Читать книгу Pentray - Manfred Rehor - Страница 4
Оглавление1 Das Seevolk
Ein Meer, ein Dschungel, eine Wüste und ein Gebirge lagen zwischen mir und meinem Ziel. Von den kriegführenden Kurrethern und anderen Hindernissen gar nicht zu reden. Meine Auftraggeber ignorierten alle Einwände und behaupteten, es sei unumgänglich, dass ich persönlich als Bote diese Reise antrete.
„Wenn einer die Aufgabe bewältigen kann, dann Sie, Aron von Reichenstein“, hieß es und man klopfte mir vielsagend auf die Schulter.
Die Aufgabe: einen Brief aus Ostraia zu Fürst Borran zu bringen, also nach Dongarth in den Ringlanden. Sein Inhalt war magisch versiegelt und man sagte mir nichts darüber. Ich erfuhr nur, dass das Schicksal der Ringlande davon abhängen könnte.
Ich begann meine Reise in Pert, der nördlichsten Stadt an der ostraianischen Küste. In ihrem tiefen, geschützten Hafenbecken gingen vor allem Segelschiffe vor Anker, die nach Norden oder Westen unterwegs waren. In diesen Himmelsrichtungen lagen vergleichsweise sichere Gebiete des Meeres. Weiter südlich befanden sich die großen Kriegshäfen, von denen aus Flotten zum Kampf gegen die Kurrether in See stachen.
Von Pert aus organisierte man die Besiedlung der achten Provinz der Ringlande. Unsere Auswanderer begannen in dieser Stadt ihre Reise nach Norden, in die unbewohnten, weiten Landschaften, die einst die Heimat unserer Vorfahren waren.
Außerdem war Pert der einzige Hafen Ostraias, in dem die Schiffe des Seevolkes anlegten. Dieses Volk lehnte es ab, sich an dem Krieg gegen die Kurrether zu beteiligen. Dennoch unterstützte es Ostraia, indem es gefährliche Transporte übernahm.
Nun ging ich als einziger Passagier an Bord eines ihrer Schiffe, um jenseits des Meeres in der Nähe der Stadt Marlik heimlich an Land abgesetzt zu werden. Marlik galt nicht mehr als sicher. Aber nur von dort aus gab es einen Weg, der von der Küste in die Ringlande führte, entlang des Flusses Djenon.
Es würde mindestens drei Monate dauern, bis ich Dongarth erreichte, doch darüber machte ich mir keine Gedanken, als die Fregatte in See stach. Zunächst musste ich mich wieder an das Leben an Bord eines Schiffes gewöhnen. Der Kapitän, Bellard Marong, unterschied sich kaum von seinen Besatzungsmitgliedern und Offizieren. Alle Angehörigen des Seevolks benahmen sich wie die Mitglieder einer großen Familie und sahen sich auch entsprechend ähnlich. Sie waren von gedrungenem Körperbau und trugen Hosen und ärmellose Jacken aus Leinen, je nach persönlicher Vorliebe vielfarbig oder in verwaschenem Blau.
Das Seevolk lebte nur auf seinen Schiffen, so wurde es jedenfalls erzählt. Nie hatte ein Außenstehender etwas über ihre Heimat erfahren. Aber irgendwo mussten sie diese Schiffe bauen, die Kanonen gießen und nicht zuletzt ihre kleinen Kinder und ihre Alten unterbringen, die nicht mit an Bord waren.
Während der ersten zwei Wochen der Reise hatte der Kapitän nicht viel zu tun. Das Wetter war schön, der Wind wehte kräftig, aber nicht zu stark, so dass unsere Fregatte zügig vorankam. Wir würden auf der anderen Seite des Meeres gegen den Wind kreuzen müssen, um die Meilen wieder gutzumachen, die wir vom direkten Kurs abwichen, doch das lag noch vier Wochen in der Zukunft. Ich hatte mehr als genug Zeit, mich mit Bellard Marong zu unterhalten.
Zunächst fragte ich ihn, warum die Besatzungsmitglieder - Matrosen wie Offiziere - mich ignorierten, ja geradezu so taten, als sei ich gar nicht vorhanden.
„Das ist keine Diskriminierung von Angehörigen anderer Völker“, erklärte er mir. „Vielmehr herrscht bei uns die weitverbreitete Einstellung vor, dass Menschen, die nicht auf dem Meer zuhause sind, nicht viel gelten: Landratten sind minderwertig. Wie gesagt, das stellt keine persönliche Geringschätzung dar. Aber falls Sie jemals eine Karte der Welt gesehen haben, so wissen Sie, dass die Meere größer sind als die Landflächen. Wenn der Mensch geschaffen wurde, um sich die Welt untertan zu machen, wie es Gott uns aufgetragen hat, so müssen damit zuallererst die Ozeane gemeint sein. Wir betrachten es als die wichtigste Aufgabe unseres Volkes, diesem Auftrag gerecht zu werden. Wir sind auf allen Meeren unterwegs, und es ist unser Stolz, die besten Schiffe mit den besten Segeln und den besten Kanonen zu besitzen, die jemals hergestellt wurden.“
Ich unterbrach seinen Redefluss und fragte: „Hergestellt von wem und wo?“
„In Werften, Kanonengießereien und so weiter.“ Er machte eine ungewisse Handbewegung. „Wir verfügen über solche Einrichtungen. Jedenfalls gehören die Meere uns und wir gehören den Meeren. Wer auf dem Land lebt, spielt da kaum eine Rolle. In den Augen meiner Mannschaft sind Sie ein armer Wicht, der nicht weiß, was der wahre Sinn eines Menschenlebens ist. Also warum sich mit Ihnen abgeben?“
„Um mich zu bekehren? Mir den Glauben an den Gott des Seevolkes nahe zu bringen, zum Beispiel. Vielleicht entscheide ich mich dann auch für das Leben auf einem Schiff.“
Er lachte: „Unser Gott ist derselbe, den die meisten Menschen anbeten. Ich habe von euch Ringländern gehört, dass ihr viele Götter verehrt, für jede Kleinigkeit habt ihr einen eigenen. Aber über diesen allen steht auch bei euch derjenige, den ihr den Einen Gott nennt. Da wir nur ihn kennen, brauchen wir seine Einmaligkeit nicht so zu betonen. Entscheidend ist, was man als Gottes Aufgabe für uns Menschen versteht. Studieren Sie die heiligen Schriften?“
„Ich habe Priester daraus vorlesen hören“, gab ich zu. „Alles zu lesen, was mit den Göttern zu tun hat, ist deren Beruf. Wir normalen Menschen brauchen uns nicht damit zu belasten. Wenn etwas Wichtiges zu beachten ist, werden es uns die Priester schon sagen.“
„Das ist ein großer Unterschied zu unserer Einstellung. Jeder aus dem Seevolk muss die heiligen Schriften gelesen haben, bevor er als vollwertiger Matrose akzeptiert wird. Von Offizieren wird noch mehr erwartet.“
„Dann wären Sie in unseren Augen eine Art von seefahrender Priesterschaft“, sagte ich verblüfft.
Wieder lachte er. „Das mag für Sie so scheinen. Wir halten es schlicht für vernünftig, über Gottes Wille Bescheid zu wissen, bevor wir weite Reisen auf dem Meer unternehmen. Sehen Sie sich um: Hunderte Meilen Wasser in allen Richtungen. Nicht einmal eine Insel gibt es in diesem Teil des Ozeans. Hier sind nur wir und Gott. Sollten wir uns da nicht bemühen, ihn möglichst gut zu verstehen?“
Ein Ruf erklang vom Mastkorb, wo in schwindelerregender Höhe ein Matrose stand und den Horizont absuchte - nach Feinden und nach Anzeichen von schlechtem Wetter. Nun hatte er etwas entdeckt. Ich verstand zwar nicht, was er rief, aber Kapitän Marong rannte zu dem Maat am Steuerruder und sagte hektisch einige Worte zu ihm. Dann gab er mit lauter, bellender Stimme Befehle.
Männer und Frauen kletterten die Wanten hoch, holten Segel ein, hissten andere und ermöglichten es so unserer Fregatte, sich mit dem Bug fast gegen die bisherige Fahrtrichtung zu drehen. Das Deck legte sich dabei für einige Momente so schräg, dass alles, was nicht angebunden war, ins Wasser gefallen wäre. So auch ich, hätte mich nicht ein Matrose festgehalten, der wie zufällig neben mir stand. Vermutlich hatte ihm der Kapitän schon vorher ein Zeichen gegeben, auf mich zu achten.
Bemerkenswert war, dass nichts und niemand tatsächlich vom Deck ins Meer rutschte. Die Matrosen, die oben in den Wanten hingen, klebten wie Spinnen in ihrem Netz. Ohne, dass ich es bisher bemerkt hatte, war alles auf dem Schiff für solche Manöver vorbereitet, nichts lag einfach nur herum. Es war ein Kriegsschiff, und es herrschte militärische Ordnung und Disziplin.
Nachdem ich mit Hilfe des Matrosen einen sicheren Platz gefunden hatte, wo ich mich an dicken Seilen festhalten konnte, entdeckte ich den Grund für das abrupte Manöver. Am südlichen Horizont stieg eine Rauchwolke in den Himmel. Hier, mitten auf dem Ozean, konnte das nur ein brennendes Schiff sein. Würde unsere Fregatte dessen Besatzung zu Hilfe eilen oder in einen Kampf eingreifen?
Letzteres schien der Kapitän zu planen, denn mir wurde befohlen, unter Deck zu gehen und meine Kabine vorerst nicht zu verlassen. Der Tonfall des Offiziers, der mir diesen Befehl Bellard Marongs überbrachte, ließ keinen Widerspruch zu, deshalb gehorchte ich. Ich wählte jedoch nicht den direkten Weg, sondern stieg hinab ins Kanonendeck. Die Luken waren offen und Matrosen damit beschäftigt, die schweren Kanonen für einen Kampf vorzubereiten. Ein Maat brüllte mich an, also kehrte ich zurück nach oben und ging in meine Kabine. Durch das kleine Bullauge konnte ich nichts sehen. Aber dafür hörte ich umso mehr. Menschen rannten über Deck, Befehle wurden gebrüllt, Maste und Aufbauten ächzten unter der Belastung schneller Manöver.
Dann herrschte Stille. Für zwei oder drei Minuten, bevor ein gewaltiger Krach mich taub werden ließ. Unsere Kanonen feuerten!
Schließlich kehrte mein Hörvermögen zurück. Ich konzentrierte mich auf laute Rufe, seltsame Geräusche und nachfolgend erneut eine unerwartete Stille. Als ich es nicht mehr länger aushielt, verließ ich die Kabine und ging nach oben.
Alles war wie immer. Matrosen waren auf den Rahen unterwegs, die Offiziere gingen an der Reling entlang und beobachteten das Meer und die Arbeiten an Deck. Kapitän Marong stand beim Steuermann und studierte mit ihm eine Karte.
Ich ging zu den beiden. Als sie ihre Unterhaltung unterbrachen, fragte ich: „Was ist geschehen?“
„Ein Schiff der Kurrether hat einen Frachtsegler aus Ostraia in Brand geschossen und versenkt. Wir haben daraufhin den Kurrether in Stücke geschossen.“ Marong deutete über das Meer. „Dort drüben.“
Einige dunkle Flecke auf der Wasseroberfläche waren alles, was ich sah. So weit entfernt, dass ich nicht erkennen konnte, um was es sich handelte. „Sind das Überlebende?“, fragte ich. „Retten wir sie nicht?“
„Die Kurrether haben die Ostraianer gnadenlos absaufen lassen und dabei zugesehen“, sagte Marong heftig. „Das entspricht nicht dem Verhalten, das wir auf dem Meer erwarten. Selbst unter Kriegsgegnern gilt, dass man Schiffbrüchige rettet. Aber keine Sorge, zwei Beiboote der kurrethischen Viermastbark konnten sich vor dem Untergang vom Wrack lösen.“
„Ist so eine Viermastbark ein großes Schiff?“
Der Kapitän und der Steuermann lachten über meine Frage. „Doppelt so lang wie unsere Fregatte“, antwortete Marong schließlich. „Drei Mal so viele Kanonen und eine entsprechend große Besatzung.“
„Und Sie konnten sie trotzdem versenken - mit einer Salve?“
„Mit der ersten Breitseite, genau. Wer uns ärgert, hat schon verloren.“
Ich wusste, dass das Seevolk sich nicht in den Verteidigungskrieg der Völker gegen die Kurrether einmischte. Aber weshalb eigentlich, wenn sie so überlegen waren? „Warum helfen Sie dann nicht allen anderen Menschen, indem Sie die ganze Flotte der Kurrether versenken und so jeden weiteren Krieg verhindern?“
„Warum ist die Welt rund und überwiegend mit Wasser bedeckt?“, fragte Marong zurück. Er drehte sich um und ging davon.
Ich sah den Steuermann fragend an. Er grinste und schüttelte den Kopf; zu dem Thema wollte auch er nichts sagen. Nach einem weiteren Blick auf die fernen, dunklen Flecken im Meer, die langsam außer Sicht gerieten, fragte ich ihn: „Zwei Rettungsboote, sagte der Kapitän. So weit entfernt vom Land werden sie nicht überleben können, oder?“
„Kurrether sind ein zähes Pack“, antwortete er und spuckte aus; eine Angewohnheit, die alle Besatzungsmitglieder hatten. „Außerdem ist so ein großes Schiff nie alleine unterwegs. Irgendwo weiter im Süden müssen Begleitschiffe sein. Deshalb brauchen wir uns um die Überlebenden nicht zu kümmern.“
In den folgenden Tagen, die ereignislos bei günstigem Wetter verliefen, fiel mir zum ersten Mal auf, wie Bellard Marong mich aushorchte. Es war nicht offensichtlich, denn jeder von uns erzählte Geschichten aus seiner Vergangenheit oder gab Gerüchte und Sagen zum Besten. Ich verbrachte die Abende mit den Offizieren und erfuhr dabei vieles über die Seefahrt und all die Monster und gewaltigen Stürme, die angeblich jeder einzelne hier an Bord schon erlebt hatte.
Doch eines Abends bemerkte ich, wie allgemein alles gehalten war, was die Männer und Frauen des Seevolkes erzählten. Nie gab es etwas Konkretes über ihr Leben, wenn sie nicht auf dem Meer waren, oder über ihre Familien, ihre Herkunft. Ich dagegen berichtete immer freier und offener von dem, was ich in den vergangenen Jahren erlebt hatte. Kapitän Marong vermittelte mir geschickt den Eindruck, er wisse eigentlich über alles Bescheid, was in den Ringlanden, in Ostraia und überhaupt auf der Welt vor sich ging. Ich hatte das Gefühl, er lasse mich nur erzählen, damit ich die anderen unterhielt, nicht damit er etwas Neues erfuhr.
Und doch war es wohl so, dass er vorher kaum etwas darüber gewusst hatte. Über die Gesellschaftsordnung in den Ringlanden und die Gründe, warum viele von uns auswandern wollten. Über unsere Abstammung aus einem Teil der Welt, der nördlich von Ostraia lag. Dass unsere dortigen Vorfahren krankhaft kriegerisch gewesen waren, weshalb man sie zwangsweise in die Ringlande umsiedelte, nachdem es vor vielen Jahrhunderten gelungen war, sie zu besiegen. Über die dort wirksame Magie des Berges Zeuth, die jeden - also auch uns - friedlich und passiv machte. Wie die Kurrether dies ausnutzten, um die Ringlande zu unterwandern und ihren Reichtum an Gold und anderem zu stehlen. Diese Beute half ihnen, ihre Kriege zu finanzieren.
Ich kam bei meinen Erzählungen an den langen Abenden - und unter dem Einfluss des starken Alkohols, den man an Bord gerne trank - auf alles zu sprechen, was Außenstehende eigentlich nicht erfahren sollten. Die Rolle der Priester und Fürsten bei der Planung der heimlichen Auswanderung von jungen, gut ausgebildeten Ringländern. Das Schmuggeln von Kulturgütern und allem, was Fachwissen vermitteln konnte, aus den Ringlanden heraus. Die Wege, die wir nutzten, und die Probleme, mit denen wir uns konfrontiert sahen. Die Hilfe der Ostraianer, die jedoch nicht uneigennützig war. Denn sie zielte darauf ab, den Kurrethern die Ringlande als Quelle für Gold und Waffen abzunehmen und uns wieder zu einem kriegstüchtigen Volk zu machen. In Zukunft sollten wir aktiv in den Kampf für die Freiheit der Welt eingreifen.
Eigentlich erzählte ich ihnen im Laufe der Zeit alles, was ich wusste.
Einige Tage nach der Versenkung des kurrethischen Viermasters wurde ich doch noch in ein Geheimnis meiner Gastgeber eingeweiht. Ich erfuhr etwas, das sie gerne für sich behalten hätten. Kaum war die Sonne über dem Horizont aufgegangen, stand ich gähnend an der Reling und überlegte, wie ich diesen Tag herum bringen konnte. Da schreckten mich aufgeregte Rufe aus dem Mastkorb auf. Sie klangen nicht warnend, sondern erfreut. Trotzdem sorgten sie dafür, dass in kürzester Zeit alle Besatzungsmitglieder an Deck waren. Auch diejenigen, die eigentlich schlafen sollten, weil sie Nachtwache gehabt hatten.
Niemand sagte mir, was los war. Alle sahen angestrengt nach Süden, wie Kinder, die als erste etwas entdecken wollten. Nur der Kapitän runzelte die Stirn, besonders, wenn er mich ansah.
Erneut kam ein Ruf von oben und Bellard Marong kam zu mir - begleitet von zwei kräftigen Matrosen.
„Sie müssen in Ihre Kabine, Herr von Reichenstein!“, sagte er. „Das ist ein Befehl. Sie werden sie erst wieder verlassen, wenn ich es Ihnen erlaube.“
Ich protestierte, aber die beiden Matrosen nahmen mich zwischen sich und eskortierten mich unter Deck. Als ich stehen bleiben wollte, packten sie mich an den Ellenbogen und machten klar, dass sie es ernst meinten.
Wir waren zu diesem Zeitpunkt etwa zweihundert Meilen von unserem Ziel an der Küste entfernt, hatte ich am Abend zuvor gehört. Ich war also noch eine ganze Weile auf den guten Willen meiner Gastgeber angewiesen, deshalb wehrte ich mich nicht. Stattdessen versuchte ich, in den letzten Momenten oben an Deck mitzubekommen, was so wichtig war, dass ich es nicht wissen durfte.
Das Einzige, was ich sah, war ein dunkler Streifen im Süden. Das konnte eine Küste sein, oder aber ein auf dem Meer treibender Algenteppich. So etwas war uns schon früher begegnet und die Fregatte war ausgewichen, um nicht in dem dicken Algengeflecht steckenzubleiben.
Nun also diese Vorfreude auf etwas mir Unbekanntes. Als ich in der Kabine war, drehte das Schiff bereits bei. Die Segel wurden gerefft. Leider zeigte das Bullauge über meinem Bett nun nach Norden, weshalb ich nicht sehen konnte, was auf der anderen Seite geschah. Dann gab es einen Ruck, der durch das Schiff ging, als sei es gegen etwas Festes gestoßen. Freudige Rufe hallten über das Deck.
Ich wagte es, die Tür zu meiner Kabine zu öffnen, aber draußen stand einer der Matrosen und sah mich grimmig an.
„Ich habe Durst“, behauptete ich.
„Später bekommen Sie etwas“, entgegnete er und drückte die Tür zu.
Also blieb mir nichts Anderes übrig, als auf meinem Bett zu liegen und auf die verschiedenen Geräusche zu lauschen, die immer wieder hereindrangen. Und die waren seltsam genug. Das gewohnte Knarzen des Holzes in diesem großen Schiff hatte aufgehört, so als liege es fest vertäut in einem Hafen. Es waren weniger Menschen an Deck unterwegs als sonst, und es wurden keine Befehle mehr gebrüllt. Das Schwanken, das normal war für eine Fahrt auf dem Meer, legte sich. Was mir anfangs sogar unangenehm war. Ich fühlte mich schwindelig, aber das kannte ich von früheren Reisen.
Abends ging die Tür auf und ein Matrose brachte Wasser und Essen. Außerdem nahm er den Nachttopf mit, der die einzige Möglichkeit war, mich zu erleichtern, ohne die Kabine zu verlassen.
Bei dieser Gelegenheit sah ich, dass nun sogar zwei Wachen vor meiner Tür standen, und die blieben während der Nacht dort. Man meinte es also ernst damit, mich von allem fernzuhalten, was draußen vor sich ging. Ich schlief gut und hoffte darauf, bald wieder herauszukommen aus der engen Kabine.
Am Abend des folgenden Tages bekam ich jedoch erneut nur etwas zu Essen und zu Trinken mit dem Hinweis, es könne noch eine ganze Weile so weitergehen. Da ließ ich es mir nicht länger gefallen.
Ich nahm den Wasserkrug, schleuderte ihn zu Boden, wo er zerbrach, und ich warf den Teller mit Braten gegen die Wand. Dabei brüllte ich Flüche, von denen ich einige erst an Bord der Fregatte von den Matrosen gelernt hatte.
Das beeindruckte zunächst niemanden. Meine Wachen schlossen die Tür und man brachte mir nicht einmal Ersatz für das Essen und Trinken. Stattdessen ließ man mir die ganze Nacht Zeit, darüber nachzudenken, dass ich auf die Besatzung des Schiffes angewiesen war und mit Wutausbrüchen gar nichts erreichen würde.
Am folgenden Morgen allerdings kam Bellard Marong persönlich. Er sah sich den Schmutzfleck an der Wand an, der von Braten und Soße geblieben war, die Reste auf dem Boden, die ich in eine Ecke geschoben hatte, und dann mich.
„Das machen Sie selbst im Laufe des Tages weg!“, sagte er. „Nichts Essbares darf auf diesem Schiff einfach so herumliegen. Das lockt Ungeziefer an. Verstanden?“
„Jawohl!“, antwortete ich in einem Tonfall, wie ihn seine Offiziere hören ließen, wenn sie einen seiner unangenehmeren Befehle entgegennahmen. Er hatte natürlich Recht, und ich hatte mich benommen wie ein kleines Kind. Aber immerhin schien es das gewesen zu sein, was ihn hierher gebracht hatte, und das war ein Erfolg. Deshalb fügte ich nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich will an Deck. Wenn ich in der Kabine eingesperrt bleibe, drehe ich durch. Falls ich ein Verbrechen begangen habe, für das Sie mich hier festsetzen - das steht Ihnen zu als Kapitän des Schiffes. Aber zumindest sollten Sie mir sagen, was mir zur Last gelegt wird.“
Auffordernd sah ich ihn an, und er schien zu schwanken zwischen einer Antwort und dem Impuls, einfach zu gehen und die Tür hinter sich zu schließen.
Doch dann überwand er sich, und nickte langsam. „Sie müssen ein vertrauenswürdiger Mensch sein, nach allem, was man mir über Sie berichtet hat. Ein wenig zu redselig für meinen Geschmack, aber vertrauenswürdig. Nun gut, kommen Sie mit. Alles, was Sie sehen und erleben, unterliegt der strengsten Geheimhaltung, verstanden? Falls Sie es ausplaudern, werden wir Ihnen den Mund verschließen.“
Ich ging hinter ihm her an Deck und sah mich um. Es war heller Morgen und die Fregatte lag am Rand einer flachen Insel. Der erste Eindruck war der einer Sandbank, auf der sich eine Schicht Tang ausbreitete. Es gab keine normalen Pflanzen wie Gras, Büsche, Bäume. Insofern sah die Insel unwirtlich aus, nicht wie ein Ort, über den man sich freute. Einige Besatzungsmitglieder waren unterwegs, offenbar, um die Insel zu erkunden.
Warum war das etwas Besonderes? Vielleicht, weil diese Sandbank sich hier mitten im Ozean befand, wo eigentlich nichts sein konnte. Ein Naturphänomen, das die Eintönigkeit der langen Fahrt unterbrach. Das jedenfalls dachte ich, während ich mir die Sache von oben ansah.
Kapitän Marong stand neben mir und wartete auf meine Reaktion, also sagte ich: „Es tut der Besatzung gut, sich mal wieder die Füße zu vertreten. Darf ich auch hinunter? So eine Insel ist eine schöne Abwechslung.“
„Insel? Das ist ein Megatraphon! Fast eine Meile lang und eine halbe breit.“
„Aha!“, machte ich, als interessiere mich das nicht sonderlich.
„Es gibt größere“, ergänzte er fast entschuldigend. „Aber selten in diesen Gewässern. Ein Glücksfall, den wir ausnutzen werden. Ich habe zunächst vier Tage dafür angesetzt, und so lange möchte ich Sie nicht in der Kabine festhalten. Wie Sie schon sagten, Sie haben kein Verbrechen begangen und wir vom Seevolk wissen, was Freiheit bedeutet.“
„Ich bedanke mich“, sagte ich und wartete auf weitere Erklärungen. Als die nicht kamen, zeigte ich auf die Matrosen, die über die weite, glitschige Fläche gingen. „Suchen die nach etwas?“
„Ja. Noch wissen wir nicht, ob wir ihn bereits kennen.“
„Wen?“, fragte ich begriffsstutzig.
„Den Megatraphon. Da wir ihn hier nicht erwartet haben, müssen wir zunächst möglichst viel über ihn herausfinden.“
„Sie reden von der Insel, als sei sie ein Lebewesen.“
„Das ist es. Ein Meerestier, das kaum ein Landbewohner jemals gesehen hat. Und auch nur wenige Schiffsbesatzungen können davon erzählen, weil die meisten die Begegnung nicht überlebt haben.“
„Ist dieses Tier gefährlich?“ Ich beugte mich vor, um zu sehen, ob die Luken der Kanonen an der Bordwand unter uns hochgeklappt waren. Aber sie waren geschlossen, der Kapitän schien keinen Kampf zu erwarten.
„Es vernichtet Schiffe, weil es sie als eine Art Walfische betrachtet. Manche Walarten fressen die Substanz des Megatraphons, von daher ist es verständlich, dass diese Tiere gegen alles etwas haben, das groß ist und im Meer schwimmt. Sie selbst leben von Plankton und anderen kleinen Lebewesen. Sie saugen gewaltige Mengen Meerwasser an und filtern alles Fressbare heraus.“
„Warum wird unsere Fregatte nicht von ihm angegriffen?“
„Das ist eines der Geheimnisse unseres Volkes, das wir niemandem anvertrauen. Nicht einmal Ihnen. Ich sage nur, dass er schon von Ferne erkannt hat, dass wir keine Gefahr darstellen.“
Weit hinten winkte einer der Matrosen mit einer Fahne oder vielleicht auch nur mit seinem Schnupftuch.
„Er hat etwas gefunden“, sagte Marong. „Sehen wir es uns an.“
Man hatte eine Gangway angebracht, die vom Schiff hinunter auf das seltsame Lebewesen führte. So gelangten wir ohne Probleme auf dessen Oberfläche. Sie war glibberig und unter der Algenschicht von etwas bedeckt, das wie dicker Matsch wirkte. Meine Stiefel erzeugten bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch, weshalb ich den Kapitän fragte, ob das Dreck sei oder die Haut des Wesens.
„Modder“, sagte er. „Einige Handspannen tief. Darunter kommt dann die Haut, die noch einmal so dick ist. Den Unterschied muss man kennen, denn den Modder kann man weggraben, aber die Haut ist empfindlich. Sticht man in sie hinein, zum Beispiel mit einem Spaten, so wehrt sich der Megatraphon.“
„Wie macht er das?“, wollte ich wissen. „Hat er ein Maul oder Klauen?“
„Nein, aber Öffnungen in seiner Oberfläche. Er kann weite Poren bilden, in die er Angreifer einschließt. Sie ersticken darin, oder ertrinken, wenn der Megatraphon taucht.“
„Eine unangenehme Vorstellung“, gab ich zu. „Ist so etwas schon passiert?“
„Niemandem vom Seevolk“, behauptete er. „Aber manchmal verwechseln Schiffbrüchige das Tier mit einer Insel und versuchen, zu graben. Man findet dann Jahre später ihre Skelette, wenn sich die Kuhle in der Haut wieder öffnet.“
Das war noch ein Grund, mich unwohl zu fühlen. Nicht nur wegen der Geschichte mit den Schiffbrüchigen, sondern weil dieses gewaltige Tier in der Lage war, zu tauchen.
Marong beruhigte mich. Der Megatraphon sei kein besonders intelligentes Wesen, aber es hatte ohne Zweifel bemerkt, dass ein Schiff des Seevolkes angelegt hatte. Solang das in der Nähe war, würde es an der Wasseroberfläche bleiben.
Wir benötigten eine Viertelstunde, bis wir den Matrosen erreichten, der gewinkt hatte. Nicht nur wegen der Entfernung, sondern weil das Gehen auf diesem Untergrund mühselig war.
Was wir vorfanden, war ein gekentertes Boot, gut zwölf Schritte lang und zwei breit, das mit dem Kiel nach oben dalag.
„Ein Rettungsboot der Viermastbark, die wir versenkt haben“, stellte Marong fest, nachdem er es untersucht hatte. „Vermutlich war es genau über dem Tier, als das aufgetaucht ist.“
„Wo sind dann die Kurrether?“, wollte ich wissen.
„Das habe ich doch schon erklärt“, gab er zurück und wandte sich an den Matrosen. „Keine weiteren Hinweise darauf, ob wir diesen Megatraphon bereits nutzen?“
„Hier nicht, aber im Süden möglicherweise. Es ist ein junges Tier, kaum einhundert Jahre, schätze ich.“
Wir gingen weiter auf eine Gruppe Matrosen zu, die ein paar Hundert Schritte entfernt zusammenstanden und diskutierten.
Als sie ihren Kapitän sahen, traten sie beiseite. Zu ihren Füßen war ein Loch, etwa zwei Handbreit im Durchmesser und so tief, dass ich seinen Boden nicht sehen konnte.
„Sieht aus, als habe hier jemand versucht, eine Höhle anzulegen“, sagte Marong. „Hat aber nicht ganz geklappt. Kann passieren bei so einem jungen Tier. Sucht weiter, vielleicht findet ihr etwas in der Umgebung.“
Die Matrosen gingen in alle Richtungen auseinander, und auch wir bewegten uns langsam und vorsichtig nach Süden voran. Dabei fielen mir nun einige Besonderheiten auf, die zeigten, dass dies wirklich nicht nur eine Sandbank war. Zum einen gab es hier keine Vögel. Ein Stück Land mitten im Meer, über dem keine Möwen kreisten, war eigentlich ein Unding, und doch war es so. Außerdem lebten keine kleinen Tiere in der dicken Algenschicht oder im Matsch darunter. Krabben, Muscheln und anderes, das sich zum Beispiel am Meeresstrand bei Ebbe zeigte. Nur leere Schalen lagen überall herum. Insofern war dies eine ziemlich tote Landschaft, weil es außer dem Tang nichts gab.
„Wonach suchen wir?“, fragte ich.
„Nach dem Einstieg in eine Höhle“, erklärte der Kapitän. „Eine Kuhle wie sie der Megatraphon bildet, um Angreifer darin zu fangen und verenden zu lassen, nur größer. Und vor allem: stabil und wasserdicht. Man kann solche Höhlen als Vorratslager nutzen. Und genau das tun wir vom Seevolk. Riesige, alte Megatraphons sind schwimmende Warenlager, die einem Hafen gleichen in der Menge dessen, was man in ihnen deponieren kann. Leider gibt es sie nicht auf allen Meeren. Sie bevorzugen die kalten Gewässer in der Nähe der Pole. Und natürlich das Orkanmeer, wo ihre eigentliche Heimat ist.“
„Das Orkanmeer kann nicht mit Schiffen befahren werden“, sagte ich. So hatte ich es einmal von O’Praise gehört, dem berühmten Kartenmacher.
„So heißt es“, entgegnete Marong. „Da drüben scheint man etwas gefunden zu haben. Gehen wir hin.“
Matrosen räumten eine dicke Schicht aus Tang beiseite, die ein Loch im Boden verdeckt hatte, das etwa zwei Schritte durchmaß. Diese Öffnung führte nicht senkrecht nach unten, sondern in einem flachen Winkel in das Innere des Megatraphon hinein. Sogar Andeutungen von Stufen gab es, aber sie waren abgerundet und unterschiedlich groß, behinderten also den Abstieg mehr, als dass sie halfen. Als ein Matrose hinunter ging, oder besser, den meisten Teil des Weges rutschte, öffnete sich vor ihm mit schmatzendem Geräusch eine Höhle.
„Eine weite Halle“, rief er zu uns herauf. „Aber zu niedrig, um aufrecht darin zu stehen. Scheint ein Lagerraum für Holz und Takelage zu sein. Trocken und alles ordentlich gestapelt.“
„Anzeichen für Borsten oder Wölbungen?“, fragte Marong.
„Keine.“
Der Kapitän wandte sich zu mir und erklärte: „Wenn wir Gegenstände in einer solchen Körperhöhle lagern, fühlt sich das betreffende Tier manchmal unwohl und sein Organismus beginnt, die Höhle zu schließen. Dann wachsen Borsten darin, so dick wie junge Bäume, oder Boden und Decke beginnen sich aufzuwölben und nach und nach den Hohlraum zu verkleinern, bis er nicht mehr nutzbar ist.“
„Was macht man in so einem Fall?“, wollte ich wissen.
„Das gelagerte Material herausholen und an einer anderen Stelle eine neue Höhle formen.“
„Wenn ich es richtig verstanden habe, befinden sich hier Bauteile, die man für die Reparatur eines Schiffes nutzen kann“, sagte ich. „Es ist praktisch, solche Stützpunkte im Meer zu haben, aber wie findet man sie, wenn man sie benötigt?“
„Die Megatraphons finden uns“, entgegnete er. „Das ist eine lange Geschichte, die Sie nicht zu interessieren braucht. Wir kehren aufs Schiff zurück und warten die Berichte der anderen Suchtrupps ab.“
Am Abend waren die Matrosen wieder an Bord. Sie hatten im Leib des Tieres ein halbes Dutzend großer Lagerräume gefunden, alle gut gefüllt mit Materialien.
Ich hatte inzwischen Zeit, über die seltsame Zusammenarbeit zwischen Megatraphons und dem Seevolk nachzudenken. Wenn dieses riesige Wesen ein junges seiner Art war, so mussten die älteren noch größer sein und Platz bieten für Städte und Werften auf ihrer Oberfläche. Waren sie die unbekannte Heimat des Seevolks - so ungebunden wie sie selbst auf ihren Schiffen?
Marong verneinte, ohne mehr darüber zu sagen.
Ich setzte nach: „Keiner der Matrosen hat von einem Lagerraum mit Vorräten berichtet. Sie wissen schon, Schiffszwieback, Trockenfleisch, Wasserfässer. Alles, was ein Schiff in Notsituationen benötigt. Warum?“
Er sah mich eine Weile schweigend an, entschied sich dann aber, mir mehr zu sagen, als er eigentlich vorgehabt hatte. „Das ist nicht notwendig, weil es keine Rettungsinsel für Notfälle ist, sondern ein Transporter. Diese jungen Megatraphons sind schneller als ältere Tiere. Man kann gewaltige Mengen an Material in ihnen lagern, das sie in alle Weltmeere bringen. Sie freuen sich sogar, wenn man ihnen solche Aufgaben gibt, es ist ein Spiel für sie. Deshalb sind die Lagerräume auch niedriger, als man sie sonst schaffen würde. Der Megatraphon soll nicht zu dick werden, das verlangsamt ihn.“
„Dieser hier transportiert Baumaterial für neue Schiffe“, sagte ich. „Folglich ist das Ziel eine Werft des Seevolks. Wo kommt er her und wohin bringt er das Material?“
„Er kommt von den Inseln des neuen Kaiserreichs, weit im Norden. Wohin er unterwegs ist, werde ich Ihnen nicht sagen. Dass er hier aufgetaucht ist, spricht dafür, dass er eigentlich noch zu jung für so eine Aufgabe ist. Er hat sich gelangweilt und nachgesehen, was an der Wasseroberfläche los ist. Vielleicht hat ihn der Kanonendonner der Schlacht nach oben gelockt. Ich werde ihm signalisieren, dass er wieder abtauchen und sich beeilen soll.“
„Wie machen Sie das?“
„Wie immer“, sagte er, lachte auf und ging davon.
Während die Sonne schon am Horizont stand, wurde die Gangway eingezogen. Als ich am folgenden Morgen wieder an Deck kam, war der Megatraphon verschwunden. Unsere Fregatte hatte Segel gesetzt und traf fünf Tage später in der Nähe eines kleinen Ortes an der Küste südlich von Marlik ein. Dort brachte man mich mit einem Ruderboot heimlich an Land.