Читать книгу Ja, ich habe eine Geliebte in Kaliningrad - Manfred Stuhrmann-Spangenberg - Страница 10
In Kaliningrad kennt jeder den Maestro Arkadi Feldman
ОглавлениеIn Kaliningrad kennt jeder den Maestro Arkadi Feldman. Nun, auf jeden Fall kennen alle kultivierten Menschen den Direktor und Chefdirigenten des Kaliningrader Sinfonieorchesters. Mit großem Vergnügen berichte ich Ihnen, liebe Leser, wie ich Arkadi Feldman kennengelernt habe.
Es war an einem wunderschönen Sommertag im Jahre 2015. Mit meiner Gastgeberin Ludmila nahm ich an einer Ausflugstour in die Rominter Heide teil. Dort besuchten wir am Abend im Dörfchen Krasnolessje ein Freilichtkonzert. Unsere Stimmung war dermaßen gut, dass sie nur schwer zu überbieten war. Es gibt doch wohl kaum etwas Schöneres als einen warmen Sommerabend mit wunderbarer Musik.
Und was für ein charmanter und beeindruckender Dirigent. Zwischen den einzelnen Stücken erläuterte er diese freundlich lächelnd, und dann explodierte er wieder wie ein kleiner Vulkan. Die Musik erklang und Arkadi war ihr Meister. Von Stund an war klar, dass ich meinen Lieblingsdirigenten gefunden hatte.
Eine Woche später wurde in Kaliningrad und in ganz Russland der „Tag Russlands“ gefeiert. Für meine verehrte deutsche Leserschaft: der 12. Juni ist ein ganz besonderer Tag, der russische Nationalfeiertag. Im Hof der Festung „Friedrichsburg“ war alles für das Festtagskonzert vorbereitet. Wieder würden wir ein Konzert unter freiem Himmel erleben.
Da wir uns zuvor noch die Festung anschauen wollten, kamen Ludmila und ich schon sehr früh dort an. Nun, wir waren sogar die allerersten Besucher des Konzerts. Noch kein einziger der im Hof aufgestellten Stühle war besetzt. Und als wir so durch die leeren Reihen schlenderten, kam plötzlich der Dirigent des heutigen Konzertes um die Ecke, der Maestro Arkadi Feldman. Er begrüßte uns freundlich und erinnerte sich zu unserer großen Überraschung sofort daran, uns eine Woche vorher bei seinem Konzert gesehen zu haben. Er sprach auf Russisch mit Ludmila und, nachdem er erfahren hatte, dass ich Deutscher bin, auf Deutsch mit mir. Und was war am allerbesten? Wir fanden sofort eine gemeinsame Sprache!
Wie Sie sich vorstellen können, hatte der Maestro noch mehr zu erledigen als sich nur mit uns zu unterhalten. Denn dann, als wir uns voneinander verabschiedeten, trafen mehr und mehr Musiker und Zuschauer ein. Wie schon eine Woche zuvor war auch der Tag Russlands ein wunderschöner Sommertag. Fantastische Musik und fantastisches Wetter passen einfach zueinander. Kein Wunder, dass das Konzert völlig ausverkauft war.
Natürlich kennt der Maestro den Geschmack und die Erwartungen seiner Zuhörer ganz genau. Deswegen ließ er sein Orchester ein besonders passendes Stück aufführen: die Ouvertüre „1812“ von Tschaikowski. Wer weiß etwa nicht, dass Tschaikowski diese Ouvertüre komponiert hat, um darin den Sieg Russlands in den Napoleonischen Kriegen im Jahre 1812 darzustellen? Und, wie wir ja alle und Wikipedia wissen: „Uraufgeführt wurde sie mit großem Erfolg in der Christ-Erlöser-Kathedrale am 20. August 1882“.
In der Partitur wird sogar ein sehr ungewöhnliches Musikinstrument aufgeführt – eine Kanone. Sicherlich hat es Arkadi Feldman eine schelmische Freude bereitet, hier eine Kanone aufstellen zu lassen. An diesem Tag war der Maestro nicht nur Dirigent, sondern auch Kanonier.
Gott sei Dank hatte der Kanonier Mitleid mit dem Publikum und feuerte keine Kanonenkugel ab. Zu guter Letzt konnten alle Zuhörer unverletzt und zufrieden nach dem Konzert nach Hause fahren.
Jahr für Jahr habe ich seitdem fast keine Gelegenheit ausgelassen, die Konzerte von Arkadi Feldman und seinem Orchester zu besuchen, wenn ich in Kaliningrad war. Nun, wie ich bereits erwähnte: Ich hatte meinen Lieblingsdirigenten gefunden!
Man sagt ja, dass einige Dirigenten sehr arrogant oder cholerisch sind. Doch Arkadi Feldman ist genau das Gegenteil. Dieser Maestro ist hilfsbereit und Sie werden meine Einschätzung teilen, wenn Sie diese Geschichte bis zum Ende lesen.
Mein Freund Matthias, den ich vor einigen Jahren in der Schule „Privet!“ kennenlernte, hatte einen Plan. Sein amerikanischer Freund Jerry Glantz suchte einen passenden Ort für das Projekt „Nacht der Erinnerung an die Opfer des Holocausts“. Das Projekt werde ich gleich noch ausführlicher beschreiben.
Matthias schlug vor, dass Kaliningrad ein sehr geeigneter Ort wäre, da man dort die Erinnerung an die Opfer des Holocausts mit der Verständigung zwischen Russland und den westlichen Ländern verbinden könnte. Denn das Eine wie das Andere spielen eine wichtige Rolle in Matthias´ Leben.
Jerry Glantz stimmte diesem Vorschlag zu. Doch wie ließe sich der Plan realisieren? Vor allem musste man einen einflussreichen Menschen in Kaliningrad finden, um den Plan umzusetzen. Und dieser Mensch sollte Maestro Arkadi Feldman sein! Die kurze Bekanntschaft von Ludmila und mir mit Arkadi Feldman sollte jetzt von Nutzen sein.
Ludmila nahm Kontakt mit Arkadi Feldman auf, und er stimmte einem Treffen mit uns zu. An einem Wochenende im Dezember 2017 fuhr Matthias mit seiner Arbeitskollegin Ute und mir mit dem Auto nach Kaliningrad, wo wir uns im Restaurant „Muschkino“ mit Ludmila und Arkadi Feldman trafen. Matthias hatte eine Partitur von Leib Glantz mitgebracht und zeigte diese dem Maestro. Leib Glantz (1898 – 1964) war einer der herausragendsten Kantoren und Komponisten jüdischer Musik, und außerdem war er der Vater von Jerry Glantz, dem Freund von Matthias. Mit wachsendem Interesse vertiefte sich Arkadi Feldman in die Partitur. Man konnte ihm ansehen, dass er begann, sich ernsthaft für das Projekt zu interessieren.
„Zwischen den einzelnen musikalischen Werken von Glantz sollen Texte von Elie Wiesel über den Holocaust vorgelesen werden“, erläuterte Matthias das Projekt. Der Maestro erkannte sofort, dass es sich bei der Musik von Leib Glantz um eine ungewöhnliche und nicht alltägliche Musik handelte. „Das ist ein sehr großes Projekt“, sagte er, „und kaum durchführbar“, dachte er wahrscheinlich. „Wir können es ja mal versuchen. Auf jeden Fall muss zuerst unbedingt ein Business-Plan aufgestellt werden. Und wer soll das Projekt finanzieren? Denken Sie darüber nach.“ Mit einem Wort: Der Maestro hatte angebissen.
Im Januar 2018 fuhren Matthias und ich wieder nach Kaliningrad. Unterdessen hatte Matthias mit vielen wichtigen Menschen aus Deutschland und den USA Gespräche geführt. Und jetzt schlug die große Stunde von Ludmila. Der „Planungsstab“ traf sich zukünftig in Ludmilas Küche. Ich möchte Sie, verehrte Leserinnen und Leser, nicht mit Details langweilen. Aber könnten Sie sich tatsächlich vorstellen, dass irgendein berühmter Dirigent sich in irgendeine Küche setzt, um dort irgendein Projekt zu beraten?
Das ganze Jahr lang arbeiteten meine Freunde an dem Projekt. Gemeinsam mit vielen anderen fleißigen Helfern waren sie am Ende erfolgreich.
Wer hätte das vor einem Jahr ahnen können? Heute, am 27. Januar 2019, ist der Kaliningrader Dom für die Weltpremiere der „Nacht der Erinnerung an die Opfer des Holocausts“ bis auf den letzten Platz gefüllt.
Was für eine gefühlvolle Stimme, mit der die berühmte Sängerin Tamara Gwerdziteli die bewegenden Texte von Elie Wiesel vorträgt. Der New Yorker Tenor Daniel Mutlu sitzt fast regungslos vor dem Orchester auf der Bühne. Jetzt unterbricht Tamara Gwerdziteli die Lesung und Daniel Mutlu tritt ans Mikrophon. Ein himmlischer Gesang erfüllt den Dom.
Es ist nicht nur Daniel Mutlu: Der staatliche Chor „Vilnius“ aus Litauen, die Moskauer Jüdische-Männer-Kapelle, der Chor des Kaliningrader Musiktheaters, der Kaliningrader Kammerchor „Kyrillisch“ und das Kaliningrader Sinfonieorchester bezaubern mich und die anderen Zuhörer mit ihrer Musik. Mit der Musik von Leib Glantz, die vom amerikanischen Komponisten Joseph Ness arrangiert wurde. Und natürlich ist es der Maestro Arkadi Feldman, der hier auf fabelhafte Art und Weise dirigiert.
Klein von Gestalt, doch ein Mensch mit überwältigender Aura, das ist Arkadi. Immer wieder fällt mein Blick auf den Maestro, wie er voller Energie das Orchester, die Solisten und den Chor dirigiert. Vielen Dank, Arkadi, Sie sind ein wahrer Maestro!
27. Januar 2019 im Königsberger Dom.
12. Juni 2015 im Hof der Festung „Friedrichsburg