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b) Ein Streifzug durch die Geschichte der philosophischen Hermeneutik in bibelhermeneutischer Absicht
ОглавлениеPlaton (432–347 v. Chr.) entfaltet im Anfang des 7. Buches der Politeia, im berühmten Höhlengleichnis2, seine Vorstellung von Wert und Entwicklung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Sein Mythos beschreibt den Menschen als einen Gefangenen, der – ohne es selbst zu wissen – in einer tiefen Höhle so angekettet worden ist, daß er nur in die „falsche“ Richtung geradeaus auf eine Felswand schauen kann. Dort sieht er ausschließlich Schatten, Schatten von solchen Dingen, die außerhalb der Höhle vor einem Feuer vorbeigetragen werden. Der „natürliche“ Mensch erliegt dem Irrtum zu glauben, daß die Schatten die ganze, wahre, eine Wirklichkeit seien. Von den realen Dingen außerhalb seiner Höhle ahnt er so lange nichts, bis er durch die Philosophie aus seinen Fesseln befreit und zum Aufstieg zur Welt der eigentlichen, wirklichen Dinge (= Ideen) angeleitet wird. Platon differenziert mit dieser Ideenlehre nicht nur ontologisch zwischen den Dingen an sich und den bloßen Erscheinungen, sondern auch erkenntnistheoretisch zwischen verschiedenen Stufen der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Dabei ist er im Blick auf den „normalen“ Menschen sehr skeptisch. Zwar hat die unsterbliche Seele in ihrer Präexistenz im Reich der Ideen bereits alle Dinge an sich (= Urbilder) geschaut, aber sie hat bei ihrer Inkarnierung alles wieder vergessen. Getrieben vom Eros (vgl. den Dialog Symposion) strebt der Mensch jedoch aus dem Sinnlichen hinauf in den vergessenen Bereich des Geistigen. Ein wichtiges Instrument der Rückerinnerung (Anamnesis) ist das Gespräch. Wie schon die Form der platonischen Dialoge anzeigt, soll durch einen dialektischen Gesprächsgang, den Platon als „Hebammenkunst“ (Mäeutik) versteht, im stufenweisen Aufstieg die Sphäre des bloß Sinnlichen verlassen und der Bereich der Ideen erklommen werden. Aus diesem platonischen Dualismus von schattenhafter Erscheinung und eigentlichem Sein entspringt ein Traditionsstrom, dessen Bedeutung für die Hermeneutik gar nicht überschätzt werden kann. Platon hat den Gedanken grundgelegt: Ein guter Exeget darf nicht im vordergründigen, bloß schemenhaften (Literal-)Sinn gefangen bleiben; vielmehr muß er sich aus solch niederen Irrtümern befreien und zu dem eigentlichen geistigen Sinn hinaufsteigen.
Aristoteles (384–324 v. Chr.), der Schüler und spätere Gegner Platons, hat in den sechs Büchern seines Organons (zur Logik) im zweiten Buch (Peri Hermeneias = De interpretatione) eine Lehre von den Sätzen entfaltet, die in gewissem Sinne den Gegenpol zur eben skizzierten platonischen Hermeneutik darstellt. Aristoteles’ trockenen Satzanalysen liegt als Leitidee die Vorstellung einer objektiven Wahrheit außerhalb der Sprache zugrunde. Die Hermeneutik ist nach Aristoteles die Kunst, wahre Aussagen über Sachen zu formulieren. Damit entwickelt er die Theorie von der Wahrheit als „Entsprechung“ von Sache und Erkenntnis: Veritas est adaequatio rei et intellectus. Aristoteles legt sehr nachhaltig den Akzent auf die Sache, die außerhalb und unabhängig von der Sprache besteht und von Sprache lediglich zum Ausdruck gebracht wird. Wenn es in seiner Logik auch primär um formale Strukturen der Wahrheit geht, so hat doch seine Interpretationslehre eine außerordentliche Wirkungsgeschichte aus sich herausgesetzt. Tendenziell zeichnet die aristotelische Tradition ein optimistisches Vertrauen in den normalen Menschenverstand aus; das Bemühen um nüchterne, formal logische, philologische Textwahrnehmung kann und wird die Wahrheit erfassen.
Große Teile der Geschichte der Hermeneutik lassen sich als Entfaltung dieser Grundopposition zwischen Platon und Aristoteles, also zwischen spekulativem Ahnen des Jenseitigen und nüchternem Denken des Diesseitigen, zwischen Mythos und Ratio, zwischen dichterischem Gespräch und kühler formaler Logik begreifen. Die Vertreter beider Positionen haben sich gegenseitig als dumpfe, blinde Vordergründler oder als schwärmerische Phantasten belächelt und bekämpft (obgleich sie sich häufig viel näher waren, als sie selbst wußten).
Schon Platon preist im Ion (530 cd) die Rhapsoden, welche die alten anstößigen Mythen Homers ansprechend auszulegen und so „den Zuhörern den Sinn des Dichters zu überbringen“ verstanden. Gegenüber der scharfen Kritik, die Homer durch den philosophischen Gottesbegriff erfuhr, versuchten diese Hermeneuten, die Mythen als Verschlüsselungen tiefer philosophischer Wahrheiten zu deuten. Entsprechend der platonischen Auffassung, daß die Dinge eigentlich etwas anderes sind, als sie zunächst – schattenhaft – zu sein scheinen, wurden die der Götter unwürdigen Taten und andere innere Widersprüche durch philologisch fragwürdige bis abenteuerliche Etymologien tiefsinnig umgedeutet und darin angeblich enthaltene ethische Wahrheiten oder Naturerkenntnisse entborgen. Besonders die Stoa hat ab dem 3. Jh. v. Chr. die allegorische Auslegung Homers gepflegt3 und die alte Tradition für ihre Gegenwart durch den Nachweis gerettet, daß sie sehr wohl mit der Natur und dem Logos zusammenklinge. So galt z.B. Zeus als Prinzip des Lebens und als glühender Äther, Poseidon als Chiffre für das feuchte Element, Athene als Verkörperung der Erde. Waren die Götter erst als Elemente erkannt, so konnten die anstößigen Götterkämpfe bzw. ihre Liebeleien nur als das Aufbegehren wütender Elemente gegeneinander bzw. als deren Verbindung zu neuem Sein gedeutet werden. Athene etwa galt als die Personifikation von Klugheit und Besonnenheit; ergreift sie den zürnenden Achill am Schopf, so bedeutet das: Nur vernünftige Überlegung vermag den unbesonnenen Ausbruch des Zorns zurückzuhalten.4 Hier liegen die Anfänge der Entmythisierung weltbildhaft überholter religiöser Texte, die nicht einfach eliminiert, sondern auf den Horizont der modernen Leserschaft hin interpretiert werden – wenn auch noch recht gewaltsam.
Das hellenistische Judentum konnte sich weitgehend an die allegorische Hermeneutik anlehnen, um die Gedankenwelt des Alten Testaments mit dem griechischen Bildungsniveau in Einklang zu bringen. Sowohl der Umwelt als auch den durch Aufklärung zum Abfall von der angestammten Religion neigenden Juden konnten durch diese Methode die alttestamentlichen Überlieferungen als Ausdruck tiefsinniger Philosophie und Weisheit dargestellt werden (vgl. Dtn 4,6–8; Sir 24). In diesem Sinne schreiben Aristobul (ca. 160 v. Chr.) und der Aristeasbrief (ca. 140 v. Chr.), der z.B. die Speisevorschriften rationalistisch als symbolische Anweisungen interpretiert (143–169). Die geforderte Spaltung der Klauen für alle reinen Tiere z.B. bedeutet danach die Fähigkeit zur Unterscheidung von Recht und Unrecht. Die allegorische Auslegung findet sich z.B. im 4. Makkabäerbuch (um Christi Geburt herum verfaßt), nach welchem das Gesetz des Mose mit der Natur übereinstimme bzw. wahre philosophische Bildung vermittle, die auch zur Mäßigung und Beherrschung der Triebe führe (4 Makk 1,14ff.; 5,18–25). Häufig werden biblische Erzählungen metaphorisch aufgefaßt; so wird z.B. die Wolkensäule, die Israel in der Wüste führte, als Weisheit Gottes oder die Himmelsrampe, die Jakob schaute, als Bild für die göttliche Sophia gedeutet. Meister der Allegorese im hellenistischen Judentum war Philo von Alexandrien (ca. 20 v. – 50 n. Chr.). Er unterscheidet explizit zwischen Literalsinn und allegorischem Sinn der Schrift, wobei ihm der allegorische der eigentliche Sinn ist. Die schillernde Vielseitigkeit, das umfassende System von in sich geschlossenen Symbolen, das Philo entwickelt, ist hier nicht darzustellen.5 Seine Auslegungsweise, die nachweislich sehr stark von der Stoa beeinflußt ist, hat jedenfalls im Judentum aufs stärkste nachgewirkt. „In der rabbinischen Schriftdeutung finden wir ebenfalls die Allegorie, wenn auch bei weitem nicht so methodisch wie bei Philo angewandt.“6 In den sieben Regeln des Hillel, den 13 Middot des Rabbi Jischmael und zumal in den ausgetüftelten 32 Middot des Rabbi Eliezer7 steckt eine Fülle platonischer Hermeneutik, nach der die Bibelworte u.a. nach ihrem Zahlenwert zu deuten, als Anagramm aufzufassen oder gar rückwärts zu lesen sind. Von Elementen bei Josephus (ca. 38–100 n. Chr.) und im Talmud sowie von der jüdischen Gnosis läßt sich eine entsprechende Linie bis zur mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophie und Dichtung etwa zu Ibn Gabirol (1020–1058 n. Chr.) und bis in die Kabbala ziehen. Auch für das frühe Christentum ist herauszustellen, daß die Rezeption und Beibehaltung des Alten Testaments als ganzem zur platonisierenden Annahme eines mehrfachen Schriftsinnes von vornherein nötigte (vgl. z.B. 1 Kor 10,1–13; 2 Kor 3,13–18). Erst recht wurde die Annahme eines mehrfachen Schriftsinnes unumgänglich, als man im Zuge eines systematisierenden dogmatischen Zugriffs in der Bibel Belege für sehr komplexe philosophische Spekulationen suchte. So steht die gesamte Alte Kirche unter dem Zeichen der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn. Auf seiten der christlichen Denker ist besonders Augustinus (354–430) einflußreich gewesen. In den letzten Büchern der Confessiones finden sich sehr erhellende Ausführungen zur Problematik: Nachdem Augustinus die großen Wahrheiten des Schöpfungsberichts ausgelegt hat, bittet er Gott darum, daß Mose selbst schon das erkannt und gewünscht haben möge, was er, Augustinus, an Wahrheiten aus den Schriften des Mose herausgelesen hat (12. Buch, 24.–31. Kapitel):
„Siehe, wie zuversichtlich ich sage, du hast durch dein unwandelbares Wort alles geschaffen, Unsichtbares und Sichtbares; kann ich mit derselben Zuversicht sagen, daß Moses nichts anderes als dieses gemeint habe, als er die Worte schrieb: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde? Nicht so wie ich jenes in der Wahrheit als gewiß erkenne, erkenne ich in seinem Geiste, er habe jenes gedacht, als er dieses schrieb … Niemand sei mir noch lästig dadurch, daß er zu mir sagt: ‘Moses hat das nicht gemeint, was du sagst, sondern er hat gemeint, was ich sage.’ … Warum wollen wir über den Gedanken des Nächsten streiten, der unserem Geiste nicht zugänglich ist wie die unwandelbare Wahrheit? … Siehe endlich, wie töricht es ist, unter so vielen völlig aufrichtigen Ansichten, die man in jenen Worten finden kann, verwegen behaupten zu wollen, welche von ihnen Moses vorzugsweise gemeint habe, und in verderblichen Streitereien die Liebe selbst zu verletzen, um deren willen er, dessen Worte wir zu erklären wagen, alles gesagt hat? … Wenn daher jemand sagte: ‘Moses hat gemeint, was ich meine’, und ein anderer, ‘nein, das, was ich meine’, so glaube ich, würde ich der Furcht Gottes gemäßer sagen: ‘Warum nicht vielmehr beides, wenn beides wahr ist?’ Und wenn noch ein dritter und noch ein vierter in diesen Worten überhaupt etwas anderes als alles dieses erkannt habe, durch den Gott die heiligen Schriften dem Fassungsvermögen so vieler anpaßte, die darin einen so verschiedenen und doch wahren Sinn finden sollten? … Konnte es deshalb deinem Geiste der Güte verborgen bleiben, was du selbst in späterer Zeit denen, die deine Worte lesen, offenbaren wolltest, obgleich jener, durch den sie gesprochen, vielleicht nur eine der vielen Meinungen gedacht hat?“8
Alle wesentlichen Gedanken, die für die gesamte mittelalterliche Hermeneutik grundlegend waren und ihr das gute Gewissen bei der Anwendung der vieldimensionalen Exegese bewahrten, sind hier ausgesprochen: 1. Der Sinn, den der antike Autor, hier der biblische Autor Mose, intendierte, ist zwar der vorzügliche Sinn, 2. aber die Fülle der Sinne seiner Texte war Mose selbst (wie allen Hagiographen) verborgen. Deshalb ist nicht die Intention des menschlichen Autors entscheidend, sondern die Intention des Heiligen Geistes, der der eigentliche Autor ist. 3. Gottes Wille war es, späteren Lesern mit den gleichen Worten ganz andere Wahrheiten des Glaubens zu erschließen als Mose. 4. Es kommt daher in der Auslegung nicht primär darauf an, psychologisch die uns ohnehin nicht mehr sicher erreichbaren Absichten Moses zu rekonstruieren, sondern die Wahrheit des Glaubens als der eigentlichen Sache der Theologie. Es geht viel mehr um den Gottesbezug der Aussagen, um die Sache, als um den Autorbezug. 5. Gott selbst hat durch die Gestalt seines Wortes die Vielfalt der Auslegungen vorausgesehen und gewollt. 6. Die Liebe zu allem Wahren ist der rechthaberischen Streiterei um den Sinn der Schrift abhold. In De doctrina christiana hat Augustinus diese Lehre vom göttlich sanktionierten vielfachen Schriftsinn grundsätzlich und breit entfaltet (3. Buch, 27–38).
Neben dieser von Platon und der Stoa herkommenden Strömung der hermeneutischen Theorie gab es einen stärker von Aristoteles und seiner Logik inspirierten Überlieferungsstrom. Teilweise in bewußter Abkehr von der philosophischen Verfremdung, teilweise auf der Grundlage gewissenhafter Textvergleichungen galt in diesem der wörtliche, natürliche Sinn als der maßgebliche. In der Schule von Alexandria, als deren vornehmste Glieder Clemens von Alexandria (ca. 145–215 n. Chr.) und Origenes (ca. 185–253 n. Chr.) gelten, wurde viel Gelehrtenfleiß darauf verwendet, durch Zusammenstellung unterschiedlicher Bibelhandschriften (so in der berühmten Hexapla des Origenes) den möglichst besten und ältesten Text zu ermitteln. Der aristotelische Traditionsstrom fand im mittelalterlichen Judentum v.a. in Maimonides (1135–1204) seinen Höhepunkt. Immer wieder gab es aber auch im Judentum, besonders in Gestalt der Karäer, Gruppierungen, die sich gegen jede philosophische oder kasuistische Überfremdung der Tradition wehrten und allein zum Literalsinn der Schrift vordringen wollten.
Gleichwohl ist im Mittelalter weitgehend die theologische „Sachhermeneutik“ mit der Überzeugung von einem mehrfachen Schriftsinn kombiniert worden. Der vielfach zitierte lateinische Merkvers bringt die Dinge auf den Punkt:
Litera gesta docet,
quid credas allegoria,
moralis quid agas
quid speres anagogia.
(„Der wörtliche Sinn lehrt, was geschehen ist,
der allegorische Sinn lehrt, was man glauben soll,
der moralische Sinn lehrt, was man tun soll,
der anagogische Sinn lehrt, was man hoffen soll.“)
Entsprechend der paulinischen Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung soll jede Bibelstelle über ihre historische Ursprungsbedeutung hinaus eine Dimension der Erbauung im Glauben, eine Anleitung zum weltverbessernden oder -verändernden Handeln und eine tröstende Eröffnung von Zukunftshoffnung besitzen. Man muß sie – hermeneutisch wohlgeschult – allerdings jeweils neu entdecken.
Die Reformation hatte durchaus auch eine philosophische Dimension, wenngleich Martin Luther (1483–1545) Aristoteles als „Narristoteles“ verspottete. Sein Kampf gegen eine Überformung der ursprünglich biblischen Intentionen durch sekundäre philosophische Lehren der katholischen Kirche basiert auch auf einer anderen Hermeneutik. „Die natürliche Sprache ist Frau Kaiserin, die geht über alle subtile, spitze, sophistische Dichtung. Von der muß man nicht weichen, es zwinge denn ein offenbarer Artikel des Glaubens; sonst bliebe kein Buchstabe in der Schrift vor den geistigen Gauklern.“9 Luther rät: „Obwohl die Dinge, die in der Schrift betrieben sind, etwas weites bedeuten, soll die Schrift darum nicht einen zwiespältigen Sinn haben, sondern allein den, wie die Worte lauten, behalten. Danach soll man den unruhigen Geistern Urlaub geben, außer den Worten nach den mannigfaltigen Deutungen der angezeigten Dinge zu jagen und zu suchen. Doch daß sie zusehen und sich nicht in ihrer Jagd versteigen, wie dem Gemsjäger geschieht … Es ist viel gewisser und sicherer, bei den Worten und dem einfältigen Sinn zu bleiben; da ist die rechte Weide und Wohnung aller Geister.“10 Oder spitz formuliert: „Über den Allegorien verliert man den rechten Grund und das Verständnis der Schrift und führt die Leute nur auf Holzwege.“11 Luther will Allegorien allenfalls als „Zierrat“12, als pädagogisches Mittel für das einfache Volk gelten lassen. Statt aller hermeneutischen Taschenspielertricks, die die Menschen nur „bezirzen“, soll die Schrift sich selber auslegen (Sacra scriptura sui ipsius interpres), wobei man grundsätzlich von den klaren zu den unklaren Stellen vordringen soll und niemals umgekehrt. Mit dieser starken Betonung des Wortsinnes und dem Gedanken, daß sich die Bibel als in sich schlüssiger Kosmos selbst auszulegen vermag, hat Luther im Zeitalter der Reformation eine hermeneutische Revolution ausgelöst.
Jedoch führt der Versuch der Orthodoxie, im Gespräch mit der Schulphilosophie den Ertrag der Reformation in lehrbuchmäßigen Dogmatiken abzusichern, mit gewisser Notwendigkeit auf Augustin zurück.13 Die Schrift muß mit den dogmatischen Grundwahrheiten übereinstimmen. Zuerst hat Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) in seinem Clavis scripturae sacrae (1567) die Verbalinspiration bis hin zur Inspiration des hebräischen Konsonantentextes ausgesprochen. Johann Gerhard (1582–1637) setzt Wort Gottes und Bibel vollständig gleich; Gott selbst sei die causa principalis der Heiligen Schrift; die Menschen seien nur causa instrumentalis, sie seien nicht im eigentlichen Sinne Autoren, sondern „Sekretäre Gottes, Hände Christi, Schreiber und Notare des Heiligen Geistes, … Sklaven Gottes, Werkzeuge des Heiligen Geistes“. Spannungen und Widersprüche, theologisch Fragwürdiges oder gar Sachkritik an der Bibel darf es demnach – entgegen der einsetzenden rationalistischen Bibelkritik – nicht geben.
Auch der Pietismus kann sich von der Theorie der Mehrsinnigkeit der Schrift nicht lösen, trotz der anderslautenden Absicht, die Bibel im Wortsinn unmittelbar für den Glauben fruchtbar zu machen. Indem die „Wiedergeburt“ und der daraus resultierende Glaube zur Bedingung der Möglichkeit von Verstehen gemacht wird, hat jeder biblische Text eine profane und eine geistliche Bedeutung. Drei pietistische Theoreme sind von erheblicher Bedeutung: Der Pietismus entdeckt die konstitutive Bedeutung des Rezipienten im Verstehensprozeß; nicht jeder kann alles verstehen. Glaubenstexte kann nur derjenige tief erfassen, der selbst vom Glauben tief erfaßt ist. Zweitens kommt mit der Beteiligung des Heiligen Geistes und seiner erleuchtenden göttlichen Kraft die Grenze des rational-methodisch Machbaren und Verfügbaren deutlich in den Blick. Der distanzierte, rationalistische Umgang mit der Bibel erfordert als Ergänzung einen erbaulich-meditativen Zugang. Drittens wird die Bedeutung des Laien (v.a. des durch Dogmatik und Philosophie Unverbildeten) herausgearbeitet. In den Collegia Pietatis soll nach den Pia Desideria (1675) von Philipp Jakob Spener (1635–1705) die Bibel intensiv in ihrer Breite und Fülle gelesen werden. Zumindest sollen täglich Losungen meditiert werden (nach Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf [1700–1760]). Durch die Zentralstellung der Bibel im Ganzen der Theologie gewinnt die Kenntnis des inspirierten Urtextes enorme Bedeutung, so daß dem Pietismus für die wissenschaftliche Erforschung der Textüberlieferung große Bedeutung zukommt, so z.B. im Werk Johann Albrecht Bengels (1687–1752).
Nach Hugo Grotius (1583–1645) und Baruch Spinoza (1632–1677) in Holland, Richard Simon (1638–1712) in Frankreich und dem englischen Deismus fand die Aufklärung auch in Deutschland mit Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) und Immanuel Kant (1724–1804) ihre Höhepunkte, schließlich in Johann Salomo Semler (1725–1791) und Johann August Ernesti (1707–1781) ihre konsequente theologische Anwendung. Ihr hermeneutisches Programm war es, aus jeder – also auch der biblischen – Überlieferung alle bloß zufälligen Geschichtstatsachen auszuscheiden und den „Kern“ herauszupräparieren, der die ewigen Vernunftwahrheiten, d.h. v.a. moralische Grundwerte, enthält. Das hermeneutische Sieb, durch das alle Tradition hindurch mußte, war der gesunde Menschenverstand, oder eher das, was man dafür hielt. Auch wenn sich die vermeintlich ewig gültigen Wahrheiten vom heutigen Standpunkt aus als historisch bedingte Gewißheiten einer Epoche entpuppen, hat die Aufklärung mit ihrer (gescheiterten) Frage nach dem überzeitlich Gültigen erheblich dazu beigetragen, die Geschichtlichkeit der biblischen Überlieferung zu entdecken.
Im deutschen Idealismus wurde die Frage nach dem Sinn und der inneren Logik von Geschichte aufgegriffen und vor allem in der Geschichtsphilosophie Georg Friedrich Wilhelm Hegels (1770–1831) mit der optimistischen Theorie eines dialektisch strukturierten, jedoch zielgerichteten weltgeschichtlichen Entwicklungsprozesses beantwortet. War auch mehr das Wünschen als das Wahrnehmen der Realität der Vater des universalgeschichtlichen Gedankens, so blieb doch die „Hegelsche Versuchung“, (heils)geschichtliche (Re-)Konstruktionen als legitimste Form des Verstehens anzusehen, bis heute stark wirksam. Verstehen bedeutet für viele, den Gang der Geschichte zu ordnen und das logische Zusammenwirken der unterschiedlichen Faktoren nachzuzeichnen.
Die Romantik hat teils im Gegenschlag zu Aufklärung und dürrem Begriffsidealismus, teils aber auch in Fortführung von deren Frageintentionen der rein historischen Betrachtung der Tradition und damit auch der Bibel Bahn gebrochen. Es entstand ein differenziertes ideographisches Wahrnehmungsvermögen, z.B. bei Johann Gottfried Herder (1744–1803) in seinem Wissen um den Unterschied der je besonderen Zeiten und Völker.14 Diese Individualisierung der „Volksseelen“ verband sich einerseits mit einer großen Verehrung des Ursprünglichen, noch Unverdorbenen, von aller Kultur und Zivilisation Unberührten, Natürlichen, Menschlichen; andererseits schwelgte man im Gefühl geistlichen Fortschritts und glaubte, Gottes Pädagogik in der Weltgeschichte erkennen zu können. Mit diesem sich anbahnenden „rein“ historischen Denken war die Entdeckung und Auslotung der Kategorie des Autors verknüpft. Man erkannte, daß jede Schrift durch das geistige Erleben eines Individuums einen bestimmten Aussagewillen hat und in einer singulären Gedankenwelt abgefaßt ist. Die großen Individuen wurden als Genies verehrt. Alles Dogmatische, alles verstiegen Philosophische sollte abgestreift und das wahre Leben einer reinen Seele freigelegt werden. Der wichtigste Theoretiker der neuen „Autor-Hermeneutik“ ist Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834).15 Schleiermacher unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Grundformen des Verstehens: Das grammatische Verstehen versucht Unklarheiten durch komparativisches Verstehen zu beseitigen, d.h. sprachliche Äußerungen durch philologische Analyse objektiv und intersubjektiv nachvollziehbar auf ihre Struktur hin zu beleuchten. Von ganz anderer Natur ist das psychologische Verstehen; es erfordert ein Sich-Hineinversetzen in den Autor. Ein Genie kann nur von einem kongenialen Geist verstanden werden. Deswegen ist nach Schleiermacher nicht jedem jedwedes Verstehen möglich; zwar gibt es verwandte Seelen, die einander ohne weiteres verstehen; in anderen Fällen ist es aber auch möglich, daß einem Leser ein bestimmter Autor verschlossen bleiben muß. Mit dieser Konzeption von kongenialem Verstehen als Hineindenken und Hineinleben in die individuelle Persönlichkeit des Autors entdeckt Schleiermacher, daß es ein Moment des methodisch nicht Verrechenbaren im Verstehen gibt. Er gesteht zu, daß nicht allein durch grammatische Erschließung oder durch „Zusammenstellung und Abwägung minutiöser geschichtlicher Momente“, sondern durch „das Erraten der individuellen Kombinationsweise eines Autors“ psychologisches Verstehen ermöglicht wird. Diese sich im unsicheren Bereich bloßen Erahnens und Erratens bewegende Interpretation ist „mehr divinatorisch“ und entsteht dadurch, „daß der Ausleger sich in die ganze Verfassung des Schriftstellers möglichst hineinversetzt“.16 Weil jedes tiefere Verstehen auf das Wagnis angewiesen bleibt, Intentionen und Motive des Autors erahnen und auch erraten zu können, muß man von vornherein davon ausgehen, „daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“17. Dazu bedarf es eines individuellen Erkenntnisorgans, des „Sinns und Geschmacks“, die allein bestimmte Wirklichkeitsbereiche erfassen können. Nach dieser Sicht ist eine Spezialisierung auch in der Bibelwissenschaft unvermeidlich; auch für den Laien, der wenig von der Seele des Autors weiß, ist die Bibel – wie jede wertvollere Literatur – nicht leicht erschließbar. Es genügt nicht, Objektives zu rekonstruieren, man muß auch Subjektives psychologisch nacherleben.18 Schleiermacher teilt die Interpreten in zwei Klassen ein, die eine Klasse betrachtet die Schriftsteller der Sprache und der Geschichte nach, die andere Klasse aber wendet sich „mehr der Beobachtung der Personen“ zu, wobei „sich nur jeder auf diejenigen Schriftsteller beschränkte, die sich ihm am willigsten aufschließen. Und es mag sich wohl auch wirklich so verhalten, daß nur die Letzten, weil ihre Kunst weniger zum Auseinandersetzen mitgeteilt werden kann, auch weniger öffentlich hervortreten, sondern sich der Früchte derselben im stillen Genuß erfreuen.“19
Daß die Bibel in hermeneutischer Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt, hat vor allem der dänische religiöse Denker Sören Kierkegaard (1813–1855) in den „Philosophischen Brosamen“ (1844) herausgearbeitet. Mit seiner Betonung des Individuellen, Einmaligen, Persönlichen und Konkreten darf Kierkegaard als der Begründer des philosophischen Denkens von „Existenz“ gelten. Als Antisystemdenker geht Kierkegaard allein der Frage nach: „Wer bin ich? Wie komme ich als endliches Sein in ein Verhältnis zur Ewigkeit?“ Der Zugang zur Transzendenz und zur in Christus hereingebrochenen Ewigkeit, wie er in der Fragestellung anvisiert wird, kann weder über grammatische Analyse noch über historische Recherche erreicht werden; bringen letztere doch nur gelehrte und „dressierte Schwätzer“20 hervor. Damit es zu Verstehen und Glauben kommt, bedarf es statt dessen eines „Sprunges“. Selbst die ersten Jünger waren in dieser Beziehung in keiner besseren hermeneutischen Situation als die nachfolgenden Generationen der Jünger zweiter, dritter, vierter, x-ter Hand. Das Paradox, daß das Ewige in die Zeit eingebrochen ist, daß Gott in Christus ist, daß der Nazarener Gott selbst ist, dieses Paradox ist nicht zu verstehen. „Soll nun der Lernende die Wahrheit erhalten, dann muß der Lehrer sie ihm bringen, und nicht bloß dies, sondern er muß ihm die Bedingung, sie zu verstehen, mit dazu geben.“21 Verstehen ist demnach kein bloß intellektuelles Nachvollziehen, auch kein divinatorisches Hineinversetzen in den biblischen Autor, sondern Neuschaffung der Existenz von Gott her. In Fortführung pietistischer Theorieelemente meint Kierkegaard, daß nur der die Bibel und sich selbst im Vollsinn verstehen könne, der von Gott her durch den Glauben in einen neuen Status versetzt worden sei.
In die nahezu entgegengesetzte Richtung verlief die Entwicklung der Hermeneutik an den Universitäten. In Konkurrenz zur aufkommenden Naturwissenschaft suchten auch die geistesgeschichtlichen Disziplinen ihr Daseinsrecht im Konzert der Fakultäten zu rechtfertigen. Der Historiker Leopold von Ranke (1795–1886) entwickelte aus seiner Forschungspraxis heraus die folgenden drei theoretischen Postulate: 1. Historische Forschung muß grundsätzlich unparteiisch sein, der Ausleger muß seine eigenen Wertüberzeugungen vollständig hintansetzen und sich ganz und gar auf den Standpunkt seiner Quellen begeben. 2. Er muß auf jedwede persönliche Stellungnahme verzichten und einzig objektiv rekonstruieren, „wie es eigentlich gewesen ist“. Von daher sind am historischen Verstehen vier Momente zu unterscheiden22:
– die exakte Kenntnis der geschichtlichen Momente,
– die Erfassung der persönlichen Momente im geschichtlichen Geschehen und Tun,
– die Sinngebung durch Einfügung in höhere Zusammenhänge,
– das Aufdecken der „leitenden Ideen“ als der „herrschenden Tendenzen in jedem Jahrhundert“.
3. Historische Forschung ist „kein Kriminalgericht“, das zu wertenden Urteilen kommen müßte, sondern die reine Anschauung des Objektiven der großen Tatsachen.
Stärker theoretisch und systematisch durchdacht hat Johann Gustav Droysen (1808–1884) in seiner „Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte“ die methodischen, systematischen und darstellungstechnischen Probleme der Geschichtswissenschaft entfaltet. Im Gegensatz zum erklärenden Vorgehen der Naturwissenschaften gilt: „Die historische Forschung will nicht erklären, d.h. aus dem Früheren das Spätere, aus Gesetzen die Erscheinungen als notwendig, als bloße Wirkungen und Entwicklungen ableiten.“23 Nachdem die Heuristik das historische Material gesichtet und die Kritik die Echtheit untersucht und das Material in eine zeitliche Ordnung gebracht hat, geht es der Interpretation darum, die Vergangenheit „nach ihrem eigenen Maße zu messen“24. Dabei sind nach Droysen vier Stufen der Interpretation zu unterscheiden: 1. Die pragmatische Interpretation; sie soll sachliche Zusammenhänge zwischen den lückenhaften Quellen herstellen, indem sie vermittels von Auswahl, Analogie und Korrelation sachgemäß Kontexte schafft, die den Quellen nicht unmittelbar zu entnehmen sind; 2. die Interpretation der Bedingungen; sie soll die Gegebenheiten von Raum und Zeit sowie von technischer Leistungsfähigkeit untersuchen; 3. die psychologische Interpretation, welche die großen historischen Persönlichkeiten in ihren Eigenarten darzustellen hat; 4. die Interpretation der Ideen, welche die übergreifenden ethischen und politischen Systeme, Ideale und Ideen der verschiedenen Zeiten erfassen soll. Das Ziel all dieser Interpretationsbemühungen ist es, sich gleichsam dem jeweiligen historischen Phänomen anzuschmiegen, es das sein zu lassen, was es von sich aus ist. Historisch denken heißt aus der Gegenwart herauszugehen und ganz in die Welt der Autoren einzutauchen.
Wilhelm Dilthey (1833–1911) hat in starker Anlehnung an Schleiermacher eine „Kritik der historischen Vernunft“ (in Analogie zu Kants „Kritik der reinen Vernunft“) angestrebt. Seine Grundfrage lautet: „Wie kann ein individuell gestaltetes Bewußtsein … eine fremde und ganz anders geartete Individualität zu objektiver Erkenntnis bringen?“25 So wie die Naturwissenschaft ihr Forschungsziel in der Beschreibung objektiver Naturphänomene erreicht, geht es in den „Geisteswissenschaften“ – Dilthey gilt als der geistige Vater dieses Begriffes – um das Verstehen „dauernd fixierter Lebensäußerungen“26. Grundprinzip des Verstehens ist das Leben: Das, was einer erlebt, innerlich verarbeitet und schließlich als Erlebnisausdruck geäußert hat, versetzt andere in die Lage, fremdes Leben innerlich nachzuerleben. Die Trias von Erleben – Ausdruck – Verstehen liegt der Methodologie der Geisteswissenschaften zugrunde. Diese Zuspitzung von Verstehen als Nacherleben impliziert aber auch, daß nur der viel verstehen kann, der selbst viel erlebt hat. Eigene Erlebnisse führen notwendig zu besserem Verstehen.
Der Theologe und Philosoph Ernst Troeltsch (1865–1923) gilt als Hauptvertreter des Historismus in der (liberalen) Theologie.27 In seiner Schrift „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“28 vertrat er die These, daß die Theologie keine absoluten dogmatischen Wahrheiten erreichen könne. Offenbarung sei im Sinne Schleiermachers und Hegels ein komplexer Prozeß, der in der Bibel zwar eine (für das Abendland) grundlegende und zentrale Anfangsstufe und im gegenwärtigen Christentum einen relativen Höhepunkt habe, der aber keineswegs als in Christus abgeschlossen angesehen werden dürfe, sondern progressiv in der Kirchen- und Religionsgeschichte voranschreite. Verstehen bedeutet nach Troeltsch, auf der Basis von genetischem Denken ein geistiges Phänomen in geschichtliche Entwicklungslinien einordnen zu können. Der rein historischen Methode komme der absolute Primat vor der dogmatischen Methode zu.29
Martin Heidegger (1889–1976) hat in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) eine umfangreiche phänomenologische Analyse des Daseins vorgelegt, die hier in keiner Weise adäquat dargestellt werden kann. So, wie sich die Sache von sich selbst zeigt, in Abwehr aller traditionellen Verformungen, Verschüttungen, Verstellungen wollte Heidegger aufdecken, daß es dem Menschen in seinem Dasein um dieses sein Sein selbst geht. Diese unverstellte Wesensschau möchte erfassen, was menschliche Existenz grundlegend auszeichnet. Bei der Analyse des Daseins entdeckt Heidegger zunächst seine „Vor-Struktur“, d.h. das Dasein entwirft sich nicht frei aus sich selbst, ist nicht authentisch, sondern es wird in die schon vorhandene Welt geworfen, kann sich die Zeit der Geburt und den Ort seines Lebens nicht auswählen; sie sind ihm schicksalhaft vor-gegeben. Jeder Mensch lebt und wächst in einem Verweisungszusammenhang, innerhalb dessen schon vor ihm alles seine Auslegung gefunden hat. Die Dinge und ihre Funktionen liegen fest, bevor der Einzelne sie benutzt. Schon vor aller Versprachlichung und logisch-gedanklichen Durchdringung lebt menschliches Dasein in einem urtümlichen-ursprünglichen, präreflexiven und präverbalen Funktionszusammenhang. Heidegger nennt die Dinge des alltäglichen Gebrauches, die wir intuitiv benutzen, das „Zuhandene“. Aber nicht nur die Gebrauchsgegenstände, sondern auch das Denken und Fühlen wird dem Menschen in einer ihm vorgegebenen Auslegung der Welt, zu der er zunächst keine kritische Stellung beziehen kann, „mitgeteilt“. Für die Theorie des Verstehens bedeutet das, wie die Paragraphen 29–34 in „Sein und Zeit“ explizieren, daß man mit einer ursprünglichen, noch vor aller rationalen und sprachlichen Erfassung liegenden Gelichtetheit der Existenz rechnen muß, mit einer Art gelebter Grundschicht, die den Dingen und der Welt einen tiefen Sinn zuweisen kann. „Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend“ (149). Diese ursprüngliche Ausgelegtheit und Sinnhaftigkeit der Welt qualifiziert Heidegger ambivalent: einerseits positiv als schlechthin fundierend, andererseits negativ als gefährlich bequeme und verführerische „Diktatur des Man“, als „das Gerede“, als „Uneigentlichkeit“. Zur „Eigentlichkeit“ kommt das Dasein nur durch eine Störung des vorgegebenen Zusammenhangs. Die Loslösung von der konventionalisierten Daseinsgestaltung und der durchschnittlichen Weltsicht ist nicht einfach, sondern geschieht nur unter Schmerzen und durch tiefe Verunsicherung hindurch. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Bewußtwerden der Zeitlichkeit des Daseins durch die Erfahrung des Todes. Durch das mutige gedankliche „Vorlaufen zum Tode“ wird sich der Mensch seiner Endlichkeit, Einmaligkeit und Individualität bewußt. Zugleich stürzt ihn diese Entdeckung der Zeitlichkeit in tiefe Sorge. Wie soll er sein einmaliges Dasein angesichts der Begrenztheit der ihm zur Verfügung stehenden Zeit gestalten? Indem er die verschiedenen Möglichkeiten der Daseinsgestaltungen abwägt und die ihm angemessene auswählt (die „Jemeinigkeit“), kommt das Dasein zu seiner Eigentlichkeit. Diese Zusammenhänge sind nicht nur einmalige existentielle Erfahrungen eines Individuums, sondern Grundstrukturen jedes Menschseins. Diese ontischen Grundstrukturen des Daseins nennt Heidegger „Existentialien“ (z.B. Geworfenheit, Zeitlichkeit, Sorge, Vorlaufen zum Tode, Sprung in die Eigentlichkeit).
Es war dem Theologen Rudolf Bultmann (1890–1976) vorbehalten, die Diltheyschen und Heideggerschen Ansätze systematisierend weiterzutreiben. Nach Bultmann ist nicht die kongeniale Einfühlung in eine fremde Seele Aufgabe der Hermeneutik, sondern vielmehr die Erfassung der Sache, die sowohl dem Autor als auch dem Leser am Herzen und die dem jeweiligen Text zugrunde liegt. Bultmann fordert „Besinnung auf die einfache Tatsache, daß Voraussetzung des Verstehens das Lebensverhältnis des Interpreten zu der Sache ist, die im Text – direkt oder indirekt – zu Worte kommt“30. „Die Interpretation der biblischen Schriften unterliegt nicht anderen Bedingungen des Verstehens als jede andere Literatur. Zunächst gelten für sie unbezweifelt die alten hermeneutischen Regeln der grammatischen Interpretation, der formalen Analyse, der Erklärung aus den zeitgeschichtlichen Bedingungen. Sodann ist klar, daß auch hier die Voraussetzung des Verstehens die Verbundenheit von Text und Interpret ist, die durch das Lebensverhältnis des Interpreten, durch seinen vorgängigen Bezug zur Sache, die durch den Text vermittelt wird, gestiftet wird. Voraussetzung des Verstehens ist auch hier ein Vorverständnis der Sache.“31 Der Ausleger hat alles, was er an Sachkenntnissen vor der Begegnung mit dem Text erworben hat, in die Interpretation einzubringen, damit das Verstehen facettenreich und tief wird. Die Sache der Bibel ist das Verständnis des Menschen sub specie dei. „Die ‘subjektivste’ Interpretation ist hier die ‘objektivste’, d.h. allein der durch die Frage der eigenen Existenz Bewegte vermag den Anspruch des Textes zu hören.“32 Am Beispiel der Übersetzung eines Textes aus einer fremden Sprache verdeutlicht Bultmann, daß ohne Sachkenntnis eine solche Übersetzung nicht gelingen kann. Als zweites Proprium bringt Bultmann die hohe Bedeutung der Frage für den Prozeß des Verstehens zur Geltung. Ohne leitende Fragen, die an einen Text gerichtet werden, gibt er keine Antworten. In Analogie zur etwas gespreizten Heideggerschen Sprache bezeichnet Bultmann dieses Phänomen als „das Woraufhin der Befragung“. Es gibt nun Fragehinsichten, die einem Text angemessen sind, und solche, die an der Intention des Textes vorbeigehen. Die „echte Fragestellung“ für die Texte der Bibel (wie für alle bedeutenden Literaturwerke) ist nach Bultmann die nach ihrem Daseinsverständnis. Die Interpretation der Bibel darf sich also nicht auf die Rekonstruktion vergangener Geschichte, auf psychologische oder ästhetische Interessen reduzieren; erst wenn nach dem Selbst-, Welt- und Gottesverständnis, das sich in den Texten artikuliert, gefragt wird, ist der Theologe bei seiner Sache. Wissenschaftliche Auslegung der Bibel „findet ihr Woraufhin in der Frage nach dem in der Schrift zum Ausdruck kommenden Verständnis der menschlichen Existenz“33. Bultmann hat dafür den vielfach mißverstandenen Begriff „existentiale Interpretation“ eingeführt; was damit genauer gemeint ist, wird unten unter 4c dargestellt werden.
„Das klassische Grundbuch der modernen Hermeneutik“34 ist nach Auffassung vieler Hans-Georg Gadamers (geb. 1900) Schrift „Wahrheit und Methode“, die eine außerordentlich breite Wirkung auf die Grundlagendiskussion der geisteswissenschaftlichen Disziplinen insgesamt ausübte und ausübt. In Aufnahme und Weiterführung von Problemen, die bereits Schleiermacher und Kierkegaard sahen, geht es Gadamer um folgendes: Mein „Anliegen ist, Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt, überall aufzusuchen, wo sie begegnet und auf ihre eigene Legitimation zu befragen“ (XXVII). Durch eine phänomenologische Analyse des Verstehensprozesses soll das aufgedeckt werden, was wirklich geschieht, und die volle Weite der Wahrheit zurückgewonnen werden, die nach Gadamer durch den selbstbetrügerischen Methodenmonismus der positivistisch-historistisch orientierten Wissenschaften verengt worden ist. Vor allem an den Modellbeispielen der Erfahrung der Kunst und der Bedeutung des Spieles arbeitet Gadamer die nicht methodisierbaren Grundelemente des Verstehens heraus: Jedes Verstehen beruht notwendigerweise auf Erfahrungen und Beurteilungen, die ihm vorgegeben sind, auf meist unbewußten, geschichtlich gewachsenen Vorurteilen. Solche Vorurteile sind – entgegen dem aufklärerischen Vorurteil gegen das Vorurteil – keineswegs notwendig falsche Urteile. Vielmehr hat jedes der Vorurteile, die unser heutiges Denken bestimmen, einen langen Weg durch die Tradition nehmen müssen, hat sich durchsetzen und bewähren müssen. Denn die hermeneutische Bedeutung des Zeitenabstands liegt in einer „Filterung“ (282); nur „was der historischen Kritik gegenüber standhält“, wird „klassisch“ (271). Daß sich bestimmte Vorurteile zu (unbewußter) Allgemeingültigkeit erheben, liegt nicht in Dummheit, Denkfaulheit oder Autoritätsgläubigkeit begründet, sondern in der Sachangemessenheit der Vorurteile, die durch die Zeiten hindurch Einverständnis abnötigt. Von daher ist es notwendig, gegenwärtiges Verstehen als Wirkung der Tradition zu begreifen. Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein erkennt, daß Verstehen Verschmelzung des eigenen Horizontes mit dem der Tradition bedeutet. Verstehen ist „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“ (275). Beim Prozeß der Horizontverschmelzung kann sich der Interpret notwendigerweise nicht selbst aus dem Spiel lassen; vielmehr gehört die Anwendung (applicatio) des Verstandenen auf den Verstehenden selbst notwendig und ursprünglich zum Verstehen. Am Modell der juristischen und der theologischen Hermeneutik wird die grundsätzliche Bedeutung der Applikation deutlich (290–323). Der hermeneutische Vorgang gegenseitiger Durchdringung unterschiedlicher Horizonte läßt sich am besten am Modell des Gespräches, insbesondere an der platonischen Dialektik von Frage und Antwort verdeutlichen. Auch für das Verstehen von Texten gilt, daß man mit dem Text in ein Gespräch kommen muß, damit er seine Sache zur Geltung bringen kann. Nur im intensiven Dialog zwischen Ausleger und Auszulegendem kann es zum hermeneutischen Umschlag kommen, so daß plötzlich der Text der Fragende wird und der Interpret der in Frage Gestellte. Schließlich betont Gadamer die außerordentliche Bedeutung der Sprache für das Verstehen. „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ (450). Jeder Ausleger muß wissen, daß seine Sprache und damit seine gesamte Weltsicht eingebettet ist in einen langen Traditionsprozeß; nur im wirkungsgeschichtlich aufgeklärten Bewußtsein, das um die Macht auch von nicht rationalen Vorurteilen weiß, gelangt Interpretation in die Tiefe.
Gegenüber der am bewußten geistigen Erleben des Autors orientierten Hermeneutik gab es zwei große Gegenentwürfe. Zum einen ist es Karl Marx (1818–1883) gewesen, der in Umkehrung des Hegelschen Idealismus die These aufstellte, daß die Materie das Bewußtsein bestimme. Die ökonomischen Verhältnisse bestimmen die geistige Produktion; Philosophie, Religion und Kultur sind bloß ideologischer „Überbau“. Verstehen ist deswegen ein kritisches Durchschauen der materiellen Interessen, die sich in einem Text artikulieren. Wesentliches Konstituens von geistigen Produkten ist ihre ideologische Funktion der Stabilisierung von Besitz-, Herrschafts- und Arbeitsverhältnissen. Diese müssen einer wissenschaftlichen Ideologiekritik unterworfen und in ihrer Interessenhaftigkeit aufgeklärt werden. Bisweilen ist der Klassenstandpunkt dem Autor selbst nicht bewußt, die historisch-materialistische Interpretation aber durchschaut die Verwurzelung bestimmter Theorien in bestimmten ökonomischen Verhältnissen. Das Verstehen zielt aber über das bloße Analysieren hinaus auf konkrete gesellschaftliche Veränderungen ab. In der elften der „Thesen zu Feuerbach“ heißt es: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“. Entsprechend darf die Bibel nicht „Opium des Volkes“ bleiben, sondern ihre ideologische Funktion muß verstehend aufgedeckt werden. In Fortführung von Marx und Engels hat besonders Ernst Bloch (1885–1977) herausgearbeitet, daß die Bibel auch kräftige Impulse zur Veränderung der Welt enthält.35 Das Exodus-Licht, das beim Auszug Israels anfing, in die Welt zu leuchten, leitet an zum Auszug des Menschen aus jeder Sklaverei und Unterdrückung, zuletzt auch zum Exodus aus Gott. Daß die Welt im Sinne der Bibel, besonders des Alten Testaments, verändert wird, ist wesentliches Element des Prinzips Hoffnung.
Wiederum von ganz anderen Voraussetzungen her war es Sigmund Freud (1856–1939), der aufzeigte, daß beim Produzieren wie auch beim Interpretieren eines Textes eine Fülle von unbewußten Motiven mitwirkt. Das Grundproblem des Menschen ist nach Freud seine tragische Verfallenheit an die Angst. Prägend für das Erleben des Erwachsenen sind die Erfahrungen, die er als Kind vor aller reflexiven Selbstbewußtheit machen mußte. Schon mit der Geburt beginnt die Erfahrung von Lebensbedrohung und Todesangst. Die Struktur der menschlichen Persönlichkeit ist nach Freud in drei Bereiche differenziert: das Über-Ich (entspricht in etwa dem Gewissen), das Ich (entspricht in etwa dem bewußt wahrgenommenen Selbst) und das Es (entspricht dem Bereich der unbewußten Triebe und chaotischen Wünsche). Diese Polarisierung in der Persönlichkeit birgt ihrem Wesen nach permanente Quellen der Angst. Zum einen wird dem Menschen durch die Ansprüche des Über-Ich beharrlich die ungehemmte sexuelle Triebbefriedigung verwehrt, was zu permanenter Frustration führt. Der Triebstau sowie die anhaltenden Konflikte zwischen den Ansprüchen des Über-Ich und denen des Es produzieren Ängste, die durch diverse Abwehrmechanismen beseitigt werden müssen, z.B. durch Träume36, Alltagspathologien (wie z.B. Daumenlutschen, Bettnässen oder Waschzwang) oder aber durch Sublimation in kulturell anerkannten Leistungen (z.B. Bücherproduktion). Weitere wichtige Formen der Angstabwehr sind der Witz, die Verdrängung, die Verschiebung, die Symbolisierung, die Projektion eigener Wünsche auf das Fremde, die Aufspaltung von Persönlichkeitsanteilen oder die Regression (Reinfantilisierung). Nach Freud finden sich in jedem Text Spuren solcher unbewußter Angstabwehrmaßnahmen. Verstehen heißt entsprechend a) die angstlösenden (oder -verstärkenden) Komponenten eines Textes zu durchschauen; b) die sexuellen Implikationen eines Textes zu erkennen; c) die Elemente frühkindlichen Erlebens in einem Text auszuloten.37 Auch die Bibel muß nach Freud auf ihre unbewußte Art, mit der Libido, der sexuellen Urtriebkraft des Menschen, und der Angst umzugehen, abgehört werden.
Die soziologischen Einsichten von Marx und die psychoanalytischen Entdeckungen Freuds finden in der „Frankfurter Schule“ zu einer theoretischen Synthese. Die sogenannte „Kritische Theorie“, deren Hauptvertreter Max Horkheimer (1895–1973), Theodor W. Adorno (1903–1969), Herbert Marcuse (1898–1979) und Jürgen Habermas (geb. 1929) sind, zeichnet sich durch eine scharfe Kritik an allem bestehenden Herrschaftsverhalten aus. Dabei wird die Gesellschaft gleichsam als Makroseele gesehen. Wie das Individuum mit Frustration und Angsterfahrungen durch das Zusammentreffen der unterschiedlichen Personbereiche zurechtkommen muß, so hat auch die Gesamtgesellschaft das Problem, daß in ihr unterschiedliche Gruppeninteressen miteinander konkurrieren: Das gesellschaftliche Über-Ich, repräsentiert z.B. in Intellektuellen, Richtern oder Kirchenvertretern, reibt sich mit den Repräsentanten des gesellschaftlichen Es wie z.B. Rockern oder avantgardistischen („wilden“) Künstlern. Der Durchschnittsmensch repräsentiert das gesellschaftliche Ich, das zwischen den Ansprüchen und Neigungen beider Gruppen ausgleichen muß. Zwischen diesen gesellschaftlichen Bereichen kommt es zu Kommunikationshemmungen, zu den unterschiedlichsten Formen von Angstabwehr, die den soeben bei Freud für das Individuum geschilderten strukturanalog sind. Ziel der dialektischen Aufklärung muß es sein, einen herrschaftsfreien Dialog aller Teile der Gesellschaft herbeizuführen. Dieses Ziel impliziert radikale Ideologiekritik, aber auch sexuelle Befreiung. Die Bibel im Sinne der Frankfurter Schule zu interpretieren heißt, das soziale Umfeld der biblischen Autoren und ihre persönliche Tiefenstruktur zu studieren und darüber hinaus die ideologische Funktionalisierung der Bibel in der Gesellschaft der Gegenwart zu erforschen und Deformationen des freien Diskurses zu korrigieren.
Suchten die bislang dargestellten Hermeneutiken den Text dadurch besser zu verstehen, daß sie Faktoren hinter dem Text zu erschließen versuchten (die Psyche des Autors, die ökonomischen Verhältnisse, die Vorurteile und Traditionen, die seine Zeit prägten, usw.), so entstand ab Mitte der 50er Jahre eine hermeneutische Richtung, die sehr viel stärker den Text als Text erforschen wollte. Gespeist einerseits aus dem französischen Strukturalismus, andererseits aus der in Deutschland besonders gepflegten werkimmanenten Interpretation entstand die Auffassung, daß sich wahres Verstehen, das intersubjektiv ausweisbar ist, nur dann erzielen läßt, wenn man vollständig in die Welt eintaucht, die der Text entwirft. Nach diesem Gedankengestell ist es eher ein hermeneutischer Mißgriff, aus dem Text heraus in die Welt des Autors, des Lesers oder der Sache springen zu wollen; zumal solche Versuche die Last tragen, in hohem Grade hypothetisch und subjektiv zu sein. Vielmehr entwirft jeder Text seine eigene Welt bzw. – im Anschluß an Ludwig Wittgensteins (1889–1951) Spätphilosophie – sein eigenes „Sprachspiel“. Das Verstehen sollte sich darauf begrenzen, die Bauformen des Textes zu durchschauen, seine Sprachregelungen zu erfassen und die Welt, die der Text entwirft, präzise nachzuzeichnen, statt sich in Vermutungen zu begeben, deren Stichhaltigkeit ohnehin fragwürdig bleibt. Die Zentralstellung des Pols „Text und seine Welt“ im hermeneutischen Viereck geschieht unter Überschriften wie Linguistik, Strukturalismus, Semiotik, New Literary Criticism oder Rhetorical Criticism.
Eine weitere starke Strömung, die in den letzten 30 Jahren die hermeneutische Diskussion in völlig neue Richtungen gelenkt hat, ist die am Rezipienten orientierte Literaturwissenschaft. Hatte sich die ältere Hermeneutik noch sehr stark bei der intentio auctoris bzw. der intentio operis aufgehalten, so wird jetzt deutlich, in welch hohem Maße der Leser am Prozeß der Sinnentstehung beteiligt ist. Es erscheint manchen geradezu als Paradigmenwechsel, daß an diesem Flügel des hermeneutischen Diskurses „ein Übergang von der Textwissenschaft zur Kommunikationswissenschaft stattgefunden“38 hat. Ein Haupttheoretiker der rezipientenorientierten Hermeneutik ist Umberto Eco (geb. 1932) mit seinen beiden Büchern „Das offene Kunstwerk“ (1962) und „Lector in fabula“ (1987). Die grundlegende textpragmatische Beobachtung dieser hermeneutischen Richtung lautet: Jeder Text ist notwendigerweise „mit Leerstellen durchsetzt, mit Zwischenräumen, die ausgefüllt werden müssen“39. Jede sprachliche Äußerung enthält semantische Unschärfen, Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten, die der Leser jeweils auffüllen muß. Eco spricht von „Ambiguität“, die es zu disambiguieren gelte. Das ist die Aufgabe des Lesers. Die Doppeldeutigkeit bzw. Mehrdeutigkeit verdeutlicht Eco gerne an Beispielen wie etwa folgendem: „Carlo schläft zweimal in der Woche mit seiner Frau. Luigi auch.“40 Wenn ein Autor einen Text erst einmal produziert hat, führt dieser sozusagen ein Eigenleben. Der Autor kann nicht mehr kontrollieren, bis zu welchem Punkt seine Aussagen eindeutig sind und von wo an es auf die Produktivität des Lesers entscheidend ankommt. In jedem Falle hat jeder Text eine Dimension, wo die Mitarbeit des Lesers nicht mehr gelenkt wird, sondern „wo sie sich in ein freies Abenteuer der Interpretation verwandeln muß“41. In der Nachschrift zu „Der Name der Rose“ kann Eco formulieren: „Nichts ist erfreulicher für den Autor eines Romans, als Lesarten zu entdecken, an die er selbst nicht gedacht hatte und die ihm von Lesern nahegelegt werden. Als ich theoretische Werke schrieb, war meine Haltung gegenüber den Rezensenten die eines Richters: Ich prüfte, ob sie mich verstanden hatten, und beurteilte sie danach. Mit einem Roman ist das ganz anders. Nicht daß man als Romanautor keine Lesarten finden könnte, die einem abwegig erscheinen, aber man muß in jedem Fall schweigen und es anderen überlassen, sie anhand des Textes zu widerlegen. Die große Mehrheit der Lesarten bringt jedoch überraschende Sinnzusammenhänge ans Licht, an die man beim Schreiben nicht gedacht hatte. Was heißt das? … Es zählt nicht, was ich im nachhinein sage, der Text ist da und produziert seine eigenen Sinnverbindungen … Der Autor müßte das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört.“42 „Ein Erzähler darf das eigene Werk nicht interpretieren, andernfalls hätte er keinen Roman geschrieben, denn ein Roman ist eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen.“43 Mit dieser Konzeption berührt sich Eco in gewisser Weise mit Augustin (s.o. S. 10f.): Die Intention des Autors wird mehr oder weniger nebensächlich; die Fülle der unterschiedlichen Rezeptionen ist im Werk angelegt und explizit gewollt.
Die faktische Pluralität und die Divergenz in der Rezeption (auch von ganz zentralen Bibeltexten) ist theoretisch am stärksten durchreflektiert in der Philosophie der sogenannten Postmoderne. Konstitutiv ist die Einsicht, daß in unterschiedlichen Diskursarten derselbe Text sehr unterschiedliche Bedeutung erlangen muß, jedoch nicht entschieden werden kann, welche Deutung die richtige ist. So formuliert Jean-François Lyotard (geb. 1924) schon fast klassisch: „Im Unterschied zum Rechtsstreit … wäre ein Widerstreit [französisch différend] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. Die Legitimität der einen Argumentation schlösse nicht auch ein, daß die andere nicht legitim ist. Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, um ihren Widerstreit gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von ihnen Unrecht zu … Ein Unrecht resultiert daraus, daß die Regeln der Diskursart, nach denen man urteilt, von denen der beurteilten Diskursart(en) abweichen … Der Titel des Buches [Der Widerstreit, M. O.] legt … nahe, daß eine universale Urteilsregel in Bezug auf ungleichartige Diskursarten im allgemeinen fehlt.“44 Die rezeptionsästhetisch aufgeklärte Hermeneutik muß sich damit abfinden, daß universale Urteilsregeln in der Postmoderne abhanden gekommen sind. Im Extrem gedacht, zerfällt die Welt der Ausleger in viele miteinander nicht mehr kommunikationsfähige Welten, die einander fremd bleiben müssen. Fast wie bei Leibniz werden die Individuen als fensterlose Monaden gedacht; die prästabilierte Harmonie, die den Zusammenhalt der Monaden bei Leibniz noch garantierte, ist allerdings im Ansatz verloren und durch einen radikalen Pluralismus ersetzt. Es gibt nicht mehr die eine richtige Auslegung, sondern die unendliche Interpretation, die unbegrenzte Semiose.45
Schaut man nach dieser knappen Skizze der Geschichte der philosophischen Hermeneutik auf die gegenwärtige Situation, so zeigen sich drei deutliche Tendenzen:
1) Die Pluralisierung der Methoden: Es gibt gegenwärtig sehr unterschiedliche hermeneutische Konzepte, die man aber nicht auf eine historische Abfolge mit stringentem Ergebnis bringen darf. De facto stehen in der Gegenwart alle großen Konzepte der Geschichte synchron nebeneinander. Jede der älteren Theorien findet mutatis mutandis auch heute noch ihre Anhänger und Vertreter. Im Bereich der Methoden ist „der Widerstreit“ sehr ausgeprägt; die jeweiligen Vertreter stehen sich wie feindliche Lager gegenüber und haben große Mühe, miteinander zu kommunizieren. Diese Pluriformität läßt sich im Rahmen der Theorie des hermeneutischen Vierecks als einseitige Hervorhebung oder gar Isolierung je eines Pols: Autor, Text, Leser oder Sache erklären. Daneben begegnen aber auch alle möglichen Mischungsverhältnisse. Die Pluralisierung und Aufsplittung in „Schulen“ hat tiefgreifende Konsequenzen.
2) Die Pluralisierung der Sinne: Schien durch Reformation und Humanismus die mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn durch eine Beachtung des historischen Sinns allein abgelöst, so hat sich in der Moderne eine sogleich eingehend zu betrachtende methodische Vielfalt entwickelt, die den Texten weit mehr als nur einen oder nur vier Sinne abgewinnt; in der Postmoderne schickt sich die Theorie von der unendlichen Semiose an, Konsens zu werden. Durch Anwendung der unterschiedlichsten Methoden erlebt unsere Gegenwart nicht nur eine Sinnfülle, sondern eine Sinnflut.
3) Die Entobjektivierung: War es in der Frühzeit der Hermeneutik das Ziel, wahre Aussagen über eine Sache zu formulieren (Aristoteles), so wird im Zuge der neuzeitlichen Reflexion gerade dieser Sachbezug problematisiert; die Objektivität der Auslegung und die Eindeutigkeit der Aussagen werden immer fraglicher. Der Subjektivität des Auslegers wird immer mehr zugetraut, die eine „Wahrheit“ wird auch als regulative Idee der Geisteswissenschaft problematisch. An ihre Stelle treten plurale Wahrheits- und Vernunftsmodelle mit einer Fülle von „Sprachspielen“ und einer „Pluralität der Diskursarten“.
Die Biblische Hermeneutik ist in vielfacher Weise mit der allgemeinen Entwicklung des Denkens verzahnt; die Bewegungen innerhalb der philosophischen Hermeneutik schlagen sich mehr oder weniger direkt auch in der Bibelhermeneutik nieder; da hermeneutische Theologie die Aussagen der Bibel den jeweiligen Lesern verständlich machen will, muß sie notwendigerweise auf deren Denkformen eingehen. Mit Hilfe unseres Theorems vom hermeneutischen Viereck lassen sich die neuen, alternativen Methoden der Bibelauslegung sinnvoll ordnen und darstellen.
1 „Sprache“ ist nicht auf Texte fixiert; es gibt auch nonverbale Sprachen, z.B. der Gestik und Mimik, der Symbole, der Musik oder der Blumen.
2 Politeia, 514ff.
3 Vgl. F. Wehrli, Zur Geschichte der allgemeinen Deutung Homers im Altertum, Leipzig 1928.
4 Sammlungen solcher stoischer Allegorien findet man z.B. bei Herakleides Pontikus, Allegorie homerike, oder bei Plutarch, De vita et poesia Homeri.
5 Vgl. I. Christiansen, Die Technik der allegorischen Auslegungswissenschaft bei Philon von Alexandrien, Tübingen 1969. – B. L. Mack, Weisheit und Allegorie bei Philo von Alexandrien: StPhilo 5 (1978) 57–105.
6 G. Stemberger, Das klassische Judentum, München 1979, 196.
7 Vgl. H. Strack/G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 71982, 45–40; R. Mayer, Geschichtserfahrung und Schriftauslegung – zur Hermeneutik des frühen Judentums, in: O. Loretz/W. Stolz, Die hermeneutische Frage in der Theologie, Freiburg 1968, 290–355.
8 Übersetzung nach O. Bachmann, Köln o. J.
9 Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakramenten (1525), WA 18,180,17–20.
10 Auf das überchristlich usw. Buch Bocks Emsers zu Leipzig Antwort (1521), WA 7,651,1–8.
11 Predigten über das 2. Buch Mose (1524–1527), WA 16,69,28–30.
12 Eine kurze Form, das Paternoster zu verstehen und zu beten (1519), WA 6,15.
13 Vgl. K.-H. Michel, Anfänge der Bibelkritik. Quellentexte aus Orthodoxie und Aufklärung, Wuppertal 1985.
14 Vgl. besonders die Frühromantik bei Herder, der die „Stimmen der Völker“ (1778/79) einfühlsam voneinander abgehoben hatte.
15 Vgl. von M. Frank herausgegeben und eingeleitet: F. D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers (stw 211), Frankfurt 1977.
16 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 318f. (Hervorhebung M. O.).
17 Hermeneutik und Kritik, 92.
18 Vgl. a.a.O. 93.
19 A.a.O. 319.
20 Kierkegaard, Die Philosophischen Brosamen (dtv 6064), München 1976, 111.
21 A.a.O. 23.
22 Vgl. J. Wach, Das Verstehen, Bd. II, Tübingen 1933, hier 112.
23 Droysen, Grundriß der Historik, § 38, 339.
24 A.a.O. 156.
25 H. Birus (Hrsg.), Hermeneutische Positionen, Göttingen 1982, 62.
26 W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (stw 354), Frankfurt 1981, 267.
27 Vgl. E. Troeltsch, Gesammelte Schriften, Bd. III: Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922; Ders., Der Historismus und seine Überwindung (postum), Tübingen 1924.
28 Tübingen 1902 (= Siebenstern TB 138, München/Hamburg 1969).
29 Vgl. E. Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), in: Ders., Ges. Schriften II, Tübingen 21922, 729–753.
30 R. Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: Glauben und Verstehen II, Tübingen 1952, 211–235, hier 217.
31 A.a.O. 231.
32 A.a.O. 230.
33 A.a.O. 232.
34 R. Bubner, Anmerkungen zur Hermeneutik Gadamers, in: Hermeneutik und Dialektik I (FS H.-G. Gadamer), Tübingen 1970, 305–316, 306.
35 Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959; Atheismus im Christentum, Frankfurt 1973.
36 Träume spielen in der Psychoanalyse eine sehr wesentliche Rolle. Als via regia zeigen sie den Weg zu dem, was das Unbewußte wirklich will und beschäftigt, am verläßlichsten auf. Freilich sind die Traumbotschaften vielfach verschlüsselt, und es braucht viel Arbeit, um die Symbolisierungen, Verschiebungen, Aufspaltungen u.a.m. zu dechiffrieren und so den Sinn des nur scheinbar Chaotischen zu dekodieren.
37 Freud unterscheidet in der frühkindlichen Entwicklung im Alter von 1–6 Jahren 3 Phasen, je nach dem Organ, das die meiste Lust vermittelt: Zunächst die orale Phase (1. Lebensjahr), in der der Mund, das Saugen und Essen eine primäre Lustquelle darstellen; sodann die anale Phase, in welcher die Beherrschung des Schließmuskels, das Hergeben oder Zurückhalten von Stuhl im Zentrum des Lustgewinns stehen; zuletzt die phallische Phase, wobei die primären Geschlechtsteile Penis und Vagina ins Lustzentrum rücken. Nach Freud sind die Erlebnisse dieser ersten 6 Lebensjahre von prägender Bedeutung für den Rest eines menschlichen Lebens; insofern sind die entscheidenden Weichen des menschlichen Denkens und Fühlens in einer Zeit angesetzt, in der das Individuum sie bewußt überhaupt noch nicht beeinflussen kann. Der heranwachsende Mensch ist mehr tragisches Opfer denn bewußter Täter.
38 Ch. Dohmen, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des christlichen Alten Testaments, Stuttgart 1996, 193 (Lit.).
39 Eco, Lector in fabula, München 63.
40 A.a.O. 110.
41 A.a.O. 71 (Hervorhebung M. O.).
42 Nachschrift zu Der Name der Rose, München 1984, 11–14.
43 A.a.O. 10.
44 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 21989, 9.
45 Eco hat seine liebe Mühe, die in der Konsequenz seiner Theorie liegende Beliebigkeit der Interpretation einzugrenzen, was ihm mehr humorvoll und ironisch als stringent systematisch-theoretisch „gelingt“ (vgl. U. Eco, Unbegrenzte Semiose und Abdrift, in: Ders., Die Grenzen der Interpretation, München/Wien 1992, 425–441).