Читать книгу Kein Septemberurlaub in Ligurien - Manfred Eisner - Страница 9
2. Dreifacher Blattschuss
Оглавление»Siehst du ihn, da hinter den Büschen? Ein Prachtkerl!«, wispert der Jäger auf dem Hochsitz ins Ohr seines Begleiters und deutet mit dem Kopf auf die Stelle, die er durch das Fernglas beobachtet. Aufmerksam dreht der kapitale Gabelbock seine Lauscher, als habe er die Worte gehört. Nur das Summen der Brise, das die bereits leicht vergilbten Blätter der Bäume leise bewegt, ist zu vernehmen. Offensichtlich beruhigt, senkt das Tier den ansehnlich gehörnten Kopf, um weiterzuäsen. Jochen von Waldheim lässt das Fernglas auf die Brust sinken und greift behäbig zur Rehwildbüchse. Genüsslich visiert er seine Beute durch das Zielfernrohr an und drückt ab. Wie vom Blitz getroffen fällt der Rehbock fast gleichzeitig mit dem todbringenden Knall zu Boden. »Weidmannsheil!«, beglückwünscht ihn der Jagdfreund, während sich der erfolgreiche Schütze erhebt, um flink die Leiter herabzuklettern. Er kann gerade noch »Weidmannsdank!« erwidern, bevor ein zweiter Schuss durch die Luft peitscht und ihn in den Rücken trifft. Nach kurzem Zucken rutscht er leblos an der Leiter herab, bis er an deren letzter Sprosse hängen bleibt. Heino Folkerts springt entsetzt von der Bank hoch und ruft ängstlich: »Jochen, Jochen! Oh mein Gott! Was ist das denn nur! Wer …« Aufgrund des erneuten, diesmal auf ihn gerichteten Treffers ins Herz bleibt sein Satz unvollendet. Wie in Zeitlupe klappt er auf dem Boden des Hochstands zusammen.
Der vermummte Mörder kommt aus dem Dickicht heraus, schneidet mit seinem Jagdmesser zwei Eichenzweige von dem ihm am nächsten stehenden Baum und wirft sie mit einem verachtungsvollen Grinsen auf den Toten, der noch immer an der Leiter hängt. Dann macht er kehrt und verschwindet lautlos im Gehege.
Wenige Minuten später lugt der Kopf eines Mannes aus einem der Büsche heraus. Er tippt rasch auf seinem Handy: Ich hab ihn, du auch? Zufrieden lächelnd angesichts der Antwort schreibt er: Voll drauf! Wir können!
*
»Guten Morgen, Frau Masal, hier spricht Doktor Cornelia Bach. Ich habe versucht, Ihren Vorgesetzten, Herrn Kriminalrat Mohr, zu erreichen, er ist aber heute leider außer Haus, weshalb ich mich mit Ihnen verbinden ließ. Wir haben einen doppelten Leichenfund in einem Jagdrevier in der Nähe von Itzehoe. Die Toten konnten inzwischen identifiziert werden und weisen Schussverletzungen auf, wir müssen deshalb von Mord ausgehen. Es handelt sich um zwei hochgestellte Mitglieder der Geschäftsführung der hiesigen Niederlassung eines renommierten Pharmakonzerns. Herr Kriminaloberrat Heinrich Stöver ist für den Fall zuständig und seine Mitarbeiter und die KTU sind bereits vor Ort. In Anbetracht der hochbrisanten Tatopfer regte er an, Ihre bewährte Unterstützung anzufordern. Wäre es Ihnen möglich, sofort dorthin zu fahren?«
»Selbstverständlich, wie immer gern, Frau Staatsanwältin. Und danke für Ihr und Herrn Stövers freundliches Vertrauen. In Abwesenheit unseres Chefs hole ich mir aber zunächst den Segen unseres Abteilungsleiters, bevor ich mich mit meinen Kollegen auf den Weg zu Ihnen mache. Würden Sie mir freundlicherweise schon einmal die Koordinaten des Tatorts auf mein Smartphone durchgeben lassen, dann fahren wir direkt dorthin. Ich melde mich, sobald wir da sind. Auf Wiedersehen!«
Erste Kriminalhauptkommissarin Nili Masal, Leiterin des vierköpfigen Sonderermittlungsteams im Kieler LKA, legt den Hörer zurück und blickt auf die Mitarbeiter ihrer Cold Case Unit, die vorwiegend mit der Überprüfung und der eventuellen Neuaufnahme bisher nicht gelöster Fälle beauftragt ist. In akuten Fällen wie diesem leisten sie zusätzlich schleswig-holstein-weite Unterstützung für die lokalen Strafermittlungskollegen. Die beiden Kriminaloberkommissare Margrit Förster und Robert Zander sowie Kriminalkommissar Timo Bohn sind gerade damit beschäftigt, den in der vorigen Woche aus dem spanischen Baskenland hinzugekommenen Austauschbeamten Inspector Manuel Iturri einzuweisen und ihn mit nützlichen Informationen zu versorgen.
»Es gibt zwei Leichenfunde in der Nähe von Itzehoe und die Staatsanwaltschaft sowie unser lieber ›Hein Gröhl‹ bitten uns um Amtshilfe«, verkündet Nili. »Da Doktor Mohr und ich nächste Woche in den Urlaub fahren, denke ich, es wäre angebracht, dass Sie beide, Margrit und Robert, gleich mitkommen, um eventuell weiter am Fall zu bleiben. Timo, Sie und Manolo machen inzwischen hier mit dessen Einweisung weiter, okay? Ich rufe aber der Ordnung halber KOR Heidenreich an, um sein Plazet einzuholen. Robert, gehen Sie schon mal vor und geben diese Koordinaten ins Navi ein.« Sie reicht ihm ihr iPhone und den Schlüssel für den BMW X3, der ihnen als Dienstfahrzeug zur Verfügung steht. »Margrit und ich kommen dann nach.«
Eine knappe Stunde später fährt der X3 entlang dem engen Waldwanderweg und passiert eine für sie geöffnete Schranke, nachdem sie der neben einem parkenden Streifenwagen stehende Polizist begrüßt und sie an den ungeduldig wartenden Presse- und Fernsehteams vorbeigewinkt hat.
»Man kann es noch so akribisch geheim halten, die Medienmeute erfährt es doch!« Nili lächelt, als sie unter den Presseleuten ihren Vetter Jan-Jürgen Ploog erkennt, Redakteur vom Courier in ihrer Heimatstadt Oldenmoor. Dieser gibt ihr mit einem deutlichen Handzeichen zu verstehen, sie möge ihn anrufen. Sie winkt ihm lächelnd zu. »Andererseits tut es gut, dass wir so eine freie Presse haben; darum beneiden uns viele Bürger jener Länder, in denen sie von Staats wegen geknebelt wird!«
Robert parkt den Wagen neben den anderen Fahrzeugen. Oberkommissar Hauke Steffens von der Itzehoer Bezirkskriminalinspektion kommt ihnen entgegen und berichtet, während sie zum Tatort gehen, was bereits bekannt ist: »Beide Tote wurden anscheinend im Lauf des gestrigen Spätnachmittags vermutlich mit einer Jagdbüchse erschossen. Das erste Todesopfer ist der Pächter des Jagdreviers, Jochen von Waldheim, ein großes Tier in der Pharmabranche. Er wurde durch einen Schuss in den Rücken getroffen, wahrscheinlich als er die Leiter vom Hochsitz herunterkletterte, um nach dem Bock zu sehen, den er soeben erlegt hatte. Um den kümmert sich im Übrigen bereits der Revierförster. Bei dem zweiten Toten handelt es sich um Heino Folkerts, einen seiner engsten Mitarbeiter. Folkerts wurde frontal direkt ins Herz getroffen und lag noch auf dem Hochsitz. Ihre Personalausweise fanden wir in der benachbarten Jagdhütte.«
Sie sind inzwischen am Tatort angelangt. Der herbeigerufene Doktor Wolfgang Degenhardt, niedergelassener Allgemeinmediziner aus Itzehoe, hat soeben die Leichenschau beendet und fertigt die Totenscheine aus.
»Wie es scheint, handelt es sich hier um eine regelrechte Hinrichtung«, urteilt er, nachdem sich alle gegenseitig vorgestellt haben. »Ich muss zugeben, dass ich besonders betroffen bin, kannte ich doch beide Opfer und war bereits einige Male Gastjäger bei Herrn von Waldheim. Der Täter ist sehr wahrscheinlich ebenfalls Jäger, denn er hat zwei Eichenbrüche auf von Waldheims Leiche hinterlassen. So etwas tun für gewöhnlich nur Eingeweihte, die mit diesem waidmännischen Brauch vertraut sind.«
»Jedenfalls war er pietätvoll genug, um den Bruch nicht auch noch in den Mund des Toten zu stecken«7, wirft Hauke Steffens, der im Hintergrund steht, ein. Hauke war einst Nilis Teampartner, als beide noch ihren Polizeidienst in Oldenmoor leisteten. Sie weiß daher genau, dass er grundsätzlich gegen Jägerei und Schießsport eingestellt ist, hauptsächlich weil es die den Schützen zugeteilte Waffenerwerbskarte ermöglicht, eine Vielfalt an Waffen auf legalem Wege zu erwerben und diese auch zu führen. Wie oft mussten sie schon Tötungsdelikte aufklären, die mit solchen verübt worden waren!
»Ich denke eher, dass dies keineswegs eine Ehrung, sondern eher ein höhnischer Akt der Ächtung gegenüber den Toten gewesen sein soll, Herr Kriminalkommissar!«, erwidert der Arzt mit tadelndem Seitenblick.
»Wer hat die Toten gefunden?«, interveniert Nili, um zu deeskalieren.
Haukes Kollegin Dörte Westermann berichtet, dass Revierförster Baumann die Tat bei seinem morgendlichen Rundgang entdeckt und sogleich gemeldet habe. Auf Roberts erneute Nachfrage hin bestätigt der Arzt, dass die Tat etwa fünfzehn Stunden davor stattgefunden haben muss, also etwa um neunzehn Uhr des Vortages. Genaueres ergebe die Obduktion.
»Ist schon etwas über die Projektile bekannt?«, fragt Margrit. Sie begrüßt die soeben herbeigeeilte Kriminaltechnikerin, die die SpuSi leitet. »Hallo Lilo«, sagt sie, »habt ihr etwas gefunden?«
»Moin, Leute! Ja, ich habe was für euch!« Sie hebt den Asservatenbeutel hoch, in dem sich eine leicht deformierte Kugel befindet. Dr. Degenhardt mustert sie kurz: »Magnum-Munition, Kaliber 5,7 x 50, schätze ich. Ist besonders für Rehwild geeignet und stammt definitiv aus einer Jagdbüchse!«, urteilt er.
»Na bravo, davon gibt’s hier wahrscheinlich Dutzende!«, wirft Robert ein. Mit seinem Smartphone macht er Fotos von dem Tatort und den beiden Toten.
»Wo habt ihr die Kugel her?«, fragt Nili?
Lilo berichtet: »Damit wurde von Waldheim hinterrücks mit einem Durchschuss getötet, während er die Leiter herunterkletterte. Er muss von unten angeschossen worden sein. Das Projektil blieb dann unterhalb des Hochstands im Holzboden stecken. Uns-Uwe hat den Schusswinkel nachempfunden und die Kugel dort gefunden.«
»Ein Horrido8 auf den Kollegen Lindemann!«, scherzt Hauke. »Habt ihr auch die Kugel, die den anderen Toten getroffen hat?«
Kriminaltechniker Uwe Lindemann nähert sich soeben der Gruppe und trägt die beiden Büchsen, die die getöteten Jäger mit sich geführt haben. »Sorry, Freunde, noch nicht! Folkerts muss aufgestanden sein, kurz bevor er getroffen wurde. Es war ebenfalls ein glatter Durchschuss, wohl aus einiger Entfernung abgefeuert. Wir konnten inzwischen auch die Postierung des Schützen im Abstand von weniger als hundert Metern ausmachen, aus der er beide Schüsse abgab. Leider haben wir keine Patronenhülsen gefunden, die muss er selbst entfernt haben, aber es besteht kein Zweifel, dass es sich um ein und dieselbe Waffe handelt. Mit dem Kaliber könnten Sie recht haben, Herr Doktor! Mit dem Laser konnte ich bereits die Schusslinie eingrenzen. Ich hole gerade den Metalldetektor, um nach der Nadel im Heu zu suchen.« Seufzend sieht er sich im Walddickicht um. »Wird aber schätzungsweise ’ne Weile dauern – wenn ich überhaupt etwas finde!« Dann geht er zum Transporter, um das Gerät zu holen.
Der Leichenbeschauer übergibt den Beamten die Totenscheine und verabschiedet sich. »Sie können jetzt die Leichen in die Gerichtsmedizin bringen, meine Herren«, sagt Dörte Westermann zu den beiden Bestattern, die sich sogleich an die Arbeit machen.
Lilo Papst nickt. »Und ich nehme mir in der Zwischenzeit die Jagdhütte vor. Mal sehen, ob wir dort etwas Relevantes finden.«
Mit traurigem Blick schaut Nili den Sargträgern hinterher, während diese den ersten Sarg zum Leichenwagen bringen. So sehr sie sich bemüht, dagegen anzugehen, ist sie jedes Mal zutiefst ergriffen, wenn sie Tatopfer in Augenschein nehmen muss. Um ihre Gefühle zu verbergen, dreht sie sich rasch um. »Lasst uns einfach der SpuSi folgen, Kollegen«, meint sie trocken. »Hier gibt es für uns sowieso nichts mehr zu tun.«
*
Als sie sich etwas später der feudal anmutenden Jagdhütte nähern, fällt Nili eine über dem Eingang angebrachte Holzskulptur auf. Darauf ist ein kapitales Geweih mit zwei gekreuzten Jagdbüchsen zu erkennen. Lilo kommt aus der Tür und hält ein reich verziertes Browning Repetiergewehr hoch. »Der Täter ist auf diesem Weg eingedrungen, hat mutmaßlich diese Büchse aus dem unversperrten Stahlschrank genommen und damit die beiden erschossen. Passende Munition, Kaliber 5,7 x 50 Magnum, ist reichlich vorhanden. Danach hat er die Tatwaffe in den Schrank zurückgestellt, beim Gehen jedoch die Hüttentür nicht wieder abgeschlossen!«
»Wie könnte der Täter hier überhaupt reingekommen sein?«, überlegt Margrit.
Hauke antwortet: »Darüber haben wir schon nachgedacht, als wir herkamen. Da der Schlüssel noch im Türschloss steckte, war der Gesuchte entweder sehr gewieft oder er muss gewusst haben, wo man ihn versteckte. Übrigens: Die Papiere, die Handys und die Geldtaschen der Getöteten fanden wir in ihren Sakkos an der Garderobe. Dadurch konnten wir umgehend ihre Identität feststellen. Es wurde aber anscheinend nichts gestohlen.«
»Klingt alles doch ziemlich bizarr, nicht wahr?«, meint Dörte verwundert.
»Jedenfalls bedeutet all dies, dass wir den Täter in von Waldheims engerem Kreis seiner Jagdfreunde suchen sollten«, spekuliert Robert.
Nili nickt. »Klingt plausibel! Sind da noch weitere Jagdwaffen im Schrank, Lilo? Die sollten dann ebenfalls nach Kiel zum KTI, um nach möglichen Spuren sowie ballistisch untersucht zu werden. Gib uns Bescheid, wenn du fertig bist und wir reinkommen können!«
*
Mittlerweile ist es Mittagszeit und Hauke meint, es sei eine gute Idee, sich um etwas Essbares zu kümmern. Er steigt in seinen Dienstpassat und fährt davon. Während die Übrigen vor der Hütte in der angenehmen Septemberwärme ausharren, kommt ein fröhlich lächelnder Uwe Lindemann mit einem kleinen Asservatenbeutel in der Hand hinzu. Darin befindet sich das gesuchte Projektil.
»Bin erneut fündig geworden, Leute!«, posaunt er zufrieden. »And this is number two! Steckte in einer Eiche, etwa fünfzig Meter vom Hochstand entfernt.«
»Wenn Hauke jetzt hier wäre, würde er dich erneut mit einem Horrido beglückwünschen.« Nili grient. »Gute Arbeit, Uwe! Und stell dir vor, Lilo hat inzwischen die dazu passende Waffe gefunden! Seid ihr dann bitte so gut und untersucht auch noch die Wohnungen der beiden Toten, wenn ihr hier fertig seid? Deren Adressen und Hausschlüssel habt ihr ja bereits.«
Der Kriminaltechniker schmunzelt: »Aye, aye, Käpt’n! Steht sowieso als Nächstes auf unserem Zettel!«
Nachdem sie alle ihren Hunger mit Margarita- und Salamipizza gestillt haben, meint Nili: »Okay, Leute, ich denke, für den Augenblick haben wir ausreichend Indizien gesammelt. Vorschlag: Wir sollten jetzt gleich der Firma einen Besuch abstatten. Ich bin mir sicher, dass wir dort weitere nützliche Informationen bekommen werden. Ich wundere mich sowieso, dass sich dort offenbar niemand über das Wegbleiben der beiden Herren gewundert hat.«
»Vielleicht haben die es auf deren Handys versucht«, überlegt Margrit. »Aber die lagen ja hier in der Hütte.«
»Na ja, als sie tot da draußen lagen, hätten sie eh nicht antworten können«, brummt Hauke.
Nili lächelt: »Warten wir ab, was das KTI bezüglich der Handys herausfindet. Los, Leute, Abmarsch!«
*
Das modern anmutende Firmengebäude der Deuromedic GmbH & Co. KG befindet sich in Rotenmühlen nordöstlich von Itzehoe. Das deutsche Tochterunternehmen des potenten US-Medicals-Konzerns in Ohio hat sich vor circa zwei Jahren an diesem Standort etabliert, um von hier aus den Vertrieb seiner beiden Hauptrenner – Zytoguard für die Chemotherapie von Krebserkrankungen und Phagovir zur Hemmung und Heilung von resistenten Krankenhausviren – im gesamten EU-Markt zu fördern. Als Geschäftsführer fungierte der deutschstämmige und sprachkundige Jochen von Waldheim, der sich im Mutterhaus innerhalb von fünf Jahren vom Pharmareferenten bis in die obere Etage hochgearbeitet hat. Den Posten verdankt er dem President des Unternehmens höchstpersönlich. Dieser hatte ihn zudem nach Deutschland entsandt. Nachdem von Waldheim zufällig auf dieses Gebäude aus der Konkursmasse eines vormaligen Verpackungsmaschinenherstellers gestoßen war und es günstig ersteigert hatte, ließ er es umfassend renovieren und für seine neue Bestimmung herrichten. Auf der Suche nach einem tüchtigen Vertriebsleiter wurde er auf eine Anzeige von Heino Folkerts aufmerksam, den er am Ohio College of Business in Athens, Ohio kennengelernt hatte, als dieser dort zwei Gastsemester absolvierte. Dessen Anheuerung erwies sich als goldener Griff für das aufstrebende Unternehmen, gelang es Folkerts doch innerhalb kürzester Zeit, ein Kader von emsigen Pharmaberatern zu schmieden, die äußerst erfolgreich europaweit onkologische Arztpraxen und Hospitäler zur stetigen Verschreibung und Anwendung ihrer Erzeugnisse bewegen konnten.
»Nicht schlecht, Herr Specht!«, bemerkt Robert anerkennend, als der Beamtentrupp die prächtig gestaltete Empfangshalle des Pharmaunternehmens betritt. Die beiden modisch gekleideten und gestylten attraktiven Empfangsdamen blicken erstaunt auf die Fünfergruppe, die sich dem Kontor nähert. Hauke Steffens zeigt seinen Dienstausweis, die anderen tun es ihm gleich. »Guten Morgen, meine Damen, bitte nicht erschrecken, wir sind ja nur von der Polizei!«, bemerkt Hauke mit einem entwaffnenden Lächeln. »Ich darf vorstellen: Dies ist meine Kollegin Kriminaloberkommissarin Dörte Westermann und ich bin Hauke Steffens von der Bezirkskriminalinspektion Itzehoe. Die Frau Erste Kriminalhauptkommissarin Nili Masal und ihre Mitarbeiter, die beiden Oberkommissare Margrit Förster und Robert Zander, sind vom LKA in Kiel. Wer von der Geschäftsleitung ist hier in Abwesenheit von Herrn von Waldheim zuständig?«
Die etwas ältere Empfangsdame erholt sich als Erste von ihrem überfallartigen Eintreffen. »Dann darf ich Sie am besten an unseren Prokuristen, Herrn Braun, verweisen. Einen Augenblick bitte!« Sie tippt auf eine Taste ihres PCs und spricht danach leise in das Mikro an ihrem Headset. »Bitte nehmen Sie kurz Platz, Sie werden gleich abgeholt!«, sagt sie schließlich und deutet auf eine komfortable Sitzecke. Eine Auswahl medizinischer Zeitungen und Firmenflyer liegt auf dem Tisch aus. Nili greift nach einigen Flyern und übergibt sie Robert nach kurzer Prüfung. Dieser flüstert ihr ins Ohr: »Achtung, Kamera! Wir werden beobachtet!« Margrit, die seinen Kommentar überhört hat, blickt sich um. Dann lächelt sie freundlich in das runde Auge an der Decke. »Die sollen doch gleich merken, dass wir allesamt nette Leute sind!«, ulkt sie.
Wenig später erscheint ein uniformierter Security-Mitarbeiter und bittet sie ein wenig schroff, ihre Dienstausweise sehen zu dürfen. Als er sie danach kurzerhand einsammeln will, drückt ihm Hauke einen Zeigefinger in den Bauch und legt die andere Hand auf seine Dienstwaffe. »So nicht mit uns, Freundchen«, sagt er in einem drohenden Tonfall, »wir sind hier die Polizei! Und jetzt mal dalli, ab zum Boss, sonst rufen wir die Kavallerie! Capito?«
Der Wachmann schrickt zusammen und reicht umgehend ihre Ausweise zurück. »Ist hier im Hause Vorschrift, Herr Kommissar, sorry! Also gut, meinetwegen. Dann folgen Sie mir mal!«
Sie gehen zu einem der beiden Fahrstühle und fahren hinauf in den vierten Stock. Dann passieren sie einen längeren Flur, der sie an das Ende des Gebäudes führt, wo ein großes Fenster einen Ausblick ins Grüne gestattet. Ihr Begleiter klopft an die vorletzte Tür und öffnet sie. Eine ebenfalls elegant gekleidete Empfangsdame führt sie schließlich in ein angrenzendes großes Konferenzzimmer und bedeutet ihnen, Platz zu nehmen und sich nach Belieben von den auf dem Tisch bereitstehenden Getränken zu nehmen. Doktor Braun, erklärt sie ihnen, führe noch ein Telefongespräch, stehe ihnen aber danach sofort zur Verfügung.
Ein Blick an die Decke verrät Nili, dass sie auch hier von wachsamen Augen beobachtet werden. Sie greift zur Kaffeekanne und gießt sich eine Tasse ein, dann reicht sie die Kanne weiter. Nach dem ersten Schluck verzieht sie das Gesicht, gibt reichlich Milch dazu und rührt drei Zuckerwürfel hinein, denn die Brühe schmeckt abscheulich.
Robert schmunzelt. »Ging mir genauso, Nili! American coffee ist eben nur derart genießbar, das habe ich während meines Schüleraustauschjahres in den USA erfahren. Deswegen bleibe ich hier lieber beim Wasser!«
In diesem Moment tritt ein hagerer, in einen Nadelstreifenanzug gekleideter Mittvierziger mit schütterem blondem Haar und vernickelter Minibrille ein. Er mustert sie der Reihe nach und wirkt genervt. »Guten Tag, meine Damen und Herren, mein Name ist Doktor Horst Braun und ich bin der Prokurist der Firma. Ich muss zugeben, ich bin durch Ihr derart übermäßiges Erscheinen etwas verwundert. Darf ich bitte erfahren, worum es geht?«
Nili nickt. »Selbstverständlich dürfen Sie das, Herr Doktor Braun. Danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen. Mein Name ist Nili Masal, ich bin die Leiterin des Sonderermittlungsteams im Kieler LKA.« Sie stellt ihre Kollegen vor, dann setzt sie hinzu: »Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie derart zahlreich überfallen, aber leider ist der Anlass ein sehr ernster und trauriger. Wir müssen Ihnen mitteilen, dass Ihr Geschäftsführer, Herr Jochen von Waldheim, heute früh in dessen Jagdrevier zusammen mit Heino Folkerts tot aufgefunden wurde. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um zwei Tötungsdelikte, bei deren Aufklärung wir unsere Kollegen der Bezirkskriminalinspektion Itzehoe unterstützen.«
Brauns süffisante Art schlägt in eine unsichere Haltung um. Fast kraftlos lässt er sich in einen der freien Sessel fallen. »Um Gottes willen, wie konnte so etwas passieren? Wir haben unseren Chef heute früh vermisst und seine Sekretärin versuchte, ihn zu erreichen, landete allerdings immer nur auf dessen Mailbox! Was ist geschehen?«
»Wir sind erst am Anfang unserer Ermittlungen, Herr Doktor, und können bisher nur mit Bestimmtheit sagen, dass die beiden Herren mit einer Jagdbüchse aus dem Eigenbestand des Jagdpächters erschossen wurden. Wann haben Sie die Herren zuletzt gesehen?«, fragt Hauke Steffens. »Können Sie uns vielleicht sagen, ob hier im Hause jemand gewusst haben konnte, wo sie sich aufhielten?«
Braun überlegt: »Also, Herr von Waldheim und ich verabschiedeten uns am letzten Freitagnachmittag gegen fünfzehn Uhr. Er ließ mir gegenüber nicht verlauten, wo er das Wochenende verbringen wollte. Meines Wissens befand sich Herr Folkerts auf Geschäftsreise in Brüssel, allerdings war mir nicht bekannt, bis wann. Er kümmert sich um den Vertrieb in ganz Europa und ist deshalb meistens unterwegs.«
»Hatte Herr von Waldheim in der letzten Zeit irgendwelche Auseinandersetzungen oder sind Ihnen gar Feindschaften hier im Betrieb oder etwa mit Kunden beziehungsweise Konkurrenten bekannt?«, will Nili wissen.
»Keinesfalls in diesem Hause! Bei uns verläuft alles in einer äußerst harmonischen Atmosphäre. Wir Deuromediker sind ein eingeschworenes Team, müssen Sie wissen, Frau Kommissarin. Ja, natürlich gibt es gelegentlich ernste Diskussionen, wenn es um die besten Methoden zur erfolgreichen Marktbearbeitung geht, aber ansonsten pflegen wir einen konsensualen Stil. Darauf legt auch unsere Muttergesellschaft in den USA äußersten Wert. Es ist mir zwar unbekannt, aber sehr zweifelhaft, ob Herr von Waldheim in seiner privaten Sphäre irgendwelche Feindschaften hegt. Ich glaube, eher nicht, denn er ist …«, er hält inne und senkt für einen kurzen Moment den Blick, bevor er weiterspricht, »er war neben seiner außerordentlichen Tüchtigkeit und Schaffensfreude doch ein durchaus liebenswürdiger und versöhnlicher Mensch, der hier alle und jeden unterstützt hat. Anders gestaltet sich die Situation mit unseren Mitbewerbern. Sie wissen sicherlich, dass der pharmazeutische Markt, wenn wir ihn einmal weltweit betrachten, einer ständigen Kampfarena gleicht, in der ziemlich rücksichtslos, oft sogar mafiös, mit härtesten Bandagen gestritten wird. Nicht zuletzt sind es die Hersteller von Generika9, aber vor allem die unzulässigen gefälschten Imitate aus China, Indien und anderen asiatischen Ländern, die uns Herstellern zu schaffen machen, den Markt beschädigen und für den Patienten sogar lebensgefährlich sein können. Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, dass Sie heute jedes Präparat im Internet zu lächerlich niedrigen Preisen erwerben können. Was Sie dafür allerdings erhalten, steht in den Sternen. Auch wir leiden unter gefälschten Medikamenten, die zwar mit unseren Namen versehen sind, aber nicht aus unserer Produktion kommen. Diese aus obskuren Quellen stammenden Fälschungen sind derart geschickt und täuschend ähnlich verpackt, dass sie nur von Eingeweihten erkannt werden können. Erst kürzlich ist unser Vertriebsleiter, Herr Folkerts, auf die Spur einer gefälschten Partie unseres Rheumagels gestoßen, das in Bangladesch hergestellt wurde. Eine Schweizer Scheinfirma hatte sie dort geordert, herstellen und in von den unseren nicht zu unterscheidenden, weiß der Teufel wo bedruckten Tuben abfüllen lassen. Verpackungen und Beipackzettel wurden in Ungarn gedruckt, wohin die Tuben in mehreren kleinen Partien auf dem Landweg gelangten, um dann über Pseudo-Internetapotheken weit unter dem üblichen Verkaufspreis vertrieben zu werden. Im Grunde sind wir erst durch die Reklamationen einiger Anwender darauf gestoßen. Sie beschwerten sich nämlich über die Wirkungslosigkeit des ansonsten so bewährten Mittels. Kein Wunder, war doch neben Vaseline und rotem Farbstoff kein einziger Wirkstoff in dem Gel enthalten!«
Nach diesem leidenschaftlich vorgetragenen Plädoyer ergreift Nili die Gelegenheit zu einer Frage: »Gibt es nähere Verwandte, die benachrichtigt werden müssen?«
»Herr von Waldheim ist seit fünf Jahren geschieden, seine Frau und die beiden Söhne sind in Ohio geblieben. Ich werde umgehend unseren President, Mr. Morrison, in der Zentrale benachrichtigen, die werden es ja dann wohl in geeigneter Form an die Familie weiterleiten. Herr Folkerts war Junggeselle, allerdings glaube ich nicht, dass er eine Lebensgefährtin hatte. Er war ja ständig unterwegs«, sinniert Braun. Schließlich sagt er: »Ich denke, ich rufe mal die Sekretärinnen und engsten Mitarbeiter der beiden Herren herbei. Vielleicht erfahren Sie von denen etwas, was Ihnen bei Ihren Ermittlungen von Nutzen sein kann.«
Nili nickt. »Danke, Herr Doktor Braun, eine sehr gute Idee!«
»Bitte dann ebenfalls die maßgeblichen Kollegen vom Securitydienst und der Cybersicherheit«, setzt Robert hinzu.
Braun geht an eines der Telefone, wählt und instruiert seinen Gesprächspartner.
*
Die Befragung der Mitarbeiter ergibt insgesamt wenig Verwertbares, bis der Betreuer des Intranets der Firma an der Reihe ist. Thomas Wolf, ein sympathischer Endzwanziger, der wegen seiner Rastafari-Frisur, die er unter einer voluminösen, bunt gestreiften Mütze bändigt, besonders auffällig ist, bittet darum, allein mit den Beamten und dem Prokuristen sprechen zu dürfen. Als die restlichen Mitarbeiter den Raum verlassen haben, berichtet er, dass trotz aufwendiger Sicherungsprogramme ihr Rechner vor etwa drei Wochen gehackt wurde und massenhaft Kundendaten gestohlen worden seien. »Zum Glück kamen sie an unsere Rezepturen und die Bankkonten nicht heran, da diese aus Sicherheitsgründen auf einem separaten Server gespeichert werden. Selbstverständlich habe ich Herrn von Waldheim den Vorfall sofort gemeldet und ihm vorgeschlagen, das zentrale Cybercrime-Kompetenzzentrum im LKA zu informieren und zurate zu ziehen. Der Chef wollte das aber nicht. Er hielt mich an, es zunächst strikt für mich zu behalten und erst einmal selbst zu versuchen, den Hackern auf die Spur zu kommen. Nach tagelangem Forschen konnte ich letztlich herausfinden, dass der Intruder an der Modem-Schnittstelle zu unserer Muttergesellschaft in Ohio eingedrungen sein muss und sehr wahrscheinlich aus Pristina im Kosovo stammt. Ich sollte Herrn von Waldheim heute Morgen Bericht erstatten und habe leider vergeblich versucht, ihn sowohl zu Hause als auch auf seinem Handy zu erreichen. Was soll ich jetzt tun, Herr Doktor?«
Der Prokurist weiß anscheinend auch nicht weiter, denn er hält seinen wackelnden Kopf zwischen den Händen. »Tja, da ist guter Rat wirklich teuer. Müssen jedenfalls denen in Ohio alles beichten. Das wird peinlich!«, ist alles, was er hervorbringen kann.
Nili will abschließend sicherstellen, dass keine weitere Gefahr besteht: »Sind Sie gewiss, Herr Wolf, dass jetzt hier alles okay ist, oder möchten Sie doch noch Unterstützung von der ZAC? Wir können das für Sie anleiern.«
»Wenn Doktor Braun nichts dagegen hat, würde ich sehr gern Ihr Angebot annehmen, Frau Kommissarin!«
Nachdem der Prokurist seine Zustimmung erteilt hat, nickt Robert und telefoniert mit seinem Kollegen Otmar Krey bei der Kieler Zentralen Ansprechstelle Cybercrime.
Danach gehen sie zunächst in das Büro des Geschäftsführers. Gemeinsam mit Wolf durchsuchen sie den Raum, können aber nichts Dienliches finden. Obwohl sich darauf auffällig wenig Eintragungen befinden, fotografiert Robert der Sicherheit halber einige Seiten aus von Waldheims Terminkalender, der auf dem Schreibtisch liegt. Seine Sekretärin berichtet auf Anfrage, dass Herr von Waldheim seine geschäftlichen und privaten Termine vorwiegend auf seinem Handy gespeichert habe. Aus firmeninternen Datengründen überlassen sie Wolf die Durchsicht von dessen Computer. Er versichert ihnen, dass sich darauf nur unauffällige Geschäftsdaten, Mails und Charts, aber keinerlei private Dateien oder Mitteilungen befinden. Auch die anschließende Durchsuchung von Folkerts’ Arbeitsplatz bleibt für ihre Ermittlungsarbeit ergebnislos.
*
Nachdem sie sich verabschiedet und das Gebäude der Deuromedic verlassen haben, halten Hauke und Dörte noch kurz telefonische Rücksprache mit Kriminaloberrat Stöver in der Großen Paaschburg.
»Uns ›Hein Gröhl‹ bittet morgen früh um neun Uhr zu einer Lagebesprechung und hätte euch alle gern dabei. Könnt ihr dazukommen?«, fragt Dörte im Anschluss.
Nili überlegt kurz und blickt ihre Mitarbeiter an. »Mal wieder Lust auf eine Übernachtung in unserem Onkel Suhls Haus, Margrit? Robert hat ganz sicher nichts dagegen, eine Nacht mit seiner Habiba zu verbringen, und Sie können dann in deren Zimmer übernachten.« Sie hält kurz inne und setzt dann fort: »Da ich keinen Einwand höre, rufe ich gleich mal bei Abuelita an, um uns anzukündigen. Also dann, Dörte und Hauke, tschüss, bis morgen um neun!«
Während sie sich in ihrem Dienstfahrzeug auf den Weg nach Oldenmoor machen, ruft Nili Kriminalrat Dr. Walter Mohr, ihren direkten Vorgesetzten und Lebenspartner, im Kieler Büro an. Ausführlich berichtet sie über das Ergebnis der bisherigen Ermittlungen und bittet ihn, er möge die Kollegen der ZAC ersuchen, dem IT-Beauftragten Thomas Wolf bei der Deuromedic unter die Arme zu greifen.