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EINFÜHRUNG: GEGENSTAND UND METHODE DES VORLIEGENDEN BUCHES

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Die Biblische Hermeneutik als Wissenschaft vom Verstehen der biblischen Schriften umgreift einen sehr weiten Gegenstandsbereich. Sie analysiert zum einen die Art und Weise, wie wissenschaftliche Bibelauslegung vorging und vorgeht, und unterwirft solche Schriftauslegung einer kritischen Geltungsprüfung; insofern gehört sie zur unverzichtbaren methodologischen Grundlagenreflexion der Theologie. Zum anderen erforscht sie, wie auch außerhalb der universitären Wissenschaft die Bibel verstanden und angewendet wurde. In diversen Gruppen der Kirche und Gesellschaft werden sogenannte „alternative“ Methoden der Bibelinterpretation angewendet, deren Stärken und Schwächen bedacht werden wollen.

In strengem Vollsinn konnte eine Biblische Hermeneutik erst ab dem Zeitpunkt entstehen, als die Bibel insgesamt als abgeschlossener, schriftlich fixierter Kanon vorlag, d.h. ab dem 4. Jh. n. Chr. In einem weiteren Sinne findet sich aber schon innerhalb der Bibel Alten und Neuen Testaments ein mehr implizit-praktisches als theoretisch-reflektiertes Bemühen, die älteren biblischen Schriften in je veränderter geschichtlicher Situation neu und angemessen zu verstehen. Im Alten Testament läßt sich beobachten, wie die ältesten verschrifteten Glaubenszeugnisse (ab dem 10. Jh. v. Chr.) kontinuierlich fortgeschrieben, intertextuell aufeinander bezogen und dadurch kontextuell interpretiert wurden.1 Erst recht wird nach dem (relativen) Abschluß der Heiligen Schriften Israels im 2. Jh. v. Chr. in der zwischentestamentlichen Literatur deutlich, wie spätere Generationen das Glaubenszeugnis der früheren für ihre jeweilige Gegenwart aktualisieren und anwenden, z.B. durch die Pescher-Methode der Qumrangemeinde2 oder durch Allegorese bei Philo.3 Auch die im Neuen Testament zusammengestellten theologischen Stimmen stellen in gewissem Sinne den Versuch dar, das, was „den Alten gesagt“ ist, angesichts des radikal neuen Heilshandelns Gottes in Jesus Christus neu zu begreifen. Manche Schriften des Neuen Testaments sind geradezu als eine Biblische Hermeneutik des Alten Testaments zu verstehen. Bereits in der Predigt des historischen Jesus, erst recht aber bei den Zeugen des auferstandenen Christus – besonders bei Matthäus, Lukas, Paulus (speziell im Römerbrief) und im Hebräerbrief – findet sich ein sehr dichtes Geflecht von Vernetzungen mit dem Alten Testament.4 Die damit kurz angeleuchtete, in der Bibel selbst enthaltene Hermeneutik soll im vorliegenden Buch nicht entfaltet werden.

G. Ebeling hat mit gewissem Recht die Geschichte der Kirche als Geschichte der Auslegung der Bibel beschrieben.5 Es wäre somit unter dem Titel „Biblische Hermeneutik“ möglich, die Geschichte des Schriftverständnisses von der Alten Kirche bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. Eine solche Gesamtübersicht kann hier – schon aus Raumgründen – nicht angestrebt werden.6 Auch exemplarisch zu verfahren und einzelne beispielhafte Bibelhermeneuten vorzuführen ist nicht beabsichtigt.7

Vielmehr wollen wir uns ganz auf die Schriftauslegung in der Gegenwart konzentrieren. Dabei soll keine Tour d’horizon unternommen werden, die neueste Wege (und Abwege) der Exegese abschreitet und additiv zusammenstellt,8 wenngleich auch dies sozusagen nebenbei geschehen wird. Meine Intention ist es, von einer elementaren phänomenologischen Analyse des Verstehensprozesses her eine Systematik zu entfalten, welche die gegenwärtige Fülle an Auslegungsmethoden verständlich und sinnvoll nachvollziehbar werden läßt.

Die damit gestellte Aufgabe kann wiederum in unterschiedlicher Weise angegangen werden: Nach unserer im folgenden noch weiter zu begründenden Einsicht kann es keine voraussetzungslose Exegese geben; jede Form der Bibelinterpretation ist notwendigerweise mit bestimmten, mehr oder weniger bewußten philosophischen Grundanschauungen verknüpft. Daher ist es jeder Biblischen Hermeneutik aufgegeben, sich Rechenschaft über die weltanschaulichen Grundlagen und Implikationen zu geben, die sie mitgestalten. Das Bedenken der philosophischen Prämissen, die in der Bibelhermeneutik einflußreich sind, könnte in zweifacher Weise geschehen: Entweder gibt man eine geschlossene Darstellung der wichtigsten Entwicklungen in der philosophischen Hermeneutik, oder man bedenkt bei der Behandlung der verschiedenen Methoden der Schriftauslegung an ihrem jeweiligen Ort ihre erkenntnisleitenden Ideale. Letzteres Verfahren vermeidet Wiederholungen, reißt aber sachlich Zusammengehöriges auseinander. Daher bevorzugen wir hier die erstere Gliederungsmöglichkeit und wollen eingangs einen „Streifzug“ durch die Geschichte der philosophischen Hermeneutik von Platon bis Jean-François Lyotard in der Absicht unternehmen, die für die Methoden der Bibelauslegung maßgeblichen Grundgedanken herauszustellen. Bei der Darstellung der einzelnen Methoden können wir uns in diesem Punkte dann knapper fassen.

Die Biblische Hermeneutik soll aber nicht primär theoretisch entfaltet werden; um einen lebendigen Eindruck von der konkreten Exegese zu bekommen, sind vielmehr Beispiele aus beiden Testamenten nötig. Aber auch hier gibt es eine schwer zu entscheidende Alternative: Man könnte die Eigenarten der Methoden dadurch beleuchten, daß man sie alle an einem oder zwei Beispieltexten vorführt.9 Dieses Verfahren, das wir an der Exodus-Erzählung und den Auferstehungsberichten ursprünglich auch durchführen wollten, hat aber den Nachteil, daß sich vieles wiederholen muß und so die Spannung rasch nachläßt. Zudem läßt sich nicht jede Methode an jedem Text gleich gut demonstrieren. Daher gehen wir hier einen anderen Weg und versuchen, an jeweils besonders geeigneten und plastischen Beispielen die unterschiedlichen Methoden zu veranschaulichen. Auf diese Weise ist auch ein besserer Einblick in das weite Spektrum der biblischen Botschaft möglich.

Aus diesen einleitenden Vorüberlegungen ergibt sich folgende Gliederung: Zunächst wird unter I. ein Abriß der Geschichte der philosophischen Hermeneutik gewagt, um so die theoretischen Fundamente zu erfassen, auf denen auch das Verstehen der Bibel aufruhen muß. Danach wird unter II. die Fülle der gegenwärtigen Formen von Bibelauslegung entfaltet. Dabei wird jeweils nach dem gleichen Schema verfahren werden:

A) philosophische Prämissen,

B) theoretische Entfaltung der jeweiligen Konzeption,

C) signifikante(s) Beispiel(e),

D) Würdigung der Stärken und Schwächen des Zugangs.

Literatur zu jeder Methode findet sich in der Bibliographie am Ende des Buches, die nach dem gleichen Schema gegliedert ist wie der Text.

1 Vgl. u.a. M. Fishbane, Biblical Interpretation in Ancient Israel, Oxford 1985; Ders., Inner-Biblical Exegesis, in: M. Saebo (Hrsg.), Hebrew Bible/Old Testament. The History of its Interpretation, Volume I/1, Göttingen 1996, 33–48 (Lit.); H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, Band 1: Vom Alten Testament bis Origenes, München 1990.

2 Vgl. H.-J. Fabry, Methoden der Schriftauslegung in den Qumranschriften, in: Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum: JAC.E 23 (FS E. Dassmann), Münster 1996, 18–33; G. Stemberger, in: Ch. Dohmen/Ders., Hermeneutik der jüdischen Bibel und des Alten Testaments: Studienbücher Theologie 1,2, Stuttgart 1996, 47–50; J. Maier, Early Jewish Biblical Interpretation in the Qumran Literature, in: Saebo (s. Anm. 1), 108–129.

3 Vgl. G. Stemberger, a.a.O. 67–74; F. Siegert, Early Jewish Interpretation in a Hellenistic Style, in: M. Saebo (s. Anm. 1), 162–189.

4 D. A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums, Tübingen 1986; Th. Söding, Heilige Schriften für Israel und die Kirche. Die Sicht des „Alten Testamentes“ bei Paulus: MThZ 46 (1995) 159–181; B. S. Childs, Die Theologie der einen Bibel, Freiburg, Band 1, 1994; Band 2, 1996; H. Hübner, New Testament Interpretation of the Old Testament, in: Saebo (s. Anm. 1), 332–372 (Lit.).

5 G. Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift (1946), in: Ders., Wort Gottes und Tradition, Tübingen 21966, 9–27.

6 Vgl. u.a. L. Diestel, Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche, Jena 1869 (ND Leipzig 1981); A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments. Eine Hermeneutik: ATD.E 5, Göttingen 21988; P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik: NTD.E 6, Göttingen 21986; H. Karpp, Schrift, Geist und Wort Gottes. Geltung und Wirkung der Bibel in der Geschichte der Kirche: Von der Alten Kirche bis zum Ausgang der Reformationszeit, Darmstadt 1992.; H. Graf Reventlow, a.a.O.; Ders., Epochen der Bibelauslegung, Band2. Von der Spätantike bis zum Ausgang des Mittelalters, München 1994.

7 Eine solche personenorientierte Darstellung bietet z.B. H. Seebaß, Biblische Hermeneutik: UB 199, Stuttgart 1974.

8 Diese Form der Darstellung bieten z.B. H. K. Berg, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, Stuttgart 1991; Ch. Dohmen, Vom vielfachen Schriftsinn – Möglichkeiten und Grenzen neuerer Zugänge zu biblischen Texten, in: Th. Sternberg (Hrsg.), Neue Formen der Schriftauslegung?: CD 140, Freiburg 1992.

9 So werden in dem schon genannten Buch von H. K. Berg an der Geschichte von Kain und Abel (Gen 4) und der Erzählung von der Austreibung der bösen Geister in die Schweine (Mk 5,1–20) oder bei U. Luz (Hrsg.), Zankapfel Bibel. Eine Bibel – viele Zugänge. Ein theologisches Gespräch, Zürich 21993, an der Geschichte von der Speisung der 5000 nach Mk 6,30–44 alle Methoden „durchexerziert“.

Biblische Hermeneutik

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