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5. Strukturreform

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Nach den vorangegangenen sehr turbulenten und ereignisreichen Wochen ist im meist verträumten Idyll Oldenmoors wieder jene an Langeweile grenzende Ruhe eingekehrt, die den kleineren Städten im norddeutschen Flachland so eigen ist, diese aber deswegen nicht weniger liebenswert und charmant macht. Die braven Leute gehen ihrem gemütlichen, gewohnten Alltag nach. Auch die kriminellen Handlungen befinden sich wieder auf einem niedrigen Niveau. Hier mal ein gestohlenes Fahrrad, dort der Einbruch im Casino des Sportvereins, bei dem einem der Täter das Portmonee mit seinem Führerschein aus der Tasche fiel, sodass beide Ganoven schon am nächsten Tag dingfest gemacht werden konnten. Hüben eine Prügelei zwischen zwei angetrunkenen Zechern in einer der Dorfkneipen, drüben ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht, bei dem der drogensüchtige Verursacher noch am selben Abend in seinem Bett verhaftet werden konnte. Viel Schwerwiegenderes jedoch verursacht seit zwei Monaten Unruhe und böse Ahnungen beim Dienststellenleiter Kriminaloberkommissar Boie Hansen. Aufgeschreckt von den vom Bundestag und der Bundesregierung in Berlin ausgesprochenen Mahnungen zum Sparen und zur Schuldenminderung in der Haushaltsführung, machen nun auch das Landesparlament und der Rechnungshof gemeinsam Druck auf die Regierenden in Kiel, ihren Haushalt endlich auszugleichen, also so bald wie möglich das zu tun, was übrigens ebenso für jeden braven Bürger gilt, nämlich nicht mehr auszugeben, als sie voraussichtlich einnehmen werden. Also müssen alle Mitglieder des Kabinetts – so auch der Innenminister – sich darauf einstellen, in den nächsten Jahren mit erheblichen Etatkürzungen zu leben, aber trotzdem funktionieren zu müssen. Dies betrifft schmerzlich alle öffentlichen Einrichtungen und Dienststellen, so auch die Landespolizei, die jetzt vom Innenminister eine Strukturreform verordnet bekommen hat.

„So’n Shiet aber ock! Bedüht toon End, mannig mehr Arbeit för weniger Lüüt!“, stöhnt Hansen laut vor sich hin beim Lesen dessen, was ihm heute die interne Post aus dem Ministerium auf dem Dienstwege beschert. Polizeimeister Willi Seifert sitzt am Schreibtisch der Telefonzentrale. Im Hintergrund ist ganz leise gelegentlich der monotone Wortwechsel des Polizeifunks zu hören. „Wat is’n los, Chef?“

„Mannomannomann! Is tom rammdösig warn, all dat, wat heer unser Dienstherr mit sien pupsigen Strukturreform uns da verklamüstern deit!“

„Ach so, Chef, ich habe auch schon etwas darüber in der Zeitung gelesen, aber ist es denn so schlimm?“

Wortlos reicht Hansen seinem Mitarbeiter den zehn Seiten langen Text. Dieser liest ihn sehr aufmerksam durch. „Is ja wirklich ein Katalog der Grausamkeiten, wie soll da noch ordentliche Polizeiarbeit nah am Bürger geleistet werden?“

Boie Hansen mokiert sich: „Wie heit dat noch bi uns so schoin? ‚Wer Dag för Dag sien Arbeit deit un jümmers op’n Posten steiht, un deit dat goot un deit dat geern, de dröfft sik ok mal amüseern!‘7 Wer shall sick mit soon Shiet aber ok amüseern? Ick nich!“

Nach einer Weile meint Willi Seifert: „Nun, aber viel Genaues steht nun wieder nicht in dem ganzen Palaver! Zum Beispiel, was genau passiert jetzt mit uns hier in Oldenmoor?“

„Da kann ich dir etwas verraten, Kumpel!“ Oberkommissar Hauke Steffens betritt soeben den Raum. „Ich habe mich gerade mit den Itzehoer Kollegen Steenfatt und Wildemann unterhalten. Die wurden von ihrem Chef Hein Gröhl – Verzeihung, ich meine natürlich Oberkriminalrat Stöver – beauftragt, im Kreis Steinburg herumzufahren und in sämtlichen Dienststellen – wie heißt es noch mal“, er blickt rasch auf einen Zettel, den er aus der Tasche herausfischt, „hab ich mir notiert. Hier steht’s: den genauen gegenwärtigen Personal- und Ausrüstungsbestand aufzunehmen. Die sollen bei uns alles durchwühlen, damit es dann von gehobener Stelle irgendwie neu zusammengewürfelt beziehungsweise entsorgt wird.“

„Ja, so steht’s auch sinngemäß in diesem Memo des Innenministeriums“, kolportiert seufzend Boie Hansen. „Heißt auf gut Deutsch, Dienststellen auseinanderreißen oder zusammenfügen, einige schließen. Die jüngeren Mitarbeiter werden hier- und dorthin verteilt, offene Planstellen werden nicht mehr besetzt, und wir, die Alten, dürfen in den wohlverdienten Ruhestand. Amen!“

„Was anderes“, sagt Steffens. „Wo ist eigentlich unsere Nili?“

Oberstaatsanwalt Hinrich Harmsen begrüßt die Besucherin am Eingang seines Amtszimmers betont höflich und bittet sie einzutreten. „Danke, dass Sie so schnell meiner Einladung folgen konnten, Frau Kriminaloberkommissarin. Nehmen Sie doch bitte dort drüben Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, einen Kaffee oder ein Wasser?“

Nili folgt Harmsens Andeutung und setzt sich an den länglichen Besprechungstisch, an dessen Stirnseite sich ebenso der Oberstaatsanwalt an seinem Arbeitsplatz niederlässt. „Sehr freundlich, Herr Oberstaatsanwalt, ich nehme gern einen Milchkaffee und ein Glas Wasser, wenn es keine Umstände macht.“

Harmsen bestellt die Getränke am Telefon. „Ich habe Sie aus zwei Gründen hergebeten, verehrte Frau Masal“, lässt Harmsen verlauten, nachdem seine Vorzimmerdame die Bestellung hereingebracht hat. „Zunächst wäre da zu besprechen, wie es mit Ihrer persönlichen Karriere weitergehen soll, da ja in Kürze größere Strukturveränderungen des gesamten Landespolizeiapparates bevorstehen.“

„Ja, Herr Harmsen, natürlich habe ich davon in der Presse gelesen, bisher konnte ich aber noch nichts Genaueres erfahren. Können Sie mir vielleicht etwas mehr darüber mitteilen?“

„Nun ja, so, wie es im Moment aussieht, werden – wie im ganzen Land Schleswig-Holstein – auch im Kreis Steinburg einige Polizeidienststellen entweder an einem Ort zusammengefügt oder verkleinert. Dabei sollen die oberen Dienstgrade, soweit sie nicht in absehbarer Zeit sowieso aus Altersgründen in den Ruhestand gehen, an einem zentralen Ort zu effektiveren Einheiten gebündelt werden. So wird zum Beispiel die gesamte Kriminalpolizei in Ihrem Landkreis am Standort Itzehoe zusammengefasst werden, anstatt wie bisher vereinzelt von den einzelnen Polizeistationen aus zu operieren.“

„Mit anderen Worten, unsere Oldenmoorer Polizeistation wird wohl verschwinden, oder?“

Harmsen wirft einen Blick auf den Monitor seines Computers. „Nicht ganz, nicht ganz.“ Er dreht den Bildschirm herum, sodass auch Nili einen Blick darauf werfen kann. „Diese Dienststelle wird aber verkleinert. KHK Boie Hansen bleibt noch bis zu seiner Pensionierung Ende des nächsten Jahres zusammen mit zwei Polizeimeistern mit einem Streifenwagen sowie einem Beamtenanwärter vor Ort. Kriminaloberkommissar Willi Seifert und Sie sollen gemäß der Planung zur Kripo nach Itzehoe versetzt werden.“

Nili fühlt eine plötzliche Leere im Leib. Darfst also deinem geliebten Motorrad Adieu sagen, Kollege Willi, sinniert sie nebenbei. Der Gedanke, ihren lieb gewonnenen und wohnungsnahen Arbeitsplatz auf einmal von Oldenmoor nach Itzehoe verlagern zu müssen, bereitet ihr ein unwohles Gefühl. Zudem ist ihr – und nicht nur ihr – der dortige Leiter, Kriminaloberrat Heinrich Stöver, außerordentlich unsympathisch. Nicht umsonst nennen ihn seine Untergebenen wegen seiner stets üblen Laune und der cholerischen Ausbrüche hinterrücks „Hein Gröhl“.

Harmsen hat sie während der kurzen Denkpause aufmerksam beobachtet. Ihm ist Nilis offensichtliche Missstimmung als Reaktion auf seine Ausführungen nicht entgangen. „Also, Frau Masal, Sie brauchen keine Trübsal zu blasen. Was Sie persönlich betrifft, haben wir Ihnen einen besonderen Vorschlag für Ihre zukünftige Tätigkeit zu machen. Ihre wertvolle Mitarbeit bei der Aufklärung des Falles Westphal und vor allem Ihr besonderes Geschick beim Verhör der beiden Schlüsselverdächtigen, natürlich verbunden mit Ihren vortrefflichen Sprachfähigkeiten, sind bis in die obersten Kreise mit besonderer Anerkennung zur Kenntnis genommen worden. Soweit uns bekannt“, er blickt wieder auf seinen Bildschirm und betätigt die Tastatur, „sprechen Sie, natürlich neben Deutsch, auch fließend Spanisch, Neuhebräisch und Englisch, nicht wahr?“

Nili nickt.

„Deswegen wollen wir Ihre diesbezüglichen Begabungen nicht einfach im Dunklen verblühen lassen, sondern effektiver nutzen. Wir schlagen Ihnen deshalb vor, eine offene Planstelle als Hauptkommissarin in unserem Kieler Landeskriminalamt zu übernehmen. Wegen der zunehmenden Globalisierung brauchen wir dringend tüchtige Mitarbeiter, die in allen Richtungen kommunizieren und ermitteln können. Was meinen Sie dazu?“

Nili blickt ihn überrascht an. „Das kommt wirklich total unverhofft, Herr Oberstaatsanwalt. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Ja, selbstverständlich ist es für mich sehr schmeichelhaft, solch ein Angebot zu erhalten und dazu sogar noch eine Beförderung in Aussicht gestellt zu bekommen. Bedeutet es aber wohl auch, dass ich hier nach Kiel umziehen müsste?“

Harmsen schmunzelt. „Natürlich ist mir schon klar, dass dies eine große Überraschung für Sie ist. Wenn Sie grundsätzlich interessiert sein sollten – und ich hoffe dies sehr –, würde Ihr zuständiger Vorgesetzter, Kriminaldirektor Rüdiger Voss, als Leiter der Abteilung ‚Ermittlung und Auswertung‘ im Landeskriminalamt und auch stellvertretender LKA-Direktor, gern mit Ihnen weitere Einzelheiten besprechen. Wie ich hieraus ersehe, wäre für Sie eine Planstelle im Dezernat 2, SG212 – Organisierte und Rauschgiftkriminalität – vorgesehen. Das beinhaltet gleichzeitig Ihre Beförderung in absehbarer Zeit.“

Nili kann nur noch nicken, denn sie ist sprachlos.

„Machen Sie sich jetzt keinen Kopf, fahren Sie erst einmal nach Hause und überlegen Sie sich alles in Ruhe. Es werden sowieso noch einige Monate ins Land gehen, bevor diese Strukturreform greift.“

Nili will aufstehen und sich verabschieden, jedoch unterbricht sie Harmsen mit einer Geste. „Dürfte ich Sie noch um ein wenig Geduld bitten? Da ist noch etwas Wichtiges, das ich mit Ihnen besprechen wollte, liebe Frau Masal. Einen Augenblick, bitte.“ Harmsen telefoniert kurz, legt dann den Hörer auf und geht zur Tür, um eine junge Dame hereinzulassen. „Darf ich vorstellen? Meine Tochter Kathja, frisch gebackene Juristin. Frau Kriminaloberkommissarin Masal, von der ich dir bereits erzählt habe.“

Die beiden jungen Frauen geben sich freundlich lächelnd die Hand. Die Ende zwanzigjährige Kathja Harmsen ist eine äußerst sympathisch wirkende, schlanke und brünette Erscheinung mit einem jugendlichen und erfrischenden Ausdruck im Gesicht.

„Auch etwas zu trinken, Kitt? Und darf es noch etwas für Sie sein, Frau Masal?“

Nili verneint dankend, Kathja bekommt ein Glas Orangensaft.

„Also, in medias res!“ Harmsen blickt von der einen zur anderen Dame, die links und rechts an seinem Arbeitstisch sitzen. „Meine Tochter hat vor Kurzem ihr erstes Staatsexamen an der hiesigen Rechtswissenschaftlichen Fakultät sehr erfolgreich abgelegt. Sie möchte gern gleich anschließend ihre Promotion in Angriff nehmen. Ihr Doktorvater, der renommierte Jurist Professor Doktor Traube, schlug ihr als Thema für ihre Dissertation – berichtige mich bitte, Kitt, wenn ich etwas Falsches sage – Folgendes vor: ‚Der Schmugglerweg des Kokains bis in die EU‘. Stimmt’s?“

„Na ja, Papi, so in etwa“, bestätigt seine Tochter. „Darf ich weiter erzählen?“

Harmsen nickt ihr zu.

Kann seinen Vaterstolz nicht verhehlen, denkt sich Nili amüsiert.

„Also, es ist so“, führt Kathja fort. „Mein Prof ist seit etwa einem Monat der erste Vorsitzende einer neu gegründeten NGO8, die tatkräftig den Kampf gegen Drogenmissbrauch unterstützen will. Er hat diese unter anderem gemeinsam mit dem Steuerberater Heinz Westphal ins Leben gerufen. Die tragische Geschichte von dessen Sohn Ralph haben Sie ja persönlich aus nächster Nähe erlebt, nicht wahr, Frau Masal? Auch andere private und offizielle Persönlichkeiten unterstützen dieses Vorhaben und haben sich der Bewegung angeschlossen. Professor Traube möchte deswegen, dass ich meine Doktorarbeit zielgerecht auf die Art und Weise ausrichte, wie das Kokain nach der Gewinnung der Cocablätter und deren Verarbeitung in Kolumbien, Bolivien und Perú seinen unsäglichen Weg bis zu uns nimmt. Natürlich gibt es zahlreiche Literaturquellen, die ich zur Recherche heranziehen könnte, aber – und da sind wir uns mit meinem Vater einig – ich möchte keineswegs eine Dissertationsarbeit vorlegen, die lediglich aus Zitaten von Arbeiten anderer Leute besteht und keinerlei eigene Forschungsergebnisse enthält. Ich muss deshalb persönlich und vor Ort Näheres erkunden.“

Nili hat verstanden. „Also werden Sie wohl eine längere Reise unternehmen müssen, um bis an die Quelle des Bösen heranzukommen. Meine Mutter ist in Bolivien aufgewachsen und hat mir einiges darüber erzählt. Aber ich denke, für eine alleinreisende junge Dame dürfte es ziemlich waghalsig sein, sich auf diesen ihr nicht im Geringsten geläufigen und noch dazu sehr obskuren Pfaden zu bewegen. Zudem sind die Leute, die sich in diesem Metier herumtreiben, ganz rüde Machos und nicht gerade zimperlich. Glauben Sie ja nicht daran, dass diese Kerle so einfach begeistert oder bereit sein werden, ihre intimsten Geschäftsgeheimnisse der ersten Person, die sie danach befragt, preiszugeben, auch wenn diese eine so charmante Erscheinung wie die Ihre ist.“

„Darf ich unterbrechen?“, lässt der Oberstaatsanwalt verlauten. „Eben dies ist, was meiner Frau und auch mir die größte Sorge an Kitts Vorhaben bereitet. Deswegen hatte ich gerade an Sie gedacht. Wie wäre es, wenn Sie meine Tochter auf dieser Reise begleiten?“

Nili ist baff. Sie atmet erst einmal tief ein. „Wie haben Sie sich das denn vorgestellt, Herr Oberstaatsanwalt? Bei allem Respekt, selbst wenn ich mich dazu bereit erklärte, ich kann doch hier nicht einfach meine Arbeit liegen lassen, um zwei oder gar drei Monate – denn so lange würde man gewiss benötigen, um genügend Daten und Erkenntnisse zu sammeln – in Südamerika herumzufahren.“

„Brrr, liebe Frau Kriminaloberkommissarin, ziehen Sie mal die Leine und bringen Sie Ihre Pferde zum Stehen!“ Nili sieht Harmsen mit Erstaunen an.

„Lassen Sie mich Ihnen doch bitte erst einmal erklären, wie ich mir das Ganze vorstelle. Darf ich?“ Als Nili nach kurzer Bedenkzeit stumm nickt, setzt Harmsen fort: „Also, angenommen – ich wiederhole ausdrücklich angenommen –, Sie wären überhaupt bereit, meine Tochter auf dieser Erkundungsreise zu begleiten, sähe diese Aktion in etwa folgendermaßen aus:

Erstens, was Sie persönlich betrifft. Folgen Sie unserem Vorschlag zum Überwechseln in das LKA, würden Sie erst einmal im Zweiten Dezernat und dort gezielt in der Bekämpfung von organisierter und Rauschgiftkriminalität eingesetzt werden. Hierfür ist eine Sonderausbildung erforderlich, und diese Gelegenheit wäre für Sie genau die richtige, um zum Beispiel dem Zufluss einer der Hauptdrogen, dem Kokain, auf die Spur zu kommen. Jedenfalls hat mir Ihr Vorgesetzter in spe, KD Voss, durchaus sein Placet für ein solches Vorhaben angekündigt und würde Ihnen ebenso den hierzu benötigten Sonderurlaub genehmigen.

Zweitens: Ihre Reise- und Hotelkosten sowie ein Tagegeld von täglich fünfundzwanzig Euro würden teils aus dem Fortbildungstopf des LKA, teils durch einen Zuschuss des von Professor Traubes neu gegründeten Vereins No-to-Drugs e. V. gedeckt, der ebenso die Hälfte der Reisekosten meiner Tochter übernimmt. Ihre Dissertation soll dann als Grundlage für die zukünftigen PR-Aktivitäten des Vereins Verwendung finden. Selbstverständlich werden diese Erkenntnisse auch vom LKA für weitere Maßnahmen zur Drogenbekämpfung eingehend genutzt werden.

Drittens: Begründung für die Wahl Ihrer Person für dieses Vorhaben: Sie sind eine hervorragend ausgebildete Polizistin, beherrschen die erforderlichen Sprachen für diesen Sondereinsatz, besitzen zudem ein gutes Einfühlungsvermögen sowie den schwarzen Judogürtel des dritten Dan-Grades – also sind Sie besonders gut in der Selbstverteidigung ausgebildet. Dies wird wahrscheinlich besonders wichtig, weil Sie diesmal im Auslandseinsatz üblicherweise keine Waffen tragen dürfen.

Und letztendlich, viertens: Sie werden selbstverständlich in die gesamte Planung und Vorbereitung als leitende Ausführende mit einbezogen und erhalten seitens Interpol Unterstützung an sämtlichen Einsatzorten. Ich weiß, die Effektivität – und vor allem die ehrliche Staatstreue – der Polizeikräfte in den betroffenen Regionen in Lateinamerika dürfte vielleicht nicht ganz den Erwartungen entsprechen, die wir an solche Kollegen stellen, jedoch halte ich Sie für erfahren genug, um auf die richtigen Karten zu setzen. Ihre Großmutter und auch Ihre Mutter haben meines Wissen lange in Bolivien gelebt und werden Ihnen sicherlich viel Nützliches erzählen und berichten können, von dem sonst nirgendwo aus Fachbüchern zu erfahren ist.

So, und nun entlasse ich Sie, meine Damen, damit Sie sich noch ein wenig unterhalten und gegenseitig etwas besser kennenlernen können.“ Mit diesen Worten steht der Oberstaatsanwalt auf und begleitet seine Besucherinnen zur Tür. „Überlegen Sie bitte alles in Ruhe, sehr geehrte Frau Kriminaloberkommissarin. Es wäre sicherlich eine einmalige Gelegenheit für Sie, anlässlich einer spannenden, wenn auch nicht risikolosen Reise auch wertvolle Erfahrungen und Erkenntnisse für unsere hiesige Polizeiarbeit zu sammeln und mit nach Hause zu bringen. Bitte geben Sie Ihren Bescheid zunächst an Kriminaldirektor Voss, ob Sie überhaupt ins LKA kommen möchten. Und wegen Kitts Begleitung, na ja, darüber können wir später noch sprechen. In Ordnung?“

„Stellt euch vor, Abuelita und Ima“, berichtet Nili ihrer Oma und der Mutter auf Spanisch beim Abendessen, „was für ein spannendes Gespräch ich heute mit dem Oberstaatsanwalt in Kiel geführt habe!“ Sie berichtet fast wortgetreu von dem Treffen mit Harmsen und seiner Tochter Kathja. „Danach haben Kitt und ich uns beim Mittagessen und auch noch ein paar weitere Stunden ausführlich unterhalten. Sie ist eine sehr interessante und unheimlich gebildete junge Frau, eigentlich viel zu ernst für ihr Alter. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Nun, was meint ihr zunächst einmal zu meinem Bomben-Angebot für das LKA? Es klingt ja sehr verlockend, zumal die hiesige Polizeidienststelle in absehbarer Zeit verkleinert wird und ich wohl dann zur Kripo in Itzehoe wechseln müsste. Das Hin- und Herfahren wäre das geringste damit verbundene Übel. Allein schon der Gedanke, täglich den unausstehlichen Kriminaloberrat Heinrich Stöver erdulden zu müssen, bereitet mir Magenbeschwerden! ‚Oberkommissarin im Landeskriminalamt Schleswig-Holstein‘ klingt doch ganz anders als Kripo Steinburg in Itzehoe – ohne die Bedeutung und Leistung dieser Kollegen mindern zu wollen. Und obendrein winkt mir in Kiel auch eine baldige Beförderung zur Hauptkommissarin, die in der höher gelegenen Besoldungsgruppe 11 eingestuft ist. Diese Gehaltserhöhung ist auch nicht von der Hand zu weisen.“

„Müsstest du hierzu nicht nach Kiel umziehen?“, fragt Mutter Lissy mit besorgter Miene. „Wäre mir gar nicht so recht, aber ich befürchte, es würde so kommen!“

Nili fügt hinzu: „Da mein Einsatzgebiet sich dann auf ganz Schleswig-Holstein erstreckt, könnte ich vielleicht erreichen, dass ich normalerweise von hier aus – ein viel zentraler gelegener Standort als Kiel – operiere, wenn auch meine Dienststelle sich dort befindet. Ich würde mir vor Ort nur eine kleine Notübernachtungsstelle organisieren. Könnte vielleicht klappen, wenn mein zukünftiger Chef – dem ich allerdings noch nicht begegnet bin – zustimmt.“

Nilis Oma Clarissa bemerkt nach einer längeren Pause: „Nili, mein liebes Kind, das mit dem LKA finde ich prima, weil du endlich eine Aufstiegschance hättest, die du hier in Oldenmoor niemals bekommen würdest. Der zweite Teil deiner Erzählung gefällt mir dafür umso weniger!“

„Ach, Abuelita, darüber bin auch ich mir bei Weitem noch nicht im Klaren, glaube mir!“

Lissy wirft ein: „Der gute Herr Staatsanwalt und seine Tochter ahnen ja nicht, in welch gefährliches Abenteuer sich das Mädchen da einlassen würde, und dann auch noch dich mit hineinzuziehen, ist im Grunde eine Zumutung!“

„Das glaube ich aber so nicht ganz, Ima“, antwortet Nili beherzt. „Die möglichen Risiken sind durchaus bekannt, aber auch ich halte sie für kalkulierbar, für beherrschbar – gründliche Konzeption und entsprechend vorsichtige Vorgehensweise vorausgesetzt. Sorgfältige Planung ist ja das Alpha und Omega jeglicher Polizeiarbeit, und dies wird voraussichtlich eine meiner hauptsächlichen und zukünftigen Aufgaben im Kieler Amt sein. Die größte Frage, die sich mir dabei aber stellt, ist Kitts Belastbarkeit bei einem solch diffizilen Unterfangen. Was ich unbedingt vorab von euch beiden als wichtigste Entscheidungshilfe benötige, sind alles umfassende Informationen über Bolivien, das naturgemäß wohl eines der Hauptziele unserer Ermittlungen sein wird.“

Während der nächsten beiden Wochen verbringen die drei Frauen Abend für Abend mit ausführlichen Berichten und Erzählungen aus ihrer zwölfjährigen Exilzeit in Bolivien. Sehr oft liest Clarissa aus ihren damaligen Tagebüchern vor. So zum Beispiel:

So gab es hier für mich zunächst wirklich viel Neues zu lernen!

Erst einmal Grundsätzliches: Hier, auf einer Höhe von 3.800 Metern, kocht Wasser nicht erst bei 100 °C wie auf Meereshöhe, sondern bereits bei 84 °C! Dies ist bedingt durch den verminderten atmosphärischen Druck in dieser Höhe. Das hatte ich ja auch irgendwann im Flensburger Lehrerseminar gelernt, aber natürlich längst wieder vergessen! Das bedeutet, dass man viel mehr Zeit als bei uns zu Hause braucht, um Speisen zu garen. Besonders schwierig ist es beim Fleisch – dies muss endlos lange kochen und ist dann meistens total ausgelaugt und faserig. Zudem sind alle Speisen, wenn sie auf den Tisch kommen, höchstens noch lauwarm, aber daran kann man sich schnell gewöhnen. Es soll ja auch nicht so gesund sein, immer so heiß zu essen, hat Fritzie Grünbach uns kürzlich verkündet. Sie muss es ja wissen, als Biologin.

Da ich soeben das Thema „Wasser“ erwähnte: Leitungswasser aus dem Hahn ist hier keineswegs gleichzusetzen mit gesundem Trinkwasser. Das ursprünglich reine Wasser stammt aus der Schneeschmelze in den hohen Bergen, fließt aber zunächst über offene Kanäle und Rohrleitungen in die Stadt und wird auf diesem Wege durch Tier und Mensch verunreinigt. Wir dürfen deshalb niemals ungekochtes und ungefiltertes Wasser trinken oder zum Waschen von roh essbaren Lebensmitteln verwenden. Auf dem Innenhof wurden zwei große Berkefield-Filter aufgestellt, die mit dem vorab mindestens zehn Minuten lang abgekochten Wasser nach dem Abkühlen befüllt werden. Das Wasser dringt durch die Keramikpatronen und wird dabei von Schwebestoffen befreit und gereinigt.

Viele Immigranten waren bereits von den im Leitungswasser mitgeführten Krankheitserregern, vor allem Typhusbakterien, befallen und erkrankten schwer. Etliche von ihnen sind sogar daran gestorben. Josef hat uns deshalb, wie auch alle anderen Hausbewohner, zur Typhusimpfung zum Amerikanischen Gesundheitsdienst gebracht, wo wir eine sehr schmerhafte Spritze erhielten. Fast alle hatten an den nachfolgenden zwei bis drei Tagen erhöhte Temperatur und der Oberarm war um die Einstichstelle herum stark gerötet und tat recht stark weh. Einige Wochen danach mussten wir noch einmal dorthin und wir wurden gegen Viruela, die schwarzen Pocken, geimpft, die hier ebenfalls überall grassieren. Beide Impfungen müssen alljährlich wiederholt werden.

Ebenso bedeutend: In dieser Höhe hat die Luft beachtlich weniger Sauerstoff, deshalb geht einem beim schnelleren Gehen oder gar bei einer der vielen steil ansteigenden Straßen in dieser Stadt rasch die Puste aus.

Oder auch:

Nicht, dass ich mich beklagen will, uns geht es ja gut in diesem Land, das uns das Leben gerettet hat. Wir haben ein Dach über dem Kopf, sind von netten Menschen umgeben, mit denen wir uns gut verstehen und wo gegenseitige Hilfe großgeschrieben wird. Zudem leiden wir keinerlei Not! Dennoch ist mir dieses doch immer noch fremd gebliebene Bolivien – vorwiegend sind es die Einheimischen – nicht ganz geheuer. Man ist sich fremd und bleibt es auch, beäugt sich gegenseitig stets mit Misstrauen. Nicht dass wir besonders kultiviert wären, aber hierzulande herrschen ganz andere, für uns ungewohnte Sitten und sonderliche Gebräuche. Außerdem sind da meine Sprachhemmnisse. Ich habe mir zwar inzwischen einen ausreichenden Wortschatz angeeignet, um im täglichen Leben gut bestehen zu können, jedoch beherrsche ich das Spanische noch lange nicht. Und die Umgangssprache der Indios, das Aymara, klingt nach wie vor ungemein fremd in meinen Ohren.

Wenn ich täglich zum Einkaufen in den Mercado gehe und an so mancher Straßenecke die Cholas dabei beobachte, wie sie unter ihren weiten Polleras hocken und ungeniert ihre Notdurft verrichten, muss ich immer wieder angeekelt wegschauen! Ich wundere mich auch darüber, wie sie gelegentlich zu zweit am Boden hocken und gegenseitig die Haare nach Läusen absuchen. Besonders unappetitlich ist aber, dass sie, wenn sie so ein Insekt ausgemacht haben, es zwischen ihren Zähnen totbeißen. Pfui!

Leider sind auch die Männer ungemein aggressiv. Jeder kleine Rempler, wenn man aneinander vorbeigeht, wird sehr schnell zur haltlosen Prügelei! Die Kerle gehen sich wie wütende Kampfhähne an die Gurgel, vor allem dann, wenn sie Alkohol getrunken haben – was oft der Fall ist. Nachts hört man sie, wenn sie laut grölend und fluchend die Avenida Ecuador entlangtorkeln und wiederholt „Viva Bolivia, carajo!“ brüllen. Oft werden dabei auch obszöne Schimpfworte gegen Politiker, Ausländer oder Judíos – Juden – ausgerufen. Dabei kommt immer häufiger zum Ausdruck, die bösen Ausländer seien nur ins Land gekommen, um ihnen, den Einheimischen, das Brot aus dem Munde zu stehlen! Jedenfalls ist einem dabei nicht ganz wohl unter der Haut!

Auch Lissy trägt einiges bei, denn sie erzählt von Erfahrungen und Erlebnissen aus ihrer Kindheit und Jugendzeit.

„Was ich daraus insgesamt entnehme, ist, dass die von den sogenannten Weißen seit der spanischen Kolonialzeit geschundenen und über zwei Jahrhunderte bewusst niedrig gehaltenen Indios und Cholos verständlicherweise einen starken Groll und Rochus gegenüber allen Hellhäutigen In- oder Ausländern hegen“, fasst Nili als Fazit dieser Berichte zusammen. „Das dürfte nicht nur in Bolivien, sondern auch in Perú und Colombia nicht anders sein. Die dort nach wie vor bestehenden krassen Vermögensunterschiede zwischen Arm und Reich – ohne dazwischen eine ausreichende und gewachsene Mittelklasse als Balance – schüren gleichwohl Ablehnung und Antipathie der ‚Nichthabenden‘ gegen den oft protzigen Wohlstand der ‚Habenden‘. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass nun auch in Bolivien, wie zunächst Castro in Cuba, danach Chavez in Venezuela und seit einigen Jahren Boliviens Evo Morales’ sogenannte ‚Demokratiebewegung‘ eine solche Beliebtheit bei der indigenen Bevölkerung genießt. Aber gerade der Letztgenannte ist es doch, der sich hauptsächlich deren Rückhalt und Unterstützung mit der Legalisierung und Förderung des Coca-Anbaus erkauft hat. Nicht genug, dass die Gesundheit der eigenen Bevölkerung durch das regelmäßige Kauen der Blätter erheblich beeinträchtigt wird, verseuchen sie auch noch ihre eigene Umwelt durch die unsachgemäßen chemischen Manipulationen, um aus diesen Blättern das Kokain zu extrahieren! Und dieses Gift wird dann tonnenweise zu uns verfrachtet. Denke ich darüber nach, komme ich mir langsam wie ein Don Quijote im Kampf gegen die Windmühlen vor, denn solange bei uns ein Markt für diesen Schmutz vorhanden ist, werden sie ihn weiterhin liebend gern beliefern!“

Nili recherchiert fleißig aus sämtlichen ihr zur Verfügung stehenden Quellen. Sie hat sich dafür nach Feierabend und an den Wochenenden im früheren Arbeitszimmer ihres verstorbenen Großvaters Heiko eingenistet, das dieser samt dem Haus des ehemaligen Familienfreundes der Urgroßeltern von Steinberg – Onkel Harald Suhl – auch nach der Rückkehr der Kellers nach Oldenmoor wieder bewohnt und dessen ursprüngliche Bibliothek er erheblich erweitert hatte. Eine Menge Artikel erforscht sie aus Presse und Broschüren, zahlreiche Bücher hat sie im Buchhandel erworben oder als E-Book aus dem Internet heruntergeladen. So T. Jägers und A. Dauns „Die Tragödie Kolumbiens“, J. Webers „Kolumbien als Zentrum der globalen Kokaindustrie“, „Drogenpolitik im Fall Perú“, von A. Kaufmann, R. Lessmans Bericht über Bolivien unter Evo Morales und nicht zuletzt auch den spannenden Bericht des Stefan Liebert über seine atemberaubende Drogendealer-Karriere in Deutschland. Nachdem sie all dieses umfassende Wissen in sich hineingefressen hat, hält sie inne. „Ich lasse jetzt erst einmal die weiteren Ereignisse auf mich zukommen“, berichtet sie eines Tages ihrer Mutter und Großmutter. „Danach werden wir sehen!“

Im Bann der bitteren Blätter

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