Читать книгу Im Bann der bitteren Blätter - Manfred Eisner - Страница 10
4. Vernehmung
ОглавлениеDie ganze vergangene Woche, die ich in Kiel verbringen musste, war sehr anstrengend, und es war mühsam, aus den beiden festgenommenen – der Vorschriften halber muss man hierzulande bis zur endgültigen Überführung etwaiger Delinquenten unbedingt die drollige Bezeichnung „mutmaßlichen“ voranfügen – Drogendealern und der Mörderbande etwas Brauchbares herauszubekommen, vermerkt Nili in ihrem Tagebuch. Nachdem Oma Clarissa früher häufiger aus ihren Tagebüchern vorgelesen und Nili so viele interessante Begebenheiten aus der Familiengeschichte, aber auch von den ereignisreichen Tagen der Flucht aus Nazi-Deutschland und aus dem bolivianischen Exil der Großeltern, ihrer Mutter Lissy und Onkel Oliver erfahren hatte, regte sie dies ungemein an, diesem Beispiel Folge zu leisten. So begann sie in ihrem ersten Jahr am Hamburger Gymnasium damit und hielt in unregelmäßigen Abständen immer diejenigen Erlebnisse fest, die ihr bedeutend und erwähnenswert erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg und vor allem wegen ihres unglücklich verlaufenen und abrupt beendeten Liebesverhältnisses mit einem vielversprechenden Pianisten hatte sie dies für längere Zeit unterbrochen. Als sie vor drei Jahren zur Kriminaloberkommissarin befördert worden und dann auch nach Oldenmoor zurückgekommen war, nahm sie sich fest vor, das Tagebuchschreiben wieder mit größerer Regelmäßigkeit aufzunehmen. Seitdem hält sie vor allem jene interessantesten Fälle schriftlich fest, mit denen sie in Berührung kommt. Allerdings tut sie dies nicht handschriftlich wie früher, sondern tippt ihre Aufzeichnungen auf der Tastatur ihres Laptops und speichert die Texte auf einer eigens dafür bestimmten und zur sicheren Aufbewahrung getrennten Festplatte.
Als Hauke und ich uns im Gebäude der Bezirkskriminalinspektion Blumenstraße beim Dienststellenleiter, dem Ersten Kriminalhauptkommissar Harald Sierck, und seinen beiden Mitarbeitern, den Kriminaloberkommissaren Sascha Breiholz und Steffi Hink, meldeten, war auch der Kieler Oberstaatsanwalt, Dr. Hinrich Harmsen, zugegen. Nachdem sich alle gegenseitig vorgestellt hatten, gab es eine umfassende Lagebesprechung, die von Waldi Mohr, der ein wenig später dazugestoßen war, geleitet wurde. Jeder Anwesende trug sein Teilwissen zu dem umfangreichen und sehr verzwickten Fall vor. Sascha und Steffi berichteten von dem tot aufgefundenen Ralph Westphal. Der Obduktionsbericht von Professor Kramm wurde vorgelesen; daraus ergab sich definitiv eine erhöhte Kokaindosis mit ungewöhnlich hoher Reinheit der Droge als Ursache für dessen Tod durch Herzversagen. Außerdem gab es deutliche DNA-Spuren auf der Kleidung des Toten, die auf wenige Stunden zuvor stattgefundenen Geschlechtsverkehr hinweisen. Wäre da nicht die kurz darauf erfolgte Festnahme der als hochgradig verdächtig eingestuften Drogenbande erfolgt und eine sehr wahrscheinliche Verwicklung wegen des Kontakts von mindestens zwei ihrer Dealer mit dem Toten gegeben, hätte man keine Handhabe zur Verfolgung eines vermeintlichen Tötungsdeliktes gehabt. Es war mein Hinweis über den Abstellort von Ralphs Fahrrad am Lübecker Hauptbahnhof, der die Spur zu der Drogenbande und letztendlich zu ihrer Festnahme führte. Die DNA wurde inzwischen identifiziert und wies eindeutig auf die festgenommene junge Palästinenserin hin. Hauke Steffens und ich berichteten von dem erfolgten Einbruch mit Fahrzeugdiebstahl, der nach Auffinden der beiden ermordeten und danach verbrannten Frauen in der Nähe Oldenmoors zufälligerweise zwei anderen Mitgliedern derselben Bande aufgrund der an diesem Tatort gesicherten Reifenspuren und Fingerabdrücke zweifelsfrei zugeordnet werden konnten. Auch die beiden Morde und die Brandlegung auf dem Bauernhof gingen auf das Konto der zwei Russen, denn die danach anlässlich der Kieler Razzia gefundene Makarov-Pistole trug die Fingerabdrücke des einen und konnte von der Ballistik zweifelsfrei dem in einem der Totenschädel gefundenen 9 mm-Geschoss zugeordnet werden. Schmauchspuren auf seiner Kleidung verdichteten dieses Indiz. Auch eindeutige Spuren von Superbenzin, das als Brandbeschleuniger verwendet wurde, hafteten an der Kleidung beider Verdächtigen. Oberstaatsanwalt Harmsen dankte uns allen für die gute Arbeit und äußerte sich über das zustande gekommene Resümee sehr zufrieden. Die zusammengetragenen Indizien reichten wohl für eine Anklage der beiden Russen wegen Einbruchs, Autodiebstahls und Mordes aus. Natürlich konnten auch die von Waldi Mohr aufgelisteten Funde an Drogen, Geld und Waffen im Versteck der Drogenbande zweifelsfrei all deren Mitgliedern zur Last gelegt werden. Schwieriger sei es allerdings – ohne eindeutige Geständnisse der Täter –, deren Verwicklung in einen willig herbeigeführten Tod des Ralph Westphal nachzuweisen. „Das ist wohl Ihre nächste Aufgabe, Frau Oberkommissarin Masal. Wie ich höre, besitzen Sie wertvolle Sprachkenntnisse, um vielleicht zwei der Festgenommenen zum Reden zu bringen. Vor allem wollen wir auch herausfinden, wer der festgenommene Lateinamerikaner wirklich ist und wie er in die Angelegenheit verwickelt ist. Fangen Sie am besten mit diesem Kerl an, lassen wir die Frau noch ein wenig schmoren. Sie dürften an diese schon wegen ihrer sie belastenden DNA an Westphals Kleidung sowieso leichter herankommen. Versuchen Sie es, viel Glück dabei!“
***
„Buenos días, Señor impostor4 Alejandro Vazques!“
Nili ist gleich nach dem Mittagessen zusammen mit Hauke Steffens in die Untersuchungshaftanstalt in der Faeschstraße gefahren. Sie haben dort ihre Berechtigungsformulare zur Vernehmung der zwei Festgenommenen vorgezeigt. Jetzt sitzen beide Oberkommissare erst einmal jenem sogenannten Alejandro Vazques gegenüber. „Sabemos que tu no te llamas así y que tu pasaporte español es falso!“ Nili konfrontiert ihn mit ihren Erkenntnissen über seinen falschen Namen und Pass. Der derart Angesprochene ist von Nilis Frontalangriff in fließendem Spanisch offensichtlich überrascht. „Damit du es weißt“, fährt Nili fort, „wir wurden inzwischen von der Guardia Civil in Las Palmas de Gran Canaria über eure letzten drei gescheiterten Operationen umfassend informiert. Im Oktober, November und Dezember letzten Jahres wurden eure Drogen-Transportsegler Liberty Belle, Meguem und Pericles von Zoll und Polizei in den kanarischen Hoheitsgewässern aufgebracht und dabei insgesamt etwas mehr als zweieinviertel Tonnen Kokain gesichert. Was für’n Pech aber auch, nicht wahr? So viele Millionen Euro futschifutschi! Deine Bosse haben sicher vor lauter Freude Luftsprünge gemacht. Dabei wurden auch sieben deiner Kumpane – Serben, Tschechen, Ukrainer und Spanier – festgenommen, der achte, nämlich du, konnte sich allerdings offensichtlich unbemerkt von Bord der Meguem abseilen und war seitdem verschwunden. Die Guardia Civil untersucht zurzeit noch, wen du auf der Kanarischen Insel Hierro bestochen hast, um dir diesen Pass zu beschaffen, denn der wurde dort ausgestellt. Also sag schon: Wer bist du und wo kommst du wirklich her? Wenn du brav mit uns kooperierst, kann dies nur zu deinem Vorteil sein, dann gibt’s Knastrabatt!“
Der Angesprochene verzieht keine Miene und wendet stumm den Blick von Nili ab.
„Na denn, auch gut, wenn du nicht reden willst! Dein Pech ist allerdings, dass wir es schon längst wissen!“ Nili wirft einen kurzen Blick auf ein Fax, auf dem auch ein Foto ihres Gegenübers zu erkennen ist. „Du bist also Francisco José Villegas, geboren in Cali, Colombia, am 24. Dezember 1982, bei deinen intimen Amigos besser bekannt als Paco-Pepe. Diesmal aber gelang es uns durch einen riesen Zufall, jenen allseitig gesuchten, berüchtigten Transportstrategen und einfallsreichen Organisator für den Versand und Kokainhandel in Europa zu fangen. In deinen Kreisen wirst du nicht zuletzt auch ‚El Genio‘5 genannt, weil du trotz beharrlicher Verfolgung immer wieder wie ein Geist entkommen bist und dich wie in Rauch aufgelöst hast. Du bist also jenes sagenhafte Phantom, das uns endlich ins Netz gegangen ist. Wie in Aladins Märchen geschehen, wird nun dieser Geist in eine Flasche mit dichtem Korken gesteckt, aus der er für sehr, sehr lange Zeit nicht mehr entkommen kann! Wunderst dich wohl, Don Paco-Pepe, woher wir das alles wissen? Nun, die spanischen Kollegen haben in deiner Koje auf der Meguem so viel aufschlussreiches Material, darunter auch deinen richtigen Pass, gefunden. Dies alles reicht bei uns, um dich für mindestens fünfzehn Jahre ins Kittchen zu stecken, vielleicht aber schieben wir dich schon nach drei Jahren in die USA ab, wo dir weitere fünfzig oder sechzig Jahre blühen, weil die Amis ja ganz besonders scharf auf dich sind. Oder vielleicht doch lieber nach Kolumbien? Was dich dort erwarten mag, kannst du dir selbst am besten ausmalen!“
Villegas gibt sich noch immer ungerührt. Nili steht vom Vernehmungstisch auf und macht eine Geste in Richtung Hauke. „Komm, wir gehen! Ciao, du Genie Paco-Pepe. Süße Träume!“ Bevor Nili dazu kommt, an die Tür zu klopfen, um aus dem verschlossenen Sicherheitsraum herausgelassen zu werden, verlautet es sehr leise: „Un momentito, por favor, Señorita Comisaria!“
Als hätte er sich plötzlich verwandelt, sprudelte es geradezu aus Villegas heraus, so als wollte er jetzt mit einem Mal seine gesamte Last an Missetaten loswerden. Ich gebot ihm kurz Halt und schaltete den Bandrecorder ein, um seine allumfassende Beichte festzuhalten. Er sprach zweieinhalb Stunden ohne Pause und ich brauchte danach fast zwei ganze Tage, um seine Aussage ins Deutsche zu übersetzen. Er gestand so ziemlich alles, was wir schon, und noch vieles mehr, das wir bisher nicht wussten. Dennoch hatte ich irgendwie so ein Gefühl, er halte eine ganz besonders wichtige Information zurück, die er keineswegs preisgeben wolle. Nachdem wir mit ihm fertig waren und seine Aussage fein säuberlich in beiden Sprachen nebeneinander protokolliert war, unterschrieb er sie, wobei er mich zum ersten Mal sonderbar anlächelte. Am nächsten Tag nahmen wir uns dann das Mädchen vor.
„Wie wollen wir uns unterhalten, Frau Massud? Auf Deutsch? Do you speak English? At medaberet Iwrith? Oder wollen Sie lieber eine arabische Dolmetscherin?“ Mit einiger Sympathie betrachtet Nili die verschüchterte junge Frau, die ihr am Vernehmungstisch in einem Jogginganzug gegenübersitzt. Die Kieler Kollegin Steffi Hink hält sich unauffällig im Hintergrund. „Deutsch is okay, so weit ich kann“, antwortet Habiba kleinlaut. Dann fragt sie plötzlich auf Iwrith: „Wieso sprichst du Iwrith? Bist du Jüdin?“
„Ja, ich bin in einem Kibutz in Israel geboren, ich heiße Nili. Und du, wo kommst du her?“
Nach einer kurzen Pause antwortet Habiba mit sehr lauter Stimme: „Ich komme ursprünglich aus Ramallah. Ich habe dort bis zur Intifada gewohnt, bis deine Polizisten meine beiden Eltern erschossen haben!“ Ihre Stimme ist voller Hass.
Mit leiser Stimme antwortet Nili: „Und ich habe am Fuße der Golanhöhen gelebt, bis deine PLO-Banditen zuerst meinen kleinen Bruder ermordet – er war erst ein Jahr alt – und später auch meinen Vater im Jom-Kippur-Krieg getötet haben. Sind wir also quitt?“
Für eine Weile herrscht Stille im Raum.
„Was kannst du mir über Ralph Westphal erzählen, den hast du doch gut gekannt?“
Bei der Erwähnung von Ralphs Namen zuckt Habiba Massud zusammen und fängt an zu schluchzen. „Ich habe ihn geliebt, habe ihn wirklich so sehr gern gehabt, das musst du mir glauben!“
Nili schiebt ihr eine Packung Papiertaschentücher hin. „Wo hast du ihn kennengelernt?“
„Im Zug, auf der Fahrt von Lübeck nach Kiel. Da hat uns, also dem Mustafa und mir, der Matti angedeutet, an wen wir uns heranmachen sollten, um erst einmal Kontakt aufzunehmen. Dann habe ich mich mit Ralph ab und zu getroffen und wir sind uns nähergekommen.“
Ein erneuter Weinkrampf schüttelt sie. „Ich wollte doch nicht, dass er stirbt, ich habe wirklich nicht gewusst, dass der Matti mir das Briefchen mit reinem Kokain untergeschoben hat, das schwöre ich bei allen Heiligen! Ich habe ihn sehr gemocht, wir hatten so schöne Stunden miteinander. Er war für mich der erste Mensch seit dem Tod meiner Familie, dem ich so nah war. Er war sehr gut zu mir, ich hätte so etwas niemals getan!“
„Du bist also keine Muslima, Habiba?“
„Nein, wir sind maronitische Christen, aber ich mache mir gar nicht viel aus der Religion. Schau doch, Nili, was bei uns zu Hause los ist! Moslems morden Juden und Christen, diese wiederum erschießen Juden und Moslems, und ihr Juden tötet Christliche und muslimische Palästinenser! Das alles im sogenannten Heiligen Land und im ehrwürdigen Namen Allahs, Jesus und weiß der Teufel, wie euer jüdischer Gott sich nennt!“
„Du hast wohl in diesem Punkt nicht ganz unrecht, Habiba, auch ich bin deswegen seit jeher konfessionslos.“ Nach einer Pause setzt Nili nach: „Was glaubst du, warum hat Matti dir eine tödliche Dosis Kokain für Ralph zugesteckt? Kann es ein Irrtum gewesen sein oder glaubst du, er hat es mit Absicht getan?“
Habiba antwortet nicht gleich. „Er darf niemals erfahren, dass ich das überhaupt gesagt habe, er würde mich von dem Russen erschießen lassen!“
„Du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen, Habiba, die gesamte Bande verschwindet mit Sicherheit für viele Jahre hinter Gittern.“
„Ach, Nili, du ahnst ja nicht, wie dieses ganze Spinnenwerk organsiert ist. Da sind noch so viele andere, die ich auch nicht kenne, aber ich weiß ganz genau, dass es sie gibt!“
Es ist wohl wie die Hydra der griechischen Mythologie, denkt Nili im Stillen. Schlägst du dem Ungeheuer einen Kopf ab, wachsen ihm drei neue nach! Da schafft es heute auch kein Herakles mehr, sie zu besiegen.
„Also Irrtum oder Absicht?“
„Von Anfang an, als ich zur Bande stieß, war der Matti scharf auf mich. Er versuchte einige Male, mir an die Wäsche zu gehen. Ich möchte diesen widerlichen Kerl nicht, habe mich auch dagegen gewehrt, aber er war nun mal der Boss und ich hatte keine andere Möglichkeit, als mich in seiner Gang einzuordnen, weil ich doch hier illegal war. Er hat vielleicht mitgekriegt, dass ich etwas mit Ralph angefangen hatte, und war eifersüchtig, kann sein. Als ich dann Nachschub holte, gab er mir jenes Briefchen mit dem ausdrücklichen Hinweis, er sei nur für Ralph bestimmt. ‚Für niemand anderen, verstehst du, Habiba?‘, hat er betont. Also ja, ich muss deshalb glauben, dass er es mit Absicht getan hat!“
„Wärst du bereit, dies auch vor Gericht auszusagen?“, fragt Nili mit einem vielsagenden Blick in die Kamera in der Ecke des Verhörraumes, die diese Vernehmung unauffällig in den Monitorraum überträgt, wo sie aufgezeichnet wird.
Habiba ist unsicher und fragt: „Wie könnt ihr mich denn schützen und was passiert jetzt mit mir? Werde ich angeklagt und verurteilt und muss ins Gefängnis? Ich bin doch unschuldig an Ralphs Tod! Oder werde ich einfach abgeschoben – was wird aus mir?“
„Ich werde für dich bei unserem Oberstaatsanwalt ein gutes Wort einlegen, Habiba. Wenn du bereit bist, all dies, was du mir jetzt erzählt hast, bei der Gerichtsverhandlung gegenüber dem Richter zu wiederholen, bin ich sicher, dass dich ein mildes Urteil erwartet. Du solltest aber auf jedem Fall sofort einen Asylantrag stellen, dann gibt es vielleicht für dich eine Chance auf Duldung und Bleiberecht.“
„Beseder – in Ordnung, Nili, ich vertraue dir, werde aber nur dann etwas erzählen, wenn du dabei bist und dem Richter alles genau übersetzt. Kannst du mir das versprechen?“
„Ich gebe dir mein Wort, sei beruhigt. Aber noch etwas möchte ich gern von dir erfahren: Wie bist du überhaupt hierhergekommen?“
„Nach dem Tod meiner Eltern wohnte ich zunächst bei meiner Tante, die ist Libanesin. Dann zogen wir nach Beirut und blieben einige Wochen bei ihren Angehörigen. Plötzlich ging der Krieg auch dort wieder los. Wie ich schon sagte, Christen schießen auf Moslems und diese zurück auf die Christen. Einer meiner Cousins schlug vor, nach Europa zu fliehen, damit wir endlich aus dieser Scheiße herauskommen. Er bezahlte achttausend Euro an eine Schlepperbande, die uns in einem verrosteten Kahn über das Mittelmeer in fast drei Wochen Fahrt bei Sturm, Hunger und Durst hinüber nach Spanien brachte. Es grenzt an ein Wunder, dass das marode Schiff nicht untergegangen ist. Als die spanische Guardia Civil unser Boot aufbrachte, sprangen einige Flüchtlinge über Bord, darunter auch mein Vetter, der dabei ertrank. Als wir an Land kamen, wurden wir eingesperrt. Im Camp lernte ich einen algerischen Typen namens Jussuf kennen. Der hatte wohl Verbindung zu Mattis Bande, denn er organsierte meine Flucht aus dem Lager sowie meine Weiterreise in einem Früchtetransport-Lastzug von Murcia bis nach Hamburg. Ich war zusammen mit einer Kokainsendung hinter einigen Apfelsinenkisten versteckt. Der eine Russe, Jiri, holte mich am Hamburger Großmarkt ab und brachte mich nach Kiel. Matti nahm mir sofort meinen Dschawatz safar – meinen palästinensischen Reisepass – weg. Man brachte mir einige Worte auf Deutsch bei, dann wurde ich mit Mustafa losgeschickt und musste Drogenkunden unter den Jugendlichen an den Schulen suchen und sie – wie auch immer – zum Kauf animieren. Später begann Matti mit der gezielten Suche nach potenziellen Opfern in den Regionalzügen, in denen man gleichzeitig Schüler und Studenten traf. Den Rest kennt ihr ja bereits.“
„Ja, Habiba. Auch deinen Pass haben wir bei der Razzia sichergestellt, daraus erfuhren wir deinen Namen.“
***
Es war eine sehr erschütternde Geschichte, die wir von Habiba zu hören bekamen. Sie hat mich tief berührt.
Auch ihre Aussage habe ich wörtlich ins Deutsche übersetzt, dann konnte sie diese unterzeichnen. Viele Menschen hier beklagen, dass immer mehr Flüchtlinge zu uns nach Europa kommen, wider alle Hindernisse, die man ihnen in den Weg stellt. Wenn diese missbilligenden Wesen nur ein paar Tage lang am eigenen Leib all das fühlen würden, was diese vom Schicksal schwer geschlagenen Menschen in ihrer Heimat erdulden und durchmachen mussten, hätten sie vielleicht ein Quäntchen mehr Verständnis und Mitgefühl für deren hoffnungslose Lage. Uns hier geht es so verdammt gut, aber ich weiß ja, wir können nicht die ganze arme Welt bei uns aufnehmen! Dennoch, eine immer stärker zunehmende Anzahl dieser Verzweifelten und Verfolgten rollt unaufhaltsam auf uns zu! Zu verlieren haben die unglücklichen Habenichtse ja nicht viel mehr als nur noch ihr nacktes Leben!
Wie gelobt, bat ich um ein Gespräch mit Oberstaatsanwalt Harmsen, um für Habiba Massud ein gutes Wort einzulegen. Er versprach, mir einen kurzfristigen Termin anzuberaumen. Schon am folgenden Montag wurde die gesamte Mannschaft unserer Dienststelle zur Staatsanwaltschaft nach Kiel beordert. Kollegen aus den umliegenden Revieren übernahmen während unserer Abwesenheit den Bereitschaftsdienst.
Oberstaatsanwalt Hinrich Harmsen begrüßt alle Anwesenden aus Kiel, darunter Oberkriminalrat Bruno Westermann vom LKA und den Einsatzleiter der 5. Abteilung des SEK – dessen Name stets offiziell verschwiegen und der deshalb unter Kollegen „Kommando-Heini“ genannt wird –, Drogen-Dezernatsleiter Kriminalhauptkommissar Walter Mohr, die Kollegen der Bezirkskriminalinspektion Blumenstraße, Kriminalhauptkommissar Harald Sierck und seine beiden Mitarbeiter, die Oberkommissare Steffi Hink und Hauke Steffens. Aus Oldenmoor hinzugekommen sind Boie Hansen, Nili Masal, Sascha Breiholz und Willi Seifert.
„Herzlich willkommen, liebe Leute!“ Harms gibt sich jovial. „Zunächst herzlichen Dank an Sie alle und Glückwunsch für die hervorragende Arbeit! Durch die Verzahnung und Koordinierung unserer Einsatzkräfte mit denen von Interpol und der spanischen Guardia Civil gelang ein entscheidender Erfolg in der Bekämpfung des illegalen Drogenschmuggels und Drogenhandels, nicht nur bei uns, sondern in ganz Westeuropa. Nicht zuletzt konnten wir zudem gleichzeitig einen Dealerring hier, unmittelbar vor unserer Tür, zerschlagen! Jeder von Ihnen hat einen erheblichen Anteil an diesem Erfolg, gratuliere! Ich fasse jetzt also die wichtigsten Ergebnisse dieses Einsatzes unserer Soko zusammen:
1 Aufklärung des Einbruchs und Fahrzeugdiebstahls im Autohaus Scholz in Oldenmoor. Überführt werden durch eindeutige Indizien konnten die beiden russischen Staatsbürger Juri Wolkow und Alexei Shirjajev, wobei gegen den Zweitgenannten sogleich ein Verfahren wegen Körperverletzung anhängig ist. Besonderen Dank an Polizeimeister Breiholz, gut gemacht!
2 Aufklärung des zweifachen, heimtückischen und in Gemeinschaft ausgeführten Mordes an der achtzigjährigen Frau Karin Vogt und ihrer dreiundfünfzigjährigen Tochter Regina sowie der Brandlegung an deren Bauernhof. Auch hierfür zeichnen die beiden oben genannten Täter Juri Wolkow und Alexei Shirjajev gemäß den sie eindeutig belastenden Indizien als voll verantwortlich. Gegen die beiden genannten Personen erhebe ich, sobald die Anklageschrift vervollständigt ist, Anklage wegen der erwähnten Untaten vor dem Schwurgericht. An diesem Erfolg war die gesamte Mannschaft samt den Kollegen aus Itzehoe beteiligt.
3 Die Kieler Drogenhändlerbande um Mathias Lohse, alias Drogenmatti, wurde observiert und konnte letztendlich – dank Ihres gemeinsamen Einsatzes – mit einem Schlag dingfest gemacht werden. Auch gemessen am beachtlichen Drogen-, Geld und Waffenfund war es ein riesiger Erfolg, für den ich Ihnen allen auch im Namen unseres Innenministers sowie des Polizeipräsidenten verbindlichen Dank und Anerkennung aussprechen darf. Besonderen Dank an unseren geschätzten Leiter des Drogendezernats, Hauptkommissar Dr. Walter Mohr. Vorbildliche Arbeit, Waldi!
4 Dabei ging uns zufällig einer der meistgesuchten kolumbianischen Logistiker und Spiritus Rektor des europäischen Kokainhandels ins Netz, der Interpol bis dato immer wieder entwischen konnte: Francisco José Villegas, alias Paco-Pepe oder auch El Genio. Dieses spukende Phantom weigerte sich zunächst eisern, uns seinen echten Namen zu nennen, den wir schließlich mit Hilfe der spanischen Kollegen erfuhren. Zudem aber gebührt unserem Sprachgenie, Frau Masal, ein besonderes Lob, diesen Kerl mit viel Geschick letztendlich zum ausführlichen Geständnis in seiner eigenen spanischen Sprache gebracht zu haben. Sehr gute Arbeit, Frau Kriminaloberkommissarin!
5 Schließlich, aber dennoch besonders bedeutend: Der tragische Tod durch eine Überdosis reinen Kokains, welcher der junge Ralph Westphal zum Opfer fiel, konnte ebenfalls rein zufällig in Zusammenhang mit einer der bereits oben geschilderten Festnahmen geklärt werden. Wir standen vor dem Dilemma: War dieser Tod durch Eigenverschulden des Verstorbenen eingetreten oder hatte jemand im Hintergrund daran ‚gedreht‘? Durch ein umfassendes Geständnis der festgenommenen und noch jugendlichen Illegalen Habiba Massud aus Ramallah, das wir ebenfalls sowohl dem sprachlichen Geschick als auch dem Einfühlungsvermögen unserer geschätzten Kollegin Frau Masal zu verdanken haben, erfuhren wir die wahren Gründe dieser Tragödie. Ich habe mich beim hiesigen Rabbiner Dr. Mendel informiert und erfuhr von ihm den hierfür angebrachten Satz: ‚Kol Hakavot, giveret Masal.‘6 Als Auftraggeber des Mordes konnte durch die Aussage der unwissenden und unfreiwilligen Täterin Habiba eindeutig Mathias Lohse ausgemacht werden, der sich nun zusätzlich vor dem Schwurgericht wegen heimtückischen Mordes aus niederen Motiven zu verantworten hat. Für ihn bedeutet das sehr wahrscheinlich lebenslänglich mit einer besonderen Schwere der Schuld.“
Nachdem Hinrich Harmsen die Versammlung beendet hatte, lud er uns noch zu einem Glas Sekt ein und zu einigen Appetithäppchen, die – wie konnte es hier auch anders sein – mit Kieler Sprotten belegt waren. Bevor wir uns auf den Nachhauseweg machten, bat er mich kurz in sein Arbeitszimmer und fragte, was ich denn Besonderes auf dem Herzen habe. Ich erzählte, dass ich Habiba versprochen hatte, ihr bei der Gerichtsverhandlung beizustehen und ihre Aussage zu übersetzen. Und fragte ihn, ob er sich für sie verwenden könne, damit sie nicht abgeschoben werde. Harmsen wollte das Erste auf Zulässigkeit bei Gericht prüfen. „Machen Sie sich aber bitte keine größere Hoffnung auf ein Bleiberecht. Bis zur Gerichtsverhandlung besitzt sie selbstverständlich Zeugenschutz. Wegen ihrer willigen Kooperation und Aussage werde ich als Ankläger dem Gericht vorschlagen, gegen sie nur ein mildes Urteil wegen Drogenhandels zu verhängen, da sie offensichtlich dazu gezwungen wurde. Ernster sieht es natürlich im Falle des Totschlags an Ralph Westphal aus. Ich kann für sie nur hoffen, dass sie einen geschickten Verteidiger bekommt, der das Gericht milde stimmt. Ich persönlich hätte nichts dagegen. Aber ob ihr nach Verbüßung ihrer eventuellen Haftstrafe hier eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden kann, halte ich für äußerst fraglich. Selbst wenn, was soll hier aus ihr werden, ohne Ausbildung und Verwandte? Machen wir uns nichts vor: Wenn sie wieder frei herumläuft, geht sie sicherlich den Übeltätern erneut ins Netz!“
„Ich hätte da eine Idee, Herr Oberstaatsanwalt: Meine Mutter bewirtschaftet in Oldenmoor einen größeren Geflügelhof und könnte sehr gut eine Helferin gebrauchen. Auch sie spricht perfekt Iwrith. Wir könnten sie als Bewährungshelferin gewinnen. Und meine Oma, obwohl schon 96 Jahre alt, war Lehrerin und würde Habiba sicherlich gern die deutsche Sprache beibringen, wenn ich sie darum bitte.“
Er könne mir jetzt nichts versprechen, man müsse zunächst einmal das Ergebnis der Gerichtsverhandlung abwarten. Jedenfalls hielt er meine Vorschläge für akzeptabel, man werde sehen. Auch er habe noch ein besonderes Anliegen an mich, er käme aber erst in Kürze darauf zurück, sobald es spruchreif sei. Um was es sich dabei genau handelt, wollte er mir jetzt noch nicht verraten. Danach fuhr ich nicht mit meinen Kollegen zurück nach Oldenmoor, sondern ließ mich vor Melanie Westphals Haus absetzen und konnte ihr und ihren Eltern alles umfassend berichten.
Tage später findet in aller Stille die Beisetzung von Ralph Westphals sterblichen Resten auf dem Urnenfriedhof am Eichhof statt. Außer den engsten Familienmitgliedern sind nur Nili und Walter Mohr anwesend. Nachdem die Urne in der Erde versenkt wurde und die Trauernden den Eltern und der Schwester noch einmal die Hände gedrückt haben, gehen sie gemächlich auseinander. Auf ein Trauermahl hat man absichtlich verzichtet.
Als Nili gedankenversunken neben Waldi zum Auto geht, fasst er sie plötzlich an der Hand und zeigt mit dem Kopf in Richtung einer nahe gelegenen, dichten Hecke. Schemenhaft dahinter verborgen kann sie Habiba Massud ausmachen, die zwischen zwei Justizbeamten in Zivil schluchzend das verweinte Gesicht mit ihren Händen bedeckt, die beidseitig an ihre Bewacher gefesselt sind.