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3. Wochenende

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Hauptkommissar Boie Hansen ruft alle Mitarbeiter seiner Dienststelle in Oldenmoor zusammen. Er hat den Lautsprecher seines Telefons auf volle Lautstärke gestellt, denn Waldi Mohr ist gerade an der Strippe und berichtet ausführlich von der gestrigen so erfolgreich abgelaufenen Aktion: „Also, liebe Kollegen, Ihr ahnt ja gar nicht, wer uns da alles ins Netz geraten ist. Aufgrund eures wertvollen Hinweises auf den letzten Standort von Ralph Westphals Fahrrad hatten wir dieses Tag und Nacht observiert. Nachdem es tatsächlich von einem der Bandenmitglieder entwendet wurde, konnten wir diesen Typen verfolgen und haben nach und nach herausgefunden, wer alles zu dem Drogenvertriebsring gehört, wie sie operieren und wo sie sich eingenistet haben. Neben den beiden Dealern, dem aus Uganda stammenden Mustafa Mbili und seiner reizenden – wahrscheinlich palästinensischen – Komplizin Habiba Massud, die sich übrigens hier schon fast zwei Jahre lang illegal aufhält, konnten wir in einer konzertierten Aktion von LKA und SEK gleichzeitig mit der Verhaftungsaktion in der Bahn deren Räuberhöhle stürmen und ausräuchern: Satte 40 Kilo reines Kokain, dazu fast noch einmal so viel bereits gestreckte Koksportionsbriefchen, mehrere Plastikbeutel voller Chrystal- und Extasypillen und weiß der Geier was noch für’n Düwelstüch haben wir da gefunden und sichergestellt. Dazu ein Arsenal an Waffen und Munition. Schließlich sage und schreibe fast 200.000 Euro in bar! Macht einen Schwarzmarktwert von summa summarum etwa 10 Millionen Euro. Unglaublich! Aber nicht nur das: Im Zug verhaftete das SEK neben den beiden Dealern und einigen anderen bereits gesuchten dunklen Gestalten deren Boss Matti Lohse, alias Drogenmatti, zusammen mit einem Lateinamerikaner, wir vermuten zwar aus Kolumbien, der aber bis dato das Maul nicht aufmacht, vorgibt, weder Englisch noch Deutsch zu verstehen, und so tut, als wisse er von nichts. Nur eigenartig, dass wir in seinem Zimmer im Eurotel seinen – wie eine Eilanfrage bei den spanischen Kollegen heute ergab – gefälschten spanischen Pass auf den Namen Alejandro Vazques, dazu rund 10.800 US-Dollar und einen geladenen achtunddreißiger Colt – selbstredend ohne dazugehörigen Waffenschein – vorfanden. Und im sogenannten Labor der Drogenhütte konnten wir als Gratisbeigabe zwei üble Galgenvögel festnehmen, die uns bisher immer wieder entwischt sind: Juri Wolkow und Alexei Shirjajev. Nach dem Letzteren wird wegen Totschlags in einer Disco in Travemünde gefahndet. Die gesamte Bande wurde dem Untersuchungsrichter vorgeführt und befindet sich in Untersuchungshaft. Ach ja, auch für euch wohl eine gute Nachricht: In einer der Garagen der Gangstervilla stand ein nagelneuer schwarzer Golf GTI – diesmal mit einem niederländischen Kennzeichen. Die KTU untersucht ihn gerade, aber ich bin mir ziemlich sicher, es handelt sich um den neulich sicherlich von diesen beiden Russen aus dem Autohaus Scholz entwendeten Wagen. Ich habe euch schon die Fotos der beiden Tunichtgute gemailt, vielleicht kann euer wackerer Motorrad-Willi sie identifizieren. Freut mich, war ’n toller Erfolg, und nochmals vielen Dank für das Mitdenken. Hab zum Schluss noch ’ne Frage: Neulich, bei einem Telefonat mit der Kollegin Masal, erfuhr ich nebenbei, dass sie perfekt Spanisch und auch Iwrith spricht. Wir könnten wieder einmal ihre Hilfe gut gebrauchen, um diesen Vazques zum Reden zu bringen. Auch müssen wir noch von Frau Massud einiges mehr erfahren, sicher ginge dies auf Hebräisch flotter. Wäre nett, wenn Kollegin Masal uns helfen und mich bald zurückrufen könnte. Also, das war’s dann auch für heute. Ende der Durchsage.“

Boie Hansen legt auf. „’ne ganze Menge auf einmal!“, meint er trocken.

Dann herrscht für eine kurze Weile betretene Stille im Raum, alle denken erst einmal über die Informationsflut nach, die soeben über sie hereingebrochen ist.

Das schrille Läuten des Telefons lässt sie aufhorchen. Auf ein Kopfzeichen Boie Hansens geht Hauke an den Apparat. „Polizeikommissariat Oldenmoor, Oberkommissar Steffens, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Moin! Hier spricht Oberbrandmeister Per Petersen von der Feuerwehr Leitstelle Elmshorn. Wie ihr ja wisst, hatten wir in der vorigen Woche im Kreis Steinburg, ganz in der Nähe von Oldenmoor, einen Feuereinsatz. Ein Autofahrer entdeckte von der B5 aus eine große Rauchfahne und alarmierte uns. Es handelte sich um einen ziemlich abseits und allein stehenden Bauernhof in einer Abzweigung von eurer Kommunalstraße 17. Der Brand wurde zwar gelöscht, aber die Kate und der angrenzende Stall brannten total nieder und stürzten ein. Die zwei Kühe und ein Kalb waren glücklicherweise auf der Weide, aber die beiden Bewohnerinnen waren wohl nicht anwesend, wenigstens dachten dies die sich im Einsatz befindlichen Feuerwehrkollegen. Man vermutete zwar Brandstiftung, aber Kripo und Spusi waren mit anderen wichtigen Einsätzen beschäftigt und kamen deswegen erst heute hinzu, gerade als wir dabei waren, die Ruinenreste mit Hilfe eines Baggers abzuräumen. Dabei wurden in den Trümmern des Kellers zwei völlig verkohlte Leichen gefunden. Da die ganze Bude durch das Feuer zusammengebrochen war, konnten wir nicht schon früher herankommen. Macht euch mal schön auf die Socken, liebe Kollegen. Die Kripo in Itzehoe habe ich auch schon informiert. Schönen Tag noch!“

„Ich weiß, wo das ist!“ Willi Seifert greift nach seinem Motorradhelm und eilt hinaus, gefolgt von Hauke und Nili. Nach kurzer Fahrt erreichen sie den Tatort. Dort tummeln sich bereits die Itzehoer Kollegen und die Mannschaft der Spurensicherung. Einsatzleiter vor Ort ist Kriminaloberrat Heinrich Stöver, ein etwas korpulenter Endfünfziger, in Wintermantel, Schal und Pudelmütze eingehüllt. Der offensichtlich recht erkältete Kripochef treibt mit heiserer Stimme und äußerst missgelaunt seine Mannschaft an. „Macht hinne, Leute, ich muss mir hier in dieser feuchten Kälte doch nicht noch die Beine erfrieren und den Tod holen! Habt ihr wenigstens schon was Brauchbares?“

Als sie sich dem Trümmerhaufen nähern, begrüßt sie Staatsanwalt Uwe Pepperkorn mit einem breiten Grinsen. „Hein Gröhl ist stark verschnupft und heute wieder in Hochform“, bemerkt er, während er ihnen freundlich die Hand schüttelt. „Wir können erst an den Fundort der Leichen heran, wenn die Spusi und der Doktor damit durch sind. Warten wir also lieber im Einsatzwagen, bis es so weit ist. Hier draußen ist es zu ungemütlich.“ Pepperkorn ist, anders als viele seiner Kollegen, ein jovialer und netter Jurist, der den Mitarbeitern der Polizei eher freundliche Achtung als Geringschätzung und harsche Kritik für ihre doch nicht allzu leichte Arbeit entgegenbringt, auch wenn diese nicht immer so erfolgreich verläuft, wie er es sich erhofft. Nachsichtig sieht er über so manchen Fehler hinweg, toleriert es jedoch keineswegs, sollte dessen Wiederholung aus Nachlässigkeit oder Schlampigkeit erfolgen. „Fehler erkannt, Wiederholung gebannt!“, ist seine Devise, gegen die man besser nicht verstoßen sollte, denn dann kommt ein ganz anderer Pepperkorn zum Vorschein.

Laut keuchend öffnet Kriminaloberrat Stöver die Schiebetür des Einsatzwagens und steigt ein. „Gemütlich macht man es sich hier beim Tee, während wir uns draußen in der Kälte mit den Leichen herumschlagen müssen!“

„Mensch, Stöver, hören Sie auf zu rüffeln! Wir hier können ja nichts für Ihren Schnupfen. Also, was gibt’s?“ Kriminaloberrat Stöver ist pikiert und muss erst einmal seine angelaufene Brille putzen, um sich wieder Durchblick zu verschaffen. Pepperkorn gießt ihm inzwischen versöhnlich aus seiner Thermoskanne Tee in einen Plastikbecher. „Hier, nehmen Sie erst einmal einen heißen Trunk.“

Stöver nimmt einen Schluck. „Also, die Spusi ist durch, jetzt sind die Pathologen dran. Ihr könnt in den Keller, wenn ihr wollt. Viel ist da allerdings nicht zu sehen, meine ich. Natürlich außer den beiden vollkommen verkohlten Frauen. Wie bereits vermutet, handelt es sich wohl um die Bewohnerinnen des Hauses, die Mutter Karin Vogt, achtzig Jahre alt, und ihre dreiundfünfzigjährige Tochter Regina. Was von denen noch übrig ist, wird nach Kiel zur Obduktion gebracht, damit die Identifizierung auch amtlich ist. Wie wir von den ziemlich entfernt wohnenden Hofnachbarn erfahren konnten, sind die beiden Frauen vor etwa acht Jahren aus Wilster in diesen Resthof eingezogen, nachdem Bauer Andreas Kruse seine Landwirtschaft aufgab und die Ländereien an die angrenzenden Kollegen verpachtete. Viel mehr konnte man nicht erfahren. Nur ab und zu sah man die Jüngere mit ihrem Fahrrad ins Dorf fahren, wo sie im kleinen Supermarkt einkaufte. Ansonsten lebten die beiden Frauen vollkommen zurückgezogen.“ Er trinkt den Teebecher leer und schnäuzt sich geräuschvoll in ein Papiertaschentuch.

„Danke, Herr Kriminaloberrat Stöver“, meint Nili mit einem freundlichen Blick zu dem gestressten Beamten. Sie nickt Pepperkorn zu. „Wir gehen jetzt wohl erst einmal selbst in den Keller, um uns umzusehen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Ist schon okay, gehen Sie nur.“

Nili, Willi und Hauke trotten hinüber zur Bauernhofruine, von der nur noch zwei halbhohe Ziegelmauerreste stehen. Willi bemerkt trocken: „Den Anblick der beiden verbrutzelten Damen muss ich mir doch nicht antun, oder? Ich sehe gerade, eine Spusigestalt geht just in Richtung der dort hinten gelegenen Scheune. Wenn ihr nichts dagegen habt, schaue ich mich mal lieber dort um, okay?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, spurtet Willi in die angekündigte Richtung.

Hauke schüttelt lachend den Kopf: „Dieser Willi is ’n richtiger Dithmarscher Sturkopp!“

„Lass man, geschätzter Kollege, unser Polizeimeister ist schon in Ordnung. Nehmen wir erst einmal die beiden ‚Verbrutzelten‘ in Augenschein und befragen dabei den Onkel Prof, ob ihm vielleicht etwas Besonderes aufgefallen ist.“

Sehr eng ist es im Kellerverlies, es wurde nur ein Teil von dessen Decke freigelegt. Nili und Hauke können deshalb nur von oben einen Blick auf die makabre Szenerie werfen. Die quirlige Blondine Hannelore Siemsen, die ebenso wie ihr Chef in einen weißen Schutzanzug gehüllt ist, assistiert gerade Prof. Dr. Klamm im starken Lichtschein der beiden batteriebetriebenen Halogenscheinwerfer bei der ersten Untersuchung der beiden Opferreste.

„Hallo, Herr Professor!“, grüßt Nili den Pathologen.

„Nett, Sie wiederzusehen, Frau Masal, Herr Steffens“, sagt dieser, nachdem er und Hannelore Siemsen über eine Leiter aus dem Keller emporgestiegen sind. „Na ja, viel ist natürlich von den beiden Damen nach dem gehörigen Brand nicht übrig geblieben. Die fast vollständige Verkohlung lässt vermuten, dass man die beiden bereits getöteten Frauen mit mehreren Litern Benzin übergossen haben muss, bevor man sie und danach ebenso diese Hütte angezündet hat. Trotz deren starker Verkohlung sind an beiden Schädeln Einschüsse deutlich zu erkennen, sehr wahrscheinlich von ein und derselben Waffe. Die Frauen müssten aber bereits einige Stunden vorher oder vielleicht sogar schon am Tag vor der Brandstiftung regelrecht hingerichtet worden sein; Genaueres kann ich vermutlich sagen, wenn ich sie auf dem Tisch habe.“ An die drei bereitstehenden Männer des Bestattungsunternehmens gerichtet fährt er fort: „Bitte in diesem heiklen Fall besondere Sorgfalt walten lassen, damit wir die beiden Damen möglichst vollständig in die Pathologie bekommen. Achten Sie auch auf eventuell abgefallene oder liegen gebliebene Körperteile, damit die auch mitgehen, ja?“ Er winkt den beiden Kommissaren zu. „Also dann, tschüss, auf bald!“

„Guck mal, Nili, Willi winkt uns gerade hektisch zu, er hat wohl etwas entdeckt. Gehen wir rüber, hier gibt’s für uns eh nichts mehr zu erfahren.“

Willi eilt ihnen entgegen. „Ratet mal, was wir soeben in der Scheune entdeckt haben!“

Alle drei gehen zur Scheune. Diese ist vollgestopft mit Heu- und Strohballen sowie altem Gerümpel. „Vorsicht, bitte nur am Rand gehen, es gibt wichtige Spuren! Seht mal, hier!“ Willi deutet auf den matschigen Scheunenboden. Da das Dach nicht mehr ganz dicht und die Bodenfläche von dem heruntertropfenden Regenwasser aufgeweicht ist, zeichnen sich auf dieser deutliche Reifenabdrücke sowie zwei komplette Fußspuren ab. „’n Auto hatten die beiden doch nie, oder?“

„Das Profil zeichnet sich perfekt und tief ab, müssen ganz neue Reifen gewesen sein“, meint Hauke.

„Und dann auch dies noch!“ Stolz deutet Willi auf ein im Heu halb verstecktes Knäuel Plastikfolie. „Das da sind sicher die Reste einer Plastikhülle, mit der man ein neues Fahrzeug beim Transport zum Händler schützt.“

„Du meinst …“ Nili lässt die Frage unvollendet.

„Yes, my lady! Das waren ganz bestimmt unsere beiden Galgenvögel, wie Waldi sie nannte. Die zwei Russen haben wohl den Golf gestohlen und sich nach meiner Verfolgungsjagd hier ein paar Tage verkrochen, während wir sie überall in der Umgebung vergeblich suchten. Dann haben sie die beiden armen Frauen einfach erschossen, das Haus angezündet und sich aus dem Staub gemacht.“

„Deine Vermutung könnte stimmen. Gute Arbeit, Willi, prima!“ Nili ist begeistert und auch Hauke geht freudig auf Willi zu: „Give me five, Kumpel! Lass mal die Spusi Abdrücke von den Reifenspuren und denen der Schuhsohlen machen, und auch das Plastikzeug muss zur KTU. Wenn du recht haben solltest, dann sind da sicherlich ihre Fingerabdrücke drauf, und dann haben wir sie!“

Nili und Hauke gehen zurück zum Einsatzwagen, wo Prof. Dr. Kramm gerade Staatsanwalt Pepperkorn von seinem ersten Befund berichtet hat. Dann kommen die beiden Kriminaloberkommissare an die Reihe und erzählen von den heißen Spuren, die Polizeimeister Seifert in der Scheune gefunden hat.

„Na also, lieber Stöver, da haben wir ja ’ne Menge ordentliche Ansätze. Ich schlage vor, Frau Masal und Steffens machen sich auf den Weg nach Kiel, sobald die KTU-Untersuchungsergebnisse vorliegen. Jedenfalls rufe ich sofort das Oberkommissariat und auch den Oberstaatsanwalt in Kiel an, damit da ja nichts schiefgeht und die ganze Bande noch so lange festgenagelt bleibt.“

Nili berichtet, dass sie sowieso von Waldi Mohr angefordert worden sei, bei der Vernehmung der beiden festgenommenen Drogendealer mit ihren Sprachkenntnissen behilflich zu sein.

„Umso besser, verehrte KOK Masal, dann fahren Sie bitte gleich am Montagmorgen nach Kiel, ich informiere Ihren Boss Boie Hansen in Oldenmoor. Gute Arbeit, Leute, wirklich verdammt gute Arbeit! Und nun wollen wir unter der da draußen lauernden Pressemeute ein wenig Futter verteilen. Die lassen einem sonst überhaupt keine Ruhe! Dann sage ich erst einmal herzlichen Dank und wünsche Ihnen noch ein schönes und geruhsames Wochenende!“

***

Nachdem Hauke Steffens und Nili Masal am späten Nachmittag mit ihrem Dienstwagen zurück im eigenen Kommissariat eingetroffen sind, machen sie Feierabend. Nili wünscht dem Kollegen ein schönes Wochenende, steigt in ihren grünen Cross Polo um und fährt nach Hause. Sie parkt den Wagen direkt vor Onkel Suhls Haus in der Theodor-Heuss-Straße. Nach der Wiedervereinigung von DDR und BRD im Oktober 1990 hat man auch in der Kleinstadt einige Straßen umbenannt. Die vormalige Kaiserstraße – während der Nazizeit schnöderweise vorübergehend Adolf-Hitler-Straße – bekam gleich nach Kriegsende wieder den ursprünglichen Namen zurück, wurde aber nun zu Ehren des allseits beliebten ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland umgewidmet. Nili öffnet die Tür des Hauses, das sie seit der Ankunft aus Israel gemeinsam mit ihrer Mutter, Lissy Masal, und ihrer inzwischen sechsundneunzigjährigen Oma, Clarissa Keller, bewohnt. Ihr Großvater, Heiko Keller, war nach dem vierzehnjährigen Exil seiner Familie in Bolivien im Jahre 1952 gleich wieder in dieses Haus gezogen und hatte die ihm zurückerstattete Marschländer Backwarenfabrik bis wenige Jahre vor seinem plötzlichen Tod geleitet. Das noch bis zur politischen Wende in der DDR florierende Unternehmen konnte dem unlauteren Preiskampf mit den Billigbroten der Discounter- und Supermarktketten sowie den anderen, überall wuchernden neuen Bäckereiverkaufsstellen irgendwann nicht mehr standhalten. Der redliche Bäckergeselle und Kaufmann Heiko Keller weigerte sich, die stets hohe Qualität seiner Erzeugnisse den ruinösen Preispraktiken des Wettbewerbs zu opfern. Schweren Herzens gab er endlich auf: Die traditionsreiche Marschländer Backwarenfabrik (Tadeusz Rembowski Nachfolger – gegr. 1905) wechselte in die Hände eines Düsseldorfer Großbäckereikonzerns. Es dauerte nicht lange, bis dieser die gesamte Fabrikation aus Oldenmoor nach Thüringen verlagerte und die altehrwürdigen Fabrikgebäude abgerissen wurden. Auf dem umfangreichen Gelände in der Deichstraße entstanden danach neue Wohn- und Geschäftshäuser.

„Nili, eres tú? – Bist du es?“ Mit ihrer Großmutter Clarissa, die gerade fragend an der Küchentür erscheint, ebenso wie mit ihrer Mutter spricht Nili immer Spanisch, um ihre Kenntnisse in dieser Sprache aufrechtzuerhalten. Wenn ihre Mutter Lissy sich mit ihr allein unterhält, tun sie dies allerdings meistens auf Iwrith. Liebevoll betrachtet Nili ihre Großmama. Sie gehört zu jenen selten begnadeten Menschen, deren Gene trotz einiger Gesichtsfalten ihre in der Jugend gewesene Schönheit bis ins hohe Alter erahnen lassen. „Sí, abuelita, soy yo!“, bestätigt Nili, geht auf die alte Dame zu und umarmt sie liebevoll. „Ist die Mami noch nicht zu Hause?“, fragt sie und blickt auf die Armbanduhr. „Es ist ja schon fast halb sieben.“ In diesem Augenblick hören sie den Dieselmotor des Taro Pickup, den Lissy gerade hinter Nilis Polo abstellt.

Nili öffnet ihrer Mutter die Tür. „Shalom, Habibi, willkommen zu Hause!“

Mutter und Tochter fallen sich in die Arme. „Puh, Ima, welch ein apartes Hühnerparfüm!“ Nili rümpft die Nase und macht eine ulkige Grimasse.

„Schon gut, schon gut, ich geh ja gleich unter die Dusche! Was gibt es Gutes zum Abendessen?“, fragt Lissy. „Es duftet so verdächtig verführerisch aus der Küche.“ Sie nimmt auch Oma Clarissa liebevoll in die Arme.

„Überraschung! Wird nicht verraten!“

Wenig später sitzen die drei Generationen gemeinsam am Esszimmertisch und verspeisen genüsslich einige der heiß duftenden Humintas, die Clarissa aus dem Backofen gezaubert hat. Die beliebten Kuchen aus Maisbrei und Frischkäse, in Deckblätter von Maiskolben gewickelt und gebacken – das Rezept hat Clarissa aus Bolivien mitgebracht –, sind ein immer wieder willkommener Menüklassiker des Hauses.

„Als ich heute beim Einkaufen im Rewe-Markt die verlockend frischen Maiskolben in ihre grünen Chalas eingewickelt sah, konnte ich nicht an mich halten. Ich musste an unsere liebe Köchin Panchita denken, die uns doch so oft mit dieser Köstlichkeit verwöhnt hat. Erinnerst du dich noch, Lissy? Was wohl aus ihr und unserer schönen Villa in Sopocachi geworden sein mag?“ Es folgt ein tiefer Seufzer.

„Lass man, Mami, wollen wir hoffen, es geht ihr gut, ja?“

Sehr oft, vor allem seit sie ihren geliebten Ehemann Heiko, den sie alle den Deichkater genannt hatten, vor einigen Jahren verlor, schwelgt Clarissa meist in ihren Erinnerungen. Viel Zeit verbringt sie neuerdings beim Lesen ihrer ihr so teuren Tagebücher, inzwischen etwa dreißig an der Zahl, in denen sie akkurat die Geschehnisse und die intimsten Gedanken seit ihrer frühen Jugend festgehalten hat.

„Heute hatten wir einen ziemlich schaurigen Einsatztag“, bemerkt Nili, um ihre Omi von ihrem trübseligen Nachsinnen abzulenken. Sie skizziert in groben Umrissen, was auf dem weit abgelegenen Bauernhof vorgefallen ist. Ihre beiden Zuhörerinnen sind entsetzt. „Wie furchtbar, die armen Frauen! Wer tut nur so etwas?“

Nili wälzt sich unruhig von der einen zur anderen Seite. Während der gesamten Nacht hat sie schlimme Träume gehabt und immer wieder kommen ihr die verkohlten Leichen in den Sinn. Eigentlich ist ja heute Samstag, sie könnte doch länger schlafen. Sie schaut zum Wecker: sieben Uhr! Dennoch beschließt sie aufzustehen, geht ins Badezimmer, putzt sich die Zähne. Nach einer kurzen Katzenwäsche fasst sie die Haare mit einem Gummiband zum Pferdeschwanz zusammen und schlüpft in ihren Jogginganzug. Als sie ihre Laufschuhe angezogen hat, schleicht sie sich leise aus der Haustür und trottet die noch menschenleere Straße entlang. Die frische Morgenluft tut ihr gut und die körperliche Anstrengung vertreibt schon bald den finsteren Nachtnebel aus ihren Gedanken. Nach etwa einer Viertelstunde erreicht sie eine der Landstraßen, die aus Oldenmoor hinausführen, und läuft gleichmäßig auf dem Fahrradweg neben der zu dieser frühen Morgenstunde fast unbefahrenen Autostraße. Als sie an der Auffahrt zum Holstenhof angelangt ist, biegt sie in diese ein, verlangsamt das Lauftempo und macht gleichzeitig tiefe Atemübungen mit weit kreisenden Armen. Kurz bevor sie an das Haus kommt, öffnet sich die Tür und ihr Onkel Oliver, der Bruder ihrer Mutter, kommt ihr mit einem freudigen Lächeln entgegen. „Hola, Nili, que sorpresa tan linda“, begrüßt er sie. „Welch schöne Überraschung schon zu so früher Stunde! Du kommst gerade recht zum Frühstück!“

„Hi, Onkel Oliver, prima! Darf ich aber erst einmal kurz unter die Dusche, ich bin total verschwitzt!“

Wenig später sitzt die Großfamilie in der geräumigen Wohnküche. Das sind zum einen der mit seinen siebenundsiebzig Jahren noch sehr kernig erscheinende Onkel und seine daneben sitzende Gattin, Tante Emma-Martha – auch Madde genannt. Sie ist, ebenso wie Nilis Mutter Lissy, zwei Jahre jünger als er, im Gegensatz zu Lissy allerdings ziemlich korpulent. Zum anderen sind das zwei ihrer drei Kinder: Hans-Peter und der Nachkömmling Oskar, den Onkel Oliver spaßig als seinen „selbstgemachten Enkel“ bezeichnet. Die Tochter, Annette, ist schon vor Jahren ausgezogen und wohnt in Berlin. Nilis Onkel Oliver hat sich vor zwei Jahren auf das Altenteil zurückgezogen. Sein ältester Sohn Hans-Peter, der ihm sehr ähnlich sieht, bewirtschaftet seitdem den Holstenhof zusammen mit seiner Ehefrau Corinna. Auch sie haben drei Kinder: Steffan, Carola und Sophie. Natürlich sind alle mächtig stolz auf ihre Nichte-Cousine-Großcousine Nili, die ja so einen spannenden Beruf hat.

Oliver schneidet gerade eines der von Corinna im Backrohr aufgekrossten Brötchen auf. „Mensch Meyer, was sind dies doch für armselige Krüppel! Kein Vergleich mit unseren frischen Brötchen aus Opas Backwarenfabrik!“

„Aber wenigstens unsere eigene Butter und Käse und Oma Clarissas selbst eingekochte Erdbeermarmelade schmecken doch prima darauf, oder?“, kontert Emma-Martha lächelnd.

„Hast ja recht, Madde, dennoch, ich vermisse sie eben! Es tut mir so leid, dass mein Vater seine Backwarenfabrik wider Willen abgeben musste. Ich glaube, das hat ihn auch vorzeitig zu Tode gequält. Sonst war er doch noch fit.“

„Und da sind ja auch die leckeren Eier von Tante Lissys Hühnerhof“, kolportiert der jüngere Oskar, der gerade eines davon geköpft hat und genüsslich den knallgelben Dotterrest von seinem Messer abschleckt.

Nili greift in die Tasche ihrer Jogginghose und holt das dumpf brummende Handy hervor. „Entschuldigt, es ist Lissy!“, sagt sie, steht auf und geht zur Küchentür. „Boker tov, Ima!“, sagt sie – Guten Morgen, Mutter. Dann geht es auf Iwrith weiter. „Ja, ich bin bis zum Holstenhof gejoggt, wir sitzen alle am Frühstückstisch.“ Sie wendet sich der Gesellschaft zu: „Mutter umarmt euch alle!“

„Sag ihr, sie soll Oma Clarissa zum Mittagessen mitbringen, wir haben heute reichlich frisch gebratene Kalbsleber mit vielen Äpfeln, roten Zwiebeln und Kartoffelmus“, schlägt Madde vor.

Und Oliver meint vielsagend dazu: „Sie braucht keine Angst zu haben, es gibt davor auch ganz sicher kein Lungenhaschee!“

Schmunzelnd gibt Nili die Information weiter. „Also gut, dann bis um zwölf, wie bi de Buurn gang un geev is! Und bring mir bitte frische Unterwäsche mit! Bis dann, großer Kuss! Wiedersehen!“

„Opa, was sollte das mit dem Lungenhaschee?“, fragt Carola neugierig. „Ach, liebes Kind, das ist ’ne längere Geschichte. Als Lissy und ich noch Kinder waren und auf dem Landgut Guayrapata in Bolivien, von dem ich ja schon so oft erzählt habe, unsere Schulferien verbrachten, wurde auch ab und zu eines der Kälber geschlachtet. An einem solchen Tag gab es unweigerlich das uns verhasste Lungenhaschee, eine Speise, die ihr gottlob nicht kennt – da habt ihr auch wirklich nichts versäumt! Jedenfalls mussten wir immer erst diesen ekligen Brei verdrücken, denn sonst gab es keine gebratene Leber, die wir doch so sehr mochten.“

Als alle satt sind, erhebt sich allmählich einer nach dem anderen vom Frühstückstisch, ein jeder hilft ein wenig beim Abräumen. Oliver und Nili bleiben mit ihren noch halb vollen Kaffeebechern sitzen.

„Und? Alles in Ordnung auf dem Holstenhof?“, fragt Nili.

„Ach ja, eigentlich schon. Die Milchquoten, die uns aus Brüssel vorgeschrieben werden, machen uns allerdings zu schaffen. Wir haben deshalb vor einem halben Jahr angefangen, die Überschüsse, die uns die Meierei nicht abnimmt, selbst zu verarbeiten und hier im Umkreis direkt zu vermarkten. Klappt eigentlich bestens, denn es hat sich rasch herumgesprochen, und Stefan und Carola wollen hier bald ihren eigenen Hofladen eröffnen, wir bauen dafür gerade eine der beiden Scheunen an der Auffahrt entsprechend um.“

Nili nickt zustimmend. „Finde ich ’ne prima Idee, Milch frisch von der Kuh direkt an den Verbraucher!“

„Na ja, ebenso Sahne, Butter, Frischkäse und Quark.“

„Und auch die frischen Eier aus der Bodenhaltung von Lissys Eulenhof könntet ihr verkaufen!“

So schwelgen sie eine Weile in ihren Plänen.

Plötzlich stürmt Oskar in die Wohnküche. Er hält ihnen seinen aufgeklappten Laptop hin. „Seht mal, hier ist die Nili auf der ersten Seite des Courier!“

Unter dem Titel „ZWEI FRAUEN NACH FEUER AUF EINEM BAUERNHOF TOT AUFGE-FUNDEN“ erscheint ein großes Farbfoto, auf dem hinter dem weiß-roten Polizeiabsperrband tatsächlich Nili deutlich inmitten der Einsatzleute vor dem Bauernhof zu sehen ist.

„Ach, sieh mal, hat mich also Jochen Ploog mit seinem Teleobjektiv doch noch erwischt!“ Sie hatte den Journalisten des Courier bereits bei der Anfahrt zum Tatort unter den vielen davor postierten Presseleuten bemerkt und ihm auch zugewinkt. Als sie aber später bemerkte, dass die Presseleute anfingen, Fotos zu machen, versuchte sie sich so gut es ging abzuwenden. Das war ihr wohl nicht ganz gelungen! Unter dem Foto ist ein magerer Bericht über das wenige zu lesen, das der zuständige Staatsanwalt Pepperkorn gegenüber der Presse verlauten ließ, nämlich dass die Polizei mehrere viel versprechende, heiße Spuren verfolge.

Die Nachricht über Nilis Foto in der Zeitung breitet sich wie ein Lauffeuer im Holstenhof aus. Bald sind alle wieder in der Wohnküche versammelt und bedrängen Nili, ihnen doch alles zu erzählen, was sie weiß.

„Tut mir ja so leid, ihr Lieben, aber viel mehr als das, was in der Zeitung steht, darf ich nicht erzählen, sonst krieg ich ’nen riesigen Zoff mit meinem Chef, okay?“

„Weißt du schon, wer der böse Mörder ist?“, fragt Sophie, die Jüngste im Kreise.

„Nein, leider noch nicht, aber wir haben so viele gute Hinweise auf die Täter und können deswegen hoffen, sie bald auszumachen.“

„Ach, dann sind es wohl mehrere, nicht wahr?“, folgert Oskar.

„Bist ganz schoin plietsch, mien Jung!“, bewundert ihn Nili und streicht liebevoll über seine strohblonden Haare.

Im Bann der bitteren Blätter

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