftierten an. Keine Reaktion. Brenner fasste mit der Hand kräftiger zu, um sie dann wie in Zeitlupe zurückzuziehen. Für einen Moment blieb er unschlüssig stehen. Er sah zur Tür. Niemand stand dort und beobachtete ihn. Zögernd verließ er den Raum und schloss ab.
Brenner ging danach zum nächsten Haftraum und sagte leise, aber bestimmt: »Einschluss!«
»Warum?«
»Weil ich es sage.«
Der Häftling zog sich murrend zurück und wurde eingeschlossen. Sofort gab es Unruhe auf der Station. Überall standen Gefangene in den Haftraumtüren und riefen Fragen in den Flur. Brenner wanderte von Tür zu Tür. Schweigend zeigte er mit dem Schlüssel in die Zellen, und die Männer folgten seinem stummen Befehl.
Brenner hatte die Station gesichert. Er betrat noch einmal Knielings Haftraum. Es dauerte eine ganze Zeit, bis er ihn verschloss. Ohne Hektik erreichte er danach das Stationsbüro, griff zum Telefon und benachrichtigte den medizinischen Dienst.
***
In Grüppchen trafen die leitenden Kommissare zur wöchentlichen Sitzung mit dem Polizeidirektor ein. Konnert nahm diesmal in Vertretung seines Chefs teil. Neben ihn setzte sich Dorothee Lurtz-Brämisch als Vertreterin der Staatsanwaltschaft. »Ist es gelungen, eine Lösung für Ihren Schützling zu finden?«
»Lösung? Ich bin mir unsicher. Gestern Abend fiel mir nur ein, direkt in der Haftanstalt anzurufen und den Sachverhalt zu schildern.«
»Was ist dann passiert?«
»Man hat mir versichert, dass Knieling selig im Haftraum schlafen würde und besser geschützt wäre, als ich in meinem Haus. Damit musste ich mich zufriedengeben.«
Der leitende Polizeidirektor und der Stellvertreter betraten das Sitzungszimmer. Auf dem Weg zu ihren Plätzen an der Stirnseite des Karrees aus zusammengestellten Tischen grüßten sie einzelne Anwesende lediglich mit einem kurzen Nicken. Es kam Konnert so vor, als sähe ihn sein Vorgesetzter besonders lange an. Er erwiderte den Blick, und einen Moment später blätterte er wieder in seinen Sitzungsunterlagen. Den folgenden Ausführungen und Diskussionsbeiträgen der Chefs hörte er nur nebenbei zu. Mit seinen Gedanken war er bei Sascha Knieling.
***
Der Flur lag totenstill da. Brenner öffnete Knielings Haftraum und betrat ihn gemeinsam mit Birgit Lohberger.
Die Krankenschwester löste den Schal vom Hals des Häftlings und legte ihn beiseite. Mit dem rechten Daumen tastete sie nach dessen Halsschlagader. Konzentriert, mit geschlossenen Augen, suchte sie seinen Pulsschlag. Sie sah Brenner an. »Der Mann ist tot.«
Sie ging zum Fenster und kippte die Scheibe. »Meine Mutter hat das immer so gemacht. Das ist ein alter Brauch, damit die Seele zu Gott aufsteigen kann.«
»Wie Sie wollen«, kommentierte Brenner ihr Tun und zog skeptisch die Augenbrauen hoch.
»Weiß man’s? Besser, man macht es. Selbst wenn man nicht daran glaubt. Vielleicht ist ja etwas dran an der Vorstellung einer unsterblichen Seele.«
»Und dann muss die durch ein geöffnetes Fenster fliegen?« Mehr sagte Brenner dazu nicht. Er zeigte nur stumm mit dem Schlüssel auf die Tür. Sie waren hier fertig. Birgit Lohberger folgte seiner Aufforderung, den Haftraum zu verlassen. Er schloss wieder zu.
Sie gingen beide zum Stationsbüro, und die Sanitätsbedienstete versuchte, die Anstaltsärztin telefonisch zu erreichen, da sie den Totenschein ausstellen sollte. Sie war noch nicht im Haus.
Mit einem Becher in der Hand stand Brenner da und fragte: »Auch einen?«
»Nein danke.«
Er nahm sich Kaffee aus der Kanne, löffelte Zucker hinein und rührte um. Es sah so aus, als überdenke er die Stunde seit Dienstbeginn noch einmal. Hatte er alles richtig gemacht? War er vielleicht beim zweiten Betreten des Haftraums zu lange mit dem Toten allein geblieben?
»Tja, so schnell kann es gehen. Vor einer Woche war er ein Häftling mit beispielhaftem Verhalten und einer vorzeigbaren Resozialisierung. Heute ist er tot.« Er zuckte mit der Schulter und trank einen Schluck.
Dann wählte er die Nummer der Sicherheitszentrale, damit die Beamten dort den Inspektor vom Dienst benachrichtigten.
***
In das Mietshaus vom Anfang des vorigen Jahrhunderts hatte man ein modernes Treppenhaus eingebaut. Es roch nach Putzmittel und Frühstückskaffee. Bevor sie klingelte, betrachtete Stephanie Rosenberg einen Augenblick die aufwendig gestaltete Etagentür im zweiten Stock. Die Gardinen hinter den schmalen, farbigen Glasscheiben im oberen Teil der Tür bewegten sich. Erst nach erneutem Klingeln öffnete eine schlanke Frau. Sie trug einen bordeauxfarbenen Hausanzug mit Strassstein-Motiv auf der Jacke. Der Reißverschluss war bis hinauf zum Hals zugezogen. Den geröteten Augen fehlte der Glanz.
»Guten Morgen, Frau Geißendörfer?« Stephanie gab ihrer Stimme einen sanften Klang.
Ein stummes Nicken war die Antwort.
»Wir haben uns gestern schon in der Polizeiinspektion gesprochen. Ich würde mich gern noch einmal mit Ihnen unterhalten.«
»Ich kann jetzt nicht.« Ihr Tonfall tendierte eher zu Ich will nicht, als dass sie ein Zeitproblem hätte.
»Es dauert höchstens eine Viertelstunde.«
»Kommen Sie ein anderes Mal wieder. Ich brauche Ruhe!«
»Es ist gut möglich, dass Sie sich besser fühlen, wenn wir miteinander geredet haben.«
Widerwillig gab Janina Geißendörfer schließlich den Eingang zu ihrer Wohnung frei. Von der Decke des quadratischen Flurs hing ein fünfarmiger Messingleuchter. Die Energiesparlampen waren eingeschaltet. Ein dunkelbrauner Kleiderschrank, aus dem die Türen entfernt worden waren, diente als Garderobe. Zwischen zwei Durchgängen stand eine Kommode, die vom Design zum Schrank passte. Darüber hing ein ovaler Spiegel in einem entsprechenden Holzrahmen. Für einen Augenblick blieb die Kommissarin vor ihm stehen und fasste die vom Wind zerzausten blonden Haare neu zu einem Pferdeschwanz zusammen.
Wortlos war die Studentin im nächsten Zimmer verschwunden. Stephanie folgte ihr in den modern eingerichteten Wohnraum. Die Möbel machten einen hochwertigen Eindruck. Frau Geißendörfer nahm auf einem Ecksofa Platz, zog einen Fuß unter den Po und starrte auf einen großflächigen Kunstdruck an der gegenüberliegenden Wand.
»Ich habe das Protokoll unseres Gesprächs erneut gelesen«, sagte die Kriminalbeamtin und setzte sich ihr schräg gegenüber. Sie wiederholte, was sie schon am Vortag versichert hatte. »Es tut mir sehr leid, was Ihnen passiert ist.«
Ein schwaches Nicken war die knappe Reaktion.
»Schildern Sie mir bitte noch einmal den Ablauf. Sie kamen von ...«
»Nein! Genau das werde ich keinesfalls tun.« Schärfe war in ihrer Stimme. Die Studentin richtete sich energisch auf. »Sie konnten meine Aussage in Ihren Unterlagen nachlesen. Tun Sie das so oft, wie Sie wollen. Ich verliere über den Vorfall kein einziges Wort mehr.«
»Sie würden uns sehr helfen, den Mann zu finden, wenn Sie ...«
»Ich habe abgelehnt. Dabei bleibt es. Akzeptieren Sie das bitte!« Als hätten die wenigen Sätze all ihre Kraft gekostet, sackte sie zusammen. Schlaff lagen ihre Hände auf den Knien. Dann begann sie, stumm zu weinen.
Stephanie rutschte in die Ecke des Sofas und versuchte, die Studentin in den Arm zu nehmen.
»Nicht anfassen.« Ihre Stimme war leise und dennoch bestimmend.
Das Ticken einer Uhr beherrschte die Stille.
Als spräche sie zu sich selbst, flüsterte die Studentin: »Zu Hause werde ich erwartet. Mein Vater hat Geburtstag. Er wird sechzig. Er feiert im großen Stil. An die zweihundert Geschäftsfreunde und Verwandte hat er eingeladen. Auch die gesamte Belegschaft ist da. Ich will da nicht hin! Scheiße! Scheiße! Scheiße! Was bin ich auch für eine blöde Kuh und fahre mitten in der Nacht allein mit dem Fahrrad durch die Gegend.«
»Es ist nicht Ihre Schuld.«
Janina Geißendörfer fiel zurück aufs Sofa, zog die Beine an, schlang die Arme um die Knie und legte den Kopf darauf. Stephanie rückte heran und berührte sie an der Schulter. Dieses Mal ließ sie es geschehen.
An der Wohnungstür wurde Sturm geklingelt. Einem Impuls folgend, wollte Stephanie aufspringen und öffnen.
»Bleiben Sie hier. Das ist bestimmt mein Nachbar.«
»Ich weiß, dass du da bist, Janina. Bei mir steht ein komplettes Frühstück für uns zwei. Nun komm schon«, kam es aus dem Treppenhaus.
»Er tut so, als sei ich seine Freundin. Manchmal gehe ich auch rüber zu ihm, und wir reden miteinander. Ich will ihn nicht sehen. Unmöglich, dass ich mich heute mit einem Mann an einen Tisch setze.«
Im Treppenhaus fiel eine Tür ins Schloss.
»Frau Geißendörfer, ich bin keine Therapeutin, aber ich weiß, dass es allemal besser wäre, wenn Sie den Vorfall Ihrer Familie nicht verschweigen.« Es war für sie völlig ausgeschlossen, in dieser Situation das Wort Vergewaltigung auszusprechen. »Sie benötigen Menschen, mit denen Sie vertrauensvoll über Ihre Gefühle sprechen können. In der liebevollen Atmosphäre von Freunden wird es Ihnen gelingen, wieder in ein halbwegs normales Leben zu finden. Ich könnte Ihnen dabei helfen, eine ...«
»Hören Sie auf damit! Ich studiere Psychologie. Mir brauchen Sie nicht zu erzählen, was ich tun soll. Aber ich kann und ich will nicht darüber reden. Und darum ziehe ich meine Anzeige zurück. Und jetzt gehen Sie bitte.«
Die Kriminalbeamtin spürte, dass es heute aussichtslos war, weiter zu insistieren. »Frau Geißendörfer, auch wenn Sie die Strafanzeige fallen lassen, werden wir unsere Ermittlungen trotzdem fortsetzen müssen. Was Ihnen angetan wurde, ist ein Offizialdelikt. Da gibt es eindeutige Vorschriften.« Zurückhaltender formulierte sie dann: »Ich komme in den nächsten Tagen noch einmal wieder. Wir informieren Sie auf jeden Fall über die Ermittlungsergebnisse.«
Auf halbem Weg zum Flur wandte sie sich noch einmal um. »Soll ich nicht doch Ihre Familie oder eine Freundin anrufen und sie bitten, hierher zu kommen?«
Sie erhielt keine Antwort.
***
Im großen Sitzungssaal der Polizeiinspektion hatte der Direktor den Tagesordnungspunkt siebzehn, interne Verordnungen des Landespolizeipräsidenten, aufgerufen, als ein Telefonklingeln durch den Raum schallte. Ein auffordernder Blick seines Vorgesetzten und der stellvertretende Inspektionsleiter stand auf, ging die wenigen Schritte zu einem Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Er sprach kurz mit dem Anrufer. Dann ging er zu Konnert. Nah an dessen Ohr flüsterte er: »Gehen Sie bitte in Ihr Büro. Sie bekommen dort in einigen Minuten einen Anruf. Ein Todesfall.«
Die Staatsanwältin hatte gezwungenermaßen mitgehört und legte Konnert die Hand auf den Arm.
Er stand auf, war schon fast an der Tür, als er noch einmal zurückkehrte, seine Unterlagen zusammenschob, sie an seine Brust drückte und geräuschlos den Raum verließ.
Mit großen Schritten eilte Konnert am großen Tisch vorbei und ließ sich in seinem Zimmer auf den Drehstuhl fallen. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, und starrte auf das Telefon. Wie oft hatte er sich und anderen schon gesagt, dass Spekulationen in solchen Situationen nur hektisch und unkonzentriert machten. Aber jetzt knetete er seine Finger und faltete sie krampfhaft, um sie stillzuhalten.
Das Telefon klingelte. Er riss die Finger auseinander und griff zum Hörer.
»Konnert.«
»Koop hier. Sie wissen, mit wem Sie sprechen?«
»Ja.« Er atmete tief durch. »Sie rufen wegen Sascha Knieling an?«
»So ist es.«
Es entstand eine kurze Pause. Konnerts Brustkorb hob und senkte sich heftig.
Dann sprach der Direktor der Justizvollzugsanstalt weiter. »Ihr Name ist der Einzige, der in den Akten von Sascha Knieling als Kontaktperson vermerkt ist. Darum rufe ich Sie an. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Herr Sascha Knieling in der vergangenen Nacht verstorben ist.« Koop wartete einen Moment, bis er weitersprach. »Auf dem Totenschein ist von unserer Anstaltsärztin ungeklärte Todesursache angekreuzt worden.«
Mit zusammengepressten Lippen saß Konnert steif auf seinem Stuhl. Er atmete bewusst ein und aus. Doch das beruhigte ihn immer noch nicht.
Koops Stimme klang sachlich: »Knieling wurde schon länger wegen Herzproblemen behandelt. Darum vermutet unsere Ärztin, dass ein Herzversagen vorliegen könnte.«
»Herzversagen?« Konnert zog die Augenbrauen hoch.
»Endgültig wissen wir das natürlich erst, wenn die Rechtsmedizin ihren Bericht geschrieben hat.« Er informierte im gleichen Tonfall wie zuvor. »Jetzt sind der Kriminaldauerdienst der Polizeiinspektion 2 und die Spurensicherung bei der Arbeit. Die Staatsanwaltschaft ist informiert.«
Konnert überlegte einen Augenblick. »Herr Koop, ich komme am späten Vormittag zu Ihnen. Ich würde gern unter vier Augen mit Ihnen sprechen. Ist das möglich?«
»Selbstverständlich.«
»Vielen Dank. Noch eine Frage. Befindet sich die Leiche Knielings schon in der Rechtsmedizin?«
»Die Polizei beauftragte das Bestattungsunternehmen Bressler. Sie transportiert den Leichnam in die Pappelallee.«
»Gut. Ich habe hier noch etwas zu erledigen. In einer Stunde bin ich bei Ihnen.«
»Ich erwarte Sie.«
Mit den Unterarmen auf den Lehnen seines Bürostuhls und mit geschlossenen Augen ließ sich Konnert zurückfallen.
***
Leise zog Stephanie die Tür zur Wohnung von Janina Geißendörfer zu. Musik klang aus der Nachbarwohnung in den Hausflur. Leon Braas stand auf dem Türschild. Sie klingelte.
Er öffnete. »Kommst du doch noch?«, waren die ersten Worte des hoch aufgeschossenen Mannes. Und dann: »Entschuldigung. Ich dachte, meine Nachbarin käme zu mir rüber. Was kann ich für Sie tun?«
»Sie könnten mich hereinlassen und mir eine Tasse Kaffee anbieten.« Stephanie machte eine kurze Pause. »Ich bin Kriminalbeamtin und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Dann kommen Sie mit in die Küche. Ich frühstücke gerade. Gleich hier links.« Er ließ ihr den Vortritt.
Es war für zwei Personen gedeckt. Eine Kerze brannte und ein Blumenstrauß stand auch dabei. Auf einem Teller lag eine angebissene Käsebrötchenhälfte.
Er schenkte ein und schob den Brötchenkorb in ihre Richtung. »Greifen Sie zu. Ich wollte meine Flurnachbarin mit einem schönen Frühstück auf andere Gedanken bringen. Sie hat mein Klingeln wohl nicht gehört.«
Stephanie ließ ihn reden.
»Sie sind hier, weil Janina Anzeige erstattet hat. Ich weiß Bescheid. Wir trafen uns gestern Abend im Treppenhaus. Sie hat mir gegenüber angedeutet, dass sie von der Polizei kommt und Anzeige erstattet hat. Wenn es wegen dem ist, was ich vermute ...« Er machte eine kurze Pause. »Schlimm. Ganz schlimm.«
»Können Sie mir etwas über den Freundeskreis Ihrer Nachbarin sagen?« Stephanie nippte an ihrem Kaffee.
»Ich weiß, warum Sie das fragen. Sexuelle Übergriffe passieren meistens durch Menschen aus dem Familien- oder Bekanntenkreis. Das stimmt doch, oder?«
Sie ignorierte seine Frage und wartete.
Braas lachte. »Wir verkehren in völlig unterschiedlichen Freundeskreisen. Sie studiert Psychologie, ich Hörtechnik und Audiologie. Sie liebt Diskussionsrunden und Partys mit vielen Leuten, ich gehe zu Lesungen oder ins Theater und anschließend vielleicht noch in einen Pub. Wir haben außerhalb dieses Hauses kaum Berührungspunkte. Obwohl wir seit zwei Jahren Tür an Tür wohnen, kann ich Ihnen wirklich so gut wie nichts über Janinas Freundeskreis sagen.«
»Finden Sie, dass Frau Geißendörfers Tagesablauf vorhersehbar ist? Das heißt, kommt Sie zum Beispiel regelmäßig zu gleichen Uhrzeiten nach Hause?«
»Nein. Ganz im Gegenteil.« Er zeigte wieder sein offenes, sympathisches Lächeln. »Und außerdem lausche ich nicht mit dem Ohr an der Tür und führe Buch darüber, wann sie geht oder zurückkommt.«
»Natürlich.« Ihr Kaffee war zwischenzeitlich ausgetrunken. »Wo waren Sie am Sonntagabend zwischen 22 Uhr und Mitternacht?«
»Hallo!« Leon Braas Gesicht veränderte sich blitzschnell. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn. »Ende des Gesprächs.«
»Keine Antwort ist auch eine Antwort.«
»Denken Sie, was Sie wollen. Solange ich nicht unter Verdacht stehe, muss ich Ihnen keine Auskunft darüber geben, wo ich mich aufgehalten habe.«
***
Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast, dachte sich Bernd Venske. Vor ihm lagen Ausdrucke der aktuellen Zahlen aus dem Landesanalysezentrum des BKA in Niedersachsen.
Ihn interessierte besonders die organisierte Kriminalität. Für ihn nicht nachvollziehbar, gingen die schweren bandenmäßigen Straftaten kontinuierlich zurück.
Er sah hinüber zu Konnert und bemerkte dessen Unruhe. Wieder einmal rätselte er, was seinen Vorgesetzten seit Montag beschäftigte.
Aus einem Schrank mit Hängeordnern suchte er die offizielle Akte Tschabo Dumitrescu heraus. Seit Jahren versuchten die Staatsanwaltschaften in Bremen und Oldenburg, ihm Straftaten im Bereich der Schutzgelderpressung, Prostitution, Drogenhandel, Geldwäsche und sogar Auftragsmord nachzuweisen. Immer hatte er entweder ein wasserdichtes Alibi gehabt oder ein Team spitzenmäßiger Anwälte wies nach, dass die ihm vorgeworfenen Verbrechen von anderen Tätern begangen worden waren. Oft kamen die an seiner Stelle verurteilten Kriminellen aus Rumänien. So entstand der Begriff der Rumänenbande.
Für Venske, und nicht nur für ihn, stand fest, dass Dumitrescu an allen Delikten direkt oder indirekt beteiligt gewesen war. Wie sollte er sonst mit seiner klitzekleinen Immobilienagentur so ein Vermögen angehäuft haben. Sie gehörte in der Zwischenzeit zu den drei besten Adressen, wenn es sich um Wohn- und Industrieimmobilien handelte. Verschiedene Bau- und Entsorgungsbetriebe gehörten auch zu seinem Imperium.
Ihm muss doch etwas nachzuweisen sein, ärgerte sich Venske und blätterte Prozessunterlagen, Zeitungsberichte und eigene Aufzeichnungen durch. Er stieß sich erneut daran, dass Dumitrescu zwar 1957 in Rumänien geboren worden war, aber jetzt die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Und außerdem fehlten die Jahre 1971 bis 1973 im Lebenslauf. Wehrdienst hatte er auch nicht abgeleistet.
Mit ein paar schnellen Klicks loggte er sich in die elektronische Ermittlungsakte ein. Die Bremer Kollegen hatten sie aktualisiert. Zusammen mit Beamten der Finanzverwaltung hatten sie die Steuererklärungen der vergangenen Jahre von Dumitrescus Firmen und Beteiligungen überprüft. Soweit sie das bis jetzt geschafft hatten, schien alles in Ordnung zu sein.
»Verdammt noch mal!«
***
Herzversagen. War Knieling so krank gewesen? Konnert stand am Fenster. Er hatte die Scheibe gekippt und blies den Rauch seiner Pfeife nach draußen.
Plötzlich lehnte Stephanie in der Tür. »Ist etwas vorgefallen, Adi?«
»Es gibt Menschen, die sind bedauernswert einsam auf der Welt.«
»Du sprichst nicht von dir, oder?«
Ein Lächeln flog über sein Gesicht. »Nein, bestimmt nicht. Du kennst mich doch. Manchmal muss ich sogar vor zu vielen Leuten fliehen und mich auf dem Friedhof verstecken.« Sofort wurde ihm mulmig zumute. Natürlich fühlte er sich seit der Trennung von Zahra bisweilen einsam. Er versuchte, gelassen zu bleiben.
»Von wem redest du denn dann?«
Konnert erzählte ihr, wie er Knieling kennengelernt und dann total aus dem Blick verloren hatte und auch vom Brief am Samstag und dem Gespräch am Montag. »Und in der vergangenen Nacht ist er plötzlich gestorben. Was hältst du davon?«
»In einer Haftanstalt ist es extrem schwierig, jemanden umzubringen.«
Er nickte. Nachdenklich, mit den Fingern an der Nasenwurzel, sah er seine Mitarbeiterin an. »Und was gibt es bei dir?«
»Janina Geißendörfer will nicht mehr über den Vorfall sprechen. Sie verdrängt die Vergewaltigung. Wir wissen, dass das schlecht für sie ist. Aber was kann ich machen?« Sie erwartete keine Antwort, blickte Konnert nur forschend mit ihren blauen Augen durch die Brillengläser an.
»Stephanie, du kriegst ihn trotzdem.«
Konnert blickte an Stephanie vorbei auf die Bilder an der Wand.
»Adi, was denkst du?«
»Treffen wir uns heute noch zur Besprechung am großen Tisch? Gibt es Berichtenswertes von eurer Sitzung mit den Herren aus der oberen Etage?«
»Ja, ja. Machen wir.« Konnert war mit seinen Gedanken wieder in der Justizvollzugsanstalt. »Ich muss noch mal weg. Wenn ich zurück bin, können wir uns zusammensetzen.«
Er merkte kaum, dass Stephanie die Tür hinter sich ins Schloss zog.
Konnert wurde es zu eng im Büro. Er musste raus und Weite um sich haben. Aus der linken oberen Schublade suchte er eine Pfeife aus, stopfte sie und ließ sie in der Jackentasche verschwinden. Auf dem Weg zum Fahrstuhl meldete er sich bei Stephanie ab. »Um zwei Uhr bin ich zurück. Dann reden wir miteinander. Sag den anderen Bescheid.«
Keine zehn Minuten brauchte Konnert bis zu seiner Lieblingsbank auf dem Friedhof. Nasskalt wehte ein Lüftchen über die Rasenfläche des anonymen Urnenfeldes. Hochnebelartige Wolken hingen am Himmel. Es war ein trüber Tag.
Knieling war tot. Er hatte es verhindern sollen, hatte es versucht, aber nicht geschafft. Die Knie aneinandergedrückt, mit den Händen unter den Achseln, saß er zusammengekrümmt im Mantel da und sinnierte. Eigentlich geht mich der Mensch nichts an. Er ist ein Täter, sogar ein Wiederholungstäter, ein Fremder, und doch fühle ich mich so elend, als wäre er ein Freund gewesen und ich schuld an seinem Tod.
Er zog die gestopfte Pfeife aus der Manteltasche und zündete sie an. Der Polizist in ihm übernahm die weitere Reflexion.
Herzversagen? Eine natürliche Todesursache aufgrund von Stress in einer beängstigenden Situation? Möglicherweise. Für die Anstaltsleitung wünschenswert. Alles andere würde das positive Bild der JVA in der Öffentlichkeit beschädigen.
Selbstmord? Mehr als unwahrscheinlich. Also doch Mord? Wer hatte die Gelegenheit dazu in einem Gefängnis, unter ständiger Beobachtung, hinter verschlossenen Türen? Hatte ihn jemand vor dem Nachteinschluss vergiftet? Wie sonst sollte man einen Häftling in der JVA umbringen? Aber woher bekam man das Gift?
Konnert bibberte und schlug die kalten Füße aneinander. Noch mehr Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Wer hatte einen Vorteil von Knielings Tod? Wer ein Motiv? Ein Mithäftling? Die Justizvollzugsbeamtin Lüttmann, die ihn als Letzte lebend gesehen hatte?
Irgendwas war falsch am Tod von Sascha Knieling. Davon war Konnert jetzt überzeugt. Er schloss die Augen.
Konnert schüttelte die Kälte aus den Gliedern, reckte sich und ging zu seinem Auto, um in die Cloppenburger Straße 400 zu fahren.
Die Beamten an der Pforte erwarteten ihn. Nach einer kurzen telefonischen Rücksprache mit der Frau im Vorzimmer des Anstaltsleiters brachte ihn ein Bediensteter ins dritte Obergeschoss.
An einem runden Besprechungstisch empfingen ihn Gerd Koop und seine Stellvertreterin. Auch Andreas Brenner war anwesend. Sie reichten einander die Hand und setzten sich.
Doch kein Vieraugengespräch, stellte Konnert fest.
»Wir haben in der Zwischenzeit vom Inhalt Ihres Anrufs gestern Abend erfahren«, begann Koop das Gespräch. »Ich habe bereits mit der Vollzugsbeamtin Maike Lüttmann gesprochen. Sie kommt erst wieder zum Spätdienst in die Anstalt. Sie bestätigt, dass Knieling zum Nachteinschluss allein und krank in seinem Haftraum gelegen hat. Es gab keine außergewöhnlichen Beobachtungen. Der Nachtdienst hat bei seinen regelmäßigen Rundgängen weder Unregelmäßigkeiten noch Unruhe bei ihm festgestellt. Alle Häftlinge waren in ihren Hafträumen eingeschlossen. Auch die Kameraüberwachung des Flurs weist keine Auffälligkeiten auf.«
Dann schilderte Andreas Brenner, wie er Knieling am Morgen vorgefunden hatte und welche Maßnahmen in die Wege geleitet worden waren.
»Alles so, wie es den Vorschriften entspricht«, kommentierte Koop.
Die stellvertretende Anstaltsleiterin schob Konnert Kopien der ärztlichen Niederschrift und des Totenscheins zu. Er überflog die Zeilen und nahm sich vor, die medizinischen Fachbegriffe mit Frau Dr. Landmann vom Institut für Rechtsmedizin durchzusprechen.
»Sascha Knieling hat mir, wie Sie wissen, von einer Todesdrohung berichtet. Er ist gestorben. Sehen Sie da einen Zusammenhang?«
Die Miene von Gerd Koop veränderte sich um eine Nuance. War er bis jetzt äußerst angespannt gewesen, so glätteten sich jetzt die Fältchen um die zusammengekniffenen Augen. »Knieling selbst war das bestimmt nicht bewusst«, versuchte er zu erklären, »aber bisweilen hinterließ er bei anderen Inhaftierten einen überheblichen, für einige Mitgefangene sicherlich einen arroganten Eindruck. Er hatte kleine Privilegien, größere finanzielle Spielräume, und damit auch Neider. Gibt es dann Streit um Kleinigkeiten, ist es denkbar, dass einer ihn anmacht und sagt: Ich bring dich um. Wenn wir von solchen Vorkommnissen Kenntnis bekommen, überwachen wir die infrage kommenden Personen auf besondere Weise. In den vergangenen Tagen wurden keine Beobachtungen gemacht, die in die Richtung einer ernsthaften Bedrohung gedeutet hätten.«
»Herr Brenner«, Konnert ignorierte Koops Ausführungen, »können Sie mir mehr über die Herzerkrankung von Knieling sagen?«
Der Beamte blickte zum Anstaltsleiter. Koop antwortete für ihn: »Unsere Anstaltsärztin ist leider im Moment unabkömmlich. Sie bittet Sie, sie zu entschuldigen. Was die Krankengeschichte des Patienten Knieling angeht, unterliegen wir der Schweigepflicht.« Er fügte mit einem leicht gereizten Unterton hinzu: »Wie Sie ja sicherlich wissen.«
»Natürlich.«
Für die Leute hier, sagte sich Konnert, ist Knieling an Herzversagen gestorben. Das steht für sie außer Frage. Seine Intuition ließ ihn aber zweifeln. Ihm fielen allerdings keine Gegenargumente ein.
»Eine Frage hätte ich noch. Ist der Haftraum des Toten schon aufgeräumt und gereinigt worden?«
Dieses Mal antwortete die Stellvertreterin für ihren Chef: »Die Kriminaltechniker hatten ihre Arbeit gegen elf Uhr beendet. Da sahen wir keinen Grund, den Besitz des Gefangenen nicht aufzulisten, zu verpacken und den Raum wieder herzurichten.«
Konnert dachte daran, dass Sauberkeit zu den Prinzipien der JVA Oldenburg gehörte, die zu ihrem Erfolgskonzept geworden waren.
»Danke, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch genommen haben.«
Beim Händeschütteln mit Gerd Koop meinte Konnert, eine gewisse Erleichterung bei ihm feststellen zu können. Das verstärkte sein Misstrauen. Er wollte Koop nicht zu sehr in Sicherheit wiegen und sagte: »Eine Bitte hätte ich nun doch noch. Könnte ich mir einmal den Haftraum ansehen?«
»Herr Brenner wird Sie mitnehmen. Und sollte dann noch etwas ungeklärt geblieben sein, wenden Sie sich gern an mich.«
Auf dem Flur der Station B2 wischte der Stationsarbeiter Rolf Beeken mit weiten Schwüngen den hellen graublauen Fußboden. Der Inhaftierte sah auf. Brenner und Konnert stiegen mit großen Schritten über den Wischmopp. Dann machte sich erst Erstaunen auf seinem Gesicht breit und danach ein freches Grinsen. »Adolf Konnert, dieser fromme Feigling. Dich habe ich ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber deine Visage würde ich jederzeit wiedererkennen. Endlich kommst du auch in den Knast.«
Für den Bruchteil einer Sekunde stockte Konnert der Atem. Brenner wandte sich um: »Machen Sie Ihre Arbeit, und lassen Sie den Hauptkommissar in Ruhe.«
»Kommissar! Oho! Dann will ich nichts gesagt haben.« Beeken grinste ihn an und schwang wieder den Feudel.
Knielings Haftraum war aufgeräumt und gründlich gereinigt worden. Der Geruch von Putzmitteln hing in der Luft und überdeckte die letzten Ausdünstungen von Zigarettenrauch. An der Holzleiste zum Anheften von Bildern war ein Fetzen Tesastreifen hängen geblieben. Brenner zupfte ihn ab. Im Regal darunter herrschte Leere. Über dem Bett aus Buchenholz lag eine glattgezurrte Decke. Die Tür zur Nasszelle stand einen Spaltbreit offen. Nichts deutete noch darauf hin, dass hier vor weniger als vierundzwanzig Stunden ein Mensch gestorben war.
»Wo sind Knielings Sachen?«, wollte Konnert wissen.
»Was die Kriminaltechniker nicht mitgenommen haben, wurde zur Kleiderkammer gebracht.«
»Könnte ich mir die einmal ansehen?«
»Nein. Zu Knielings Sachen gehörte ein Briefumschlag mit der Aufschrift Testament. Ein Bote brachte den Umschlag zum Nachlassgericht. Wer auch immer das Erbe antritt, der ist dann Ihr Ansprechpartner. Mit dem werden Sie sich über die Klamotten verständigen müssen.« Er machte eine kurze Pause. »Sie sollen ja die einzige Bezugsperson für Knieling außerhalb der Anstalt gewesen sein. Möglicherweise fällt Ihnen ja der Nachlass zu.«
Die Beamten verließen den Haftraum. Beeken lehnte an der gegenüberliegenden Wand und hielt den Stiel seines Putzwerkzeugs mit beiden Händen fest. »Du weißt nicht, wer ich bin. Stimmt’s?«
Konnert wusste genau, wer da vor ihm stand. Er antwortete nicht.
»Ich sage nur Schützenhaus Buchholz.«
»Stehen Sie hier nicht rum! Sehen Sie zu, dass Sie fertig werden!« Zu Konnert gewandt, sagte Brenner: »Wiederholungstäter. Er meint ständig, alle und jeden zu kennen. Denken Sie sich nichts dabei.«
Wenn das so einfach wäre, dachte Konnert. Ihm fiel die Nacht ein, die zur Beendigung der Freundschaft mit Beeken geführt hatte. Und es war keine angenehme Erinnerung. Um die muss ich mich endlich auch einmal kümmern, beschloss er.
***
Dem Gefühl nach hatte Otten am Vormittag mehr Zeit auf der Toilette verbracht als im Arbeitsraum. Dreimal war ein Bediensteter gekommen und hatte ihn aufgefordert, zurückzukehren. Jedes Mal gab er sich Mühe, dem Unterrichtsstoff zu folgen. Es ging nicht. Sein Magen und Darm rebellierten. Er hatte Durchfall. Mehrfach hatte er aufgestoßen und dann den bitteren Schleim heruntergeschluckt.
Otten meldete sich schließlich krank.
Er bekam einen Termin beim medizinischen Dienst. Brechdurchfall lautete die Diagnose. Weil möglicherweise Ansteckungsgefahr bestand, kam er auf die Krankenstation.
***
Die Besprechung am großen Tisch zog sich hin. Stephanie berichtete frustriert von den mageren Ermittlungsergebnissen. Venske versuchte, sie mit netten Worten zu motivieren. Der Versuch scheiterte.
Babsi sagte: »Auch von mir gibt es keine neuen Informationen.«
Konnert schilderte kurz die Erkenntnisse aus der JVA.
»Adi, wenn ich dir richtig zugehört habe, dann glaubst du nicht an einen natürlichen Tod von Sascha Knieling.« Venske wollte sich vergewissern.
Babsi reagierte. »Und wie stellst du dir vor, dass jemand in einer verschlossenen Zelle umgebracht wird?«
»Ich weiß doch auch nicht, was da tatsächlich vorgegangen ist.«
»Wie viele falsche Todesursachen stehen jedes Jahr in Deutschland auf den Totenscheinen?«, fragte Stephanie in die Runde.
Venske hatte die Zahlen im Kopf. »Je nachdem, welche Statistik du zugrunde legst, sind dreißig bis sechzig Prozent fehlerhaft.«
»Und Herzversagen wird in sehr vielen Fällen angenommen.«
Konnert fasste sich an die Nasenwurzel. »Auf Knielings Schein steht unbekannte Todesursache. Ein Kollaps ist die Vermutung der Anstaltsärztin und des Anstaltsleiters. Wir warten die Obduktion ab. Dann sehen wir, ob es ein Fall für uns ist oder nicht.«
»Du solltest deiner Intuition folgen«, meinte Babsi, »meistens liegst du damit doch nicht verkehrt. Rede mit der Staatsanwaltschaft.«
Fünfundzwanzig Minuten später teilte Frau Lurtz-Brämisch per E-Mail den Termin der Obduktion im Institut für Rechtsmedizin mit. Donnerstag, 9:30 Uhr.
Kurz vor Feierabend stellte man dann einen Anruf aus der JVA zu Hauptkommissar Konnert durch. Er hatte sich kaum gemeldet, als eine Frauenstimme loslegte. »Ich war am Vormittag verhindert, an der Besprechung in Sachen Knieling teilzunehmen. Wäre ich anwesend gewesen, hätte ich Ihnen aus meiner langjährigen Praxiserfahrung meine Vermutung zweifelsfrei begründen können. Der Inhaftierte war über zwei Jahre in meiner Behandlung, so dass ich Vorerkrankungen und seinen aktuellen Krankheitszustand in meine Beurteilung einfließen lassen konnte.«
Konnert ließ die Ärztin erst mal reden. Das Wort mein kam ihm in ihrem Redeschwall schlicht weg zu oft vor.
»Das wird natürlich auch die Obduktion unwiderlegbar feststellen. Und zukünftig sollten Sie dann meine medizinischen Einschätzungen nicht mehr infrage stellen. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«
Da fühlt sich aber jemand ganz gehörig auf den Schlips getreten, dachte Konnert und räumte weiter seinen Schreibtisch auf.
***
Bei Bültmann & Gerriets drängelten die Käufer. Viele hatten begriffen, dass Beratung und Empfehlungen der ausgebildeten Buchhändlerinnen ein Zusatzgewinn zum Flair schön dekorierter Buchregale bedeuteten. Und schon vor dem Kauf ein Buch in der Hand zu halten, erste Abschnitte zur Probe zu lesen, um dann zu entscheiden, ließ die Zeit in einer Buchhandlung zum Erlebnis werden. Anders als im Onlinehandel.
»Opa!« Sein Enkel Lasse quetschte sich auf der Treppe zwischen zwei Frauen durch und strahlte ihn an. »Willst du mir englische Krimis kaufen?«
»Da liegst du völlig daneben. Du bekommst von mir erst im Januar dein Geschenk, wenn die Englischnote im Zeugnis im grünen Bereich liegt.«
»Und wenn nicht? Was machst du dann mit den Krimis?«
»Ich lege sie weg. Vielleicht gibt es im Sommer eine Chance, sie dir zu schenken.«
»Also kaufst du hier doch Krimis.«
»Ich schwöre. Ich kaufe heute keine Bücher für dich.« Er freute sich am Gesicht seines Enkels. Es sah so aus, als könne Lasse sich nicht entscheiden, ob ihn sein Opa foppte oder ob doch Enttäuschung angesagt war. »Du könntest mir aber helfen, ein Buch für deinen Vater zu finden. Was liest er denn so zurzeit.«
»Zu spät, Opa.« Lasse hielt eine Papiertasche der Buchhandlung in die Höhe. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«
Sie verabschiedeten sich, und Konnert drängelte sich durch zum Tresen, um die bestellten und schon bezahlten Krimis für Lasse abzuholen.