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Vorwort Unheilbarer Kontrapunkt1

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»Manfred Eisner, Jahrgang 1935, geboren in München, erlebte Kindheit und Jugend als Emigrant in Bolivien.« So lautet der Beginn des verkürzten Lebenslaufs, mit dem ich mich als Autor am Ende dieses Romans meinen Leser*innen vorstelle. Zu den unvergesslichen Höhepunkten meiner Kinderzeit gehören die auf der Hacienda Guayrapata meines Nennonkels in den subtropischen Yungas nahe La Paz verbrachten Schulferien, die ich gebührend im letzten Roman meiner Trilogie2 thematisiert habe. Ich muss acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als mich während der Nacht eine Vinchuca – eine hinterlistige, drei bis vier Zentimeter lange tropische Wanzenart – biss und eine blutende Wunde auf meinem Arm hinterließ. Als ich dies in der Früh meldete, eilte Luisa Saavedra, eine unserer einheimischen Küchenangestellten, in mein Schlafzimmer und machte sich auf die gewissenhafte Suche nach der bösartigen Verursacherin. Tatsächlich gelang es ihr, das unheilvolle Ungeziefer nach einigem Stochern in den zahlreichen Rissen der gekalkten Adobewand auszumachen, es daraus hervorzuholen und sogleich zu zerdrücken, wobei seine aus mir geschröpfte Beute als großer roter Erinnerungsfleck auf dem weißen Hintergrund verblieb. Sogleich wurde der Leichnam der Übeltäterin in die Küche überführt und dort in einer Tonschale auf dem offenen Feuer zu Asche kremiert. Nachdem die Bisswunde mit Wasserstoffsuperoxyd gereinigt worden war, drückte Luisa ein wenig Blut heraus, verstreute darauf die Asche und setzte mir einen Verband, den ich während der nächsten drei Tage trug. Obwohl der brasilianische Arzt Carlos Chagas die nach ihm benannte Krankheit und deren Erreger Trypanosoma cruzi – der durch den Biss der blutgierigen Raubwanze auf Mensch und Tier übertragen wird – bereits 1909 entdeckt hatte, blieben sowohl dessen Erkenntnis als auch die Krankheit der davon am meisten gefährdeten südamerikanischen Bevölkerungen zur damaligen Zeit überwiegend unbekannt.

Ich weiß nicht, ob ich nur Glück hatte und besagte Vinchuca zufälligerweise keine Keimüberträgerin oder ob es Luisas couragierter Intervention zu verdanken war, dass ich vor dem Ausbruch der Morbus Chagas bewahrt wurde. Jedenfalls erfuhr auch ich erst viele, viele Jahre später bei einer meiner ersten Geschäftsreisen nach Brasilien Anfang der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts von der millionenfachen Erkrankung und den Zigtausend, die jährlich daran sterben. Denn eines steht leider fest: Obwohl heute bereits zwei Arzneimittel existieren, die zumindest eine Linderung der Symptome versprechen, gibt es bislang keine gezielte Therapie, die dem Erreger mit Sicherheit den Garaus macht. Man darf sich reinweg fragen, weshalb das so ist. »Honi soit qui mal y pense«3, könnte man durchaus antworten, denkt man an die betont üppige Kalkulationsmentalität der Pharmaindustrie und deren Gegenüberstellung von (ehrlich: tatsächlichem?) Forschungsaufwand versus Nutzen (sprich: den zu erwartenden Verkaufszahlen beziehungsweise dem Vermögensstand der betroffenen Behandlungszielgruppe). Da in den meist mit Chagas befallenen tropischen Regionen Südamerikas überwiegend bittere Not und Armut herrschen, bietet sich hier wohl kaum eine Chance für Serumhersteller, sich damit eine goldene Nase zu verdienen. Es sei denn …

Ja, die gegenwärtige Corona-Pandemie hat doch just bewiesen, dass es auch anders geht! Stehen potente Mäzene oder Behörden dahinter, die die Schaffenskraft der Arzneihersteller mit erheblichen, meist aus unseren Steuergeldern finanzierten Geldspritzen aktivieren, schaffen diese es sogar innerhalb unglaublich kurzer Zeit, wirksame Impfstoffe und wahrscheinlich ebensolche behandlungseffektive Medikamente aus den Forschungslaboren herbeizuzaubern! Hätten wir in Westeuropa nicht stets gut fundierte, aber leider ebenso von Irrglauben hervorgebrachte Bedenken und Scheinvorbehalte gegen eine ethisch sinnvolle, wissenschaftlich orientierte Genforschung, wäre es sicherlich noch schneller gegangen (siehe China und Russland!). Dennoch bleibt dieses Mirakel den potent-liquiden westlichen oder diktatorisch regierten östlichen und asiatischen Mächten vorbehalten, die entsprechend über die erforderlichen Geldmittel und/oder Machtbefugnisse verfügen. Gleiches bleibt wiederum jenen Ländern versagt, in denen sich Regierende und Regierungen lediglich turnusgemäß durch Wahlen oder Putsch ablösen, um sich an den öffentlichen Kassen selbst zu bereichern. Da verbleibt naturgemäß kein Geld, um kommerziellen Anreiz bei der Pharmaindustrie zu generieren.

Morbus Chagas erwähne ich hier nur als stellvertretendes Musterbild, denn kaum anders geschieht es mit einer endlosen Liste von aussichtslosen Krankheiten wie beispielsweise Dengue-Fieber, Morbus Crohn, Marburgsche Krankheit und zig anderen, bei denen – wenn überhaupt – Beschwerden zwar gemildert werden können, deren Ursachen jedoch bislang unheilbar bleiben.

Dennoch sollte man nicht nur den Stab der Gerechten über diese viel gescholtene Branche brechen. Seien wir vor allem froh und dankbar, dass diese heute für uns überhaupt existiert und – wie auch immer – Apotheken uns mit den von ihnen erzeugten, erforderlichen Medikamenten versorgen. Nicht zuletzt tragen Pharmaka auch erheblich zu der sich stets weiterentwickelnden Langlebigkeit bei. Undenkbar, wenn, wie bereits im Laufe der Menschheitsgeschichte des Öfteren geschehen, eine Pandemie ausgebrochen wäre, ohne dass wir auf ein rettendes Serum hätten hoffen dürfen! Und all jene, die so etwas gar nicht gerne hören mögen, aufgepasst: Den ersten zugelassenen Impfstoff und das bei uns bisher am häufigsten verabreichte Vakzin mit dem höchsten Wirkungsgrad verdanken wir dem Forschungsgeist eines Ehepaars mit Migrationshintergrund!

Umso ärgerlicher ist es, dass die besonders in Deutschland zugelassenen Gewinnmargen an vielen Arzneimitteln einen beachtlichen Sektor der organisierten Kriminalität dazu anlockt, diese nachzuahmen oder gar zu fälschen, um sie dann illegal in den Verkehr einzuschleusen. Ganze Fabriken in Ländern wie China, Pakistan, Bangladesch und Indien, aber auch in Osteuropa wurden mit mafiösen Geldern aus dem Boden gestampft, mit dem alleinigen Ziel, die akkreditierte Pharmabranche mit ihren falsifizierten Pseudomedikamenten zu infiltrieren.

Diese in letzter Zeit wiederholt aufgeflogenen Umtriebe – die nicht zuletzt bösartigen Anschlägen auf unser aller Gesundheit gleichkommen – habe ich als Leitmotiv für diesen Roman gewählt. Allerdings, wie im Vorworttitel angedeutet, gepaart mit einem genauso üblen Begleitthema, das eine eher noch bedrohlichere Gefahr für unsere Demokratie darstellt.

Als 1945 die siegreichen Alliierten das Naziregime niederwalzten und einige von deren Haupttätern – beileibe nicht alle! – ihre unmenschlichen Verbrechen infolge des Nürnberger Prozesses am Galgen büßten, hegte die restliche Welt die illusorische Hoffnung, dass damit der üble nationalsozialistische Ungeist besiegt und für alle Zeiten in einem ehernen Verlies gebannt sei. Doch bereits kurz nach der Kapitulation ließ man den überwiegenden Rest der Übeltäter ungeschoren davonkommen, untertauchen oder gar, nach einer lächerlichen, ›Entnazifizierung‹ genannten Gesinnungs-Reinwaschung wieder gewähren, meinte man doch, aus ehemaligen Mitläufern nun ehrbare Bürger gemacht zu haben. Zu all denen kamen jene ›nützlichen Täter‹, die zwar über blutige Hände, gleichzeitig aber über besondere Fähigkeiten und einiges an Wissen verfügten und die sich die nun feindlich gesinnten Sieger im folgenden Gegeneinander zunutze machen wollten. Aber auch in unserer neu geschaffenen Bundesrepublik infizierten diese Elemente Justiz- und Beamtenapparat oder bildeten jene rechtsextremen politischen Parteien und Gruppierungen, die trotz deren wiederholter Namensänderungen bis zum heutigen Tage ihr elendes völkisches Gedankengut pflegen.

Was mich zu der grundsätzlichen Frage führt, weshalb eigentlich die semantisch widersinnige Einteilung in links- beziehungsweise rechtsorientierte Ideologien und Parteien auch heute noch allgemeingültig sein soll. Ursprünglich führt sie zurück auf die Sitzordnung der französischen Abgeordnetenkammer der Nationalversammlung von 1814: Von der Mittelachse aus betrachtet – dem Sitz des Präsidenten –, befanden sich rechts jene (konservative) Parteien, die die gegenwärtigen Verhältnisse beibehalten wollten. Ihre (progressiven) Opponenten, die gesellschaftliche und/oder politische Veränderungen im Sinn hatten, saßen links davon. Von der Linguistik her erscheint diese Rechtslinks-Einteilung überhaupt nicht mehr zeitgemäß: ›Recht‹ bedeutet seit jeher ›Gesetzmäßigkeit‹ und heißt demnach, man folgt strikt den demokratisch formulierten Vorschriften der Verfassung, also unserem Grundgesetz. Aber genau dies haben sogenannte ›Rechte‹ Ultras weder in der Vergangenheit je getan, noch befolgen sie es in der Gegenwart: Mit unlauteren Manövern und bösen verbalen Verunglimpfungen nebst Hasstiraden im Internet nötigen sie aufrichtige Demokraten und streuen absurde Verschwörungstheorien nebst perfiden Unwahrheiten, mit dem Ziel, die Bevölkerung zu verunsichern und unseren Staat zu destabilisieren. Da sind also ›Rechts-Extreme‹, die das Ziel verfolgen, gewaltsam linkische politische Veränderungen herbeiführen zu wollen! Hierzu begnügen sie sich neuerdings nicht mehr mit ernsthaftem Schikanieren und Verprügeln von Migranten und Kippaträgern; sogar vor Brandschatzung, kaltblütiger Ermordung von erklärten politischen Gegnern und gewaltsamen bewaffneten Überfällen auf Synagogen und Dönerläden wird nicht Halt gemacht!

Sicherlich hat nach Ende des furchtbaren Krieges eine überwiegende Mehrheit der anständigen Deutschen irgendwann sogar ihre Irrleitung durch die Perfidie von Hitler, Goebbels & Co. – wenn auch nach einer sehr langen Verdrängungsphase – zwar spät, aber immerhin erkannt und sogar bereut, ein Rest von schätzungsweise fünfzehn Prozent hingegen offensichtlich nicht. Wie sehr hatten wir darauf gesetzt und gehofft, dass mit dem Absterben der Nazigeneration auch der Morbus hitleriensis aus den Köpfen verschwunden sei und im Müllhaufen der Geschichte versenkt werde. Dies traf bedauerlicherweise nicht zu. Durch halbherzige Gesetze niedergedrückt und wohl auch wegen der allzu lang hinausgezögerten Bestrafung von KZ-Mördern – man stelle sich vor: Erst kürzlich (75 Jahre danach!) wurden einige über neunzig Jahre alte Täter vor Gericht gestellt – überlebte das latent bösartige Virus und fand erneut willkommenen Einlass in jene Hirne, in denen ein Vakuum von Anstand und Menschlichkeit überwiegt. Ja, zugegeben, die Bösewichter sind beileibe nicht nur unter uns, und auch ja, in der restlichen Welt gibt es sie ebenso, diese unverbesserlichen Nazis! Dies entschuldigt aber keineswegs die bisweilen nachlässige und leider auch gleichgültige Attitüde unserer Behörden und vor allem der Justiz, mit der sie bis vor Kurzem so manchem eklatanten Angriff begegnet sind. Sogenannte ›wissenschaftliche Studien‹ oder parlamentarische Untersuchungsausschüsse wegen Rechtsextremismus sammeln lediglich Beweise für einen weiß Gott allgemein bekannten lamentablen Zustand: Das gelegentlich eklatante Versagen von Geheimdiensten und Polizei in Sachen Bekämpfung von Terroristen, aber ebenso Prävention vor deren Attentaten, ist in der Tat besorgniserregend. Wie heißt es so schön? Wehret den Anfängen! Ein geflügelter Ausspruch, der in letzter Zeit aus vieler Munde gehört, auf Protestplakaten und Demos gezeigt sowie in zahlreichen Artikeln zitiert wurde. Die leidliche Erfahrung, dass die abgedroschene ›Beobachtung durch den Verfassungsschutz‹ einem erwiesenermaßen unwirksamen ›dolce fare niente‹ gleicht, bedeutet doch, dass hartes Zugreifen eher das Gebot der Stunde wäre! Erfreulicherweise scheinen dies neben unserer couragierten Verteidigungsministerin auch einige Landesinnenminister kapiert zu haben: Die längst fällig gewordene Auflösung der rechtslastigen zweiten Kompanie der KSK in der Bundeswehr sowie die über Bundesländer hinweg koordinierten Aushebungen von Unterkünften und Nestern dieser extremistisch radikalisierten Gefährder unserer Demokratie haben durch die mannigfaltigen Waffen-, Munitions- und Sprengstofffunde erwiesen, wie dringend notwendig solche Aktionen sind.

Weil allerdings, wie in den letzten Monaten wiederholt bekannt geworden, sogar unsere Ordnungshüter mit solch abartigen Individuen infiltriert sind, ist höchste Eile geboten, diesen Ungeist auszumerzen. Dennoch schließe ich mich voll und ganz den Worten unserer schleswig-holsteinischen Innenministerin an, die in einem Zeitungsartikel äußerte: »Ich bin überzeugt, dass sich unser Bild der weltoffenen Bürgerpolizei in den Werten und der Grundhaltung unserer Polizistinnen und Polizisten widerspiegelt.« Und es ist auch in diesem Sinne, in dem ich meine Krimis mit Nili Masal und ihren Mitstreitern verfasse. Dennoch sind, ebenso wie in den vorangegangenen neun Ermittlungsfolgen, auch die nachstehend geschilderten Geschehnisse sowie sämtliche darin vorkommende Namen und Positionen fantasiegeschuldet und von mir frei erfunden. Eine etwaige Übereinstimmung mit real existierenden Personen, deren Berufen, Dienstgraden oder den geschilderten Begebenheiten wäre rein zufällig.

Manfred Eisner, im Herbst 2021

Kein Septemberurlaub in Ligurien

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