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Sergej, der Reiseführer

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Wer einen besonders kundigen Reiseführer für Kaliningrad sucht, der ist mit Sergej Belantschuk bestens bedient. Mit Sergej verbindet mich nicht nur unser fast gleiches Alter und die Nähe der Geburtsorte (Beelitz bei Potsdam bzw. Berlin-Steglitz), sondern auch die Tatsache, dass wir beide unseren Arztberuf irgendwann gegen eine neue Herausforderung eintauschten. Und mit Sergej habe ich in den letzten Jahren auch etliche Touren durch die Kaliningrader Oblast unternommen, da es fast immer Sergej ist, der von meiner Sprachschule „Privet!“ für die Exkursionen der Sprachschüler gebucht wird. Im Mai 2017 traf ich ihn allerdings privat am Abend in seinem Kleinbus, nachdem er gerade von einer 10-stündigen Exkursion nach Kaliningrad zurückgekehrt war. Von dieser Begegnung habe ich in meinem Buch „In und um Russland herum“ berichtet. Sergej war damals zwar müde vom langen Tag, aber so nach und nach redete er sich auf Touren, insbesondere, als unser Gespräch auf das Thema „Russophobie“ zu sprechen kam:

„Diese Russophobie bei Euch ist doch lächerlich. Eure Medien machen Putin für alles verantwortlich, was in der Welt passiert. Wenn irgendwo ein Blitz einschlägt oder jemand stolpert und sich etwas bricht, ist immer Putin schuld.“ Sergej ist natürlich nicht einseitig informiert, er schaut außer russischem auch häufig deutsches oder polnisches Fernsehen. „Die Informationen schwingen wie ein Pendel hin und her, die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte.“

Die politische Eiszeit berührt auch Sergejs Tätigkeit als Reiseführer. „In den 90er Jahren gab es noch ein Tragflächenboot von Elbing nach Kaliningrad, da kamen viele Polen. Jetzt sind es viel weniger“. Meine Frage, ob es denen vielleicht zu gefährlich in Kaliningrad sei, lässt Sergej offensichtlich an meinem Verstand zweifeln. „Gefährlich..., in Polen ist es doch viel gefährlicher als bei uns. Lass dort mal so ein teures Auto wie das da vorne einfach so auf der Straße stehen. Das steht da nicht lange. Hier bei uns gibt es so gut wie keine Diebstähle, auch keine Überfälle. Nein, Kaliningrad ist viel sicherer als Polen. Nur einmal, da hat sich ein Amerikaner eine blutige Nase geholt, der hatte mit Fremden viel Wodka getrunken. Nun, dann hat er Schläge bekommen von irgendwelchen Typen, vielleicht, weil er Amerikaner war.“

Mit Polen gibt es aber keine Probleme, mit Litauern sowieso nicht, die ja alle Russisch sprechen und mit dem Auto kommen und somit keine Kundschaft für Sergej sind. Sergej macht auch Touren nach Litauen und Polen. Dabei fällt auf, dass es in der letzten Zeit gerade an der Grenze zu Polen viele Schikanen gibt.

„Neulich an der Grenze nach Goldap, als nur unser Auto dort war, hat es mehr als anderthalb Stunden gedauert. Früher konnte man dort Scherze machen, ich spreche ja akzentfrei polnisch. Auf die Frage, warum ich so gut Polnisch spräche, habe ich geantwortet, dass ich natürlich ein russischer Spion bin, und alle haben gelacht. Diese Zeiten sind vorbei. Na, statt der Polen kommen jetzt mehr Russen, viele von weit her, Magadan, Wladiwostok, und und und.“

Jetzt, im Herbst 2019, statte ich „Privet!“ einen kurzen Besuch ab und erfahre von der Schweizer Sprachschülerin Ruth, dass sie für den Nachmittag bei Sergej einen Ausflug gebucht hat, der unteranderem nach Kamenka (Friedrichstein) führen soll. Davon mehr im Kapitel „Hier in diesem Schloss wurde am 2. Dezember 1909 Marion Gräfin Dönhoff geboren“. Sergej wundert sich nicht schlecht, dass er spontan noch einen zweiten Passagier bekommt, aber in seinem Kleinbus ist ja auch für mich genug Platz.

Da Ruth zum ersten Mal in Kaliningrad ist, fahren wir von der Schule zuerst einmal ins Stadtzentrum zu der Stelle, wo einst das Königsberger Schloss stand. Das Schloss wurde in der Bombennacht im Sommer 1944 weitestgehend zerstört und die letzten Reste der Schlossruine wurden schließlich 1968 abgerissen. Direkt neben dem Fundament des alten Schlosses wurde dann in den 1970er Jahren das Haus der Räte errichtet.

Angeblich hatte man bei der Sprengung der Schlossruine zu viel Dynamit verwendet, so dass die Reste des Fundaments des Schlosses zerbrachen und der ganze Boden, auf dem das Haus der Räte dann errichtet wurde, so stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, dass sich das noch im Rohbau befindliche Haus der Räte immer weiter in Richtung des Flusses Pregel neigte und schließlich nie bezogen werden konnte. Seitdem gab es schon viele Pläne, was aus der Neubauruine werden soll. Vor allem ging es darum, wer die Kosten für den Abriss übernehmen soll.

Angeblich! Sergej widerspricht dieser in vielen Kaliningrad-Reiseführern verbreiteten Version. „Die Architekten und Statiker der Sowjetunion waren doch keine Stümper. Wenn sich das Gebäude tatsächlich immer weiter zum Pregel geneigt hat, warum steht es denn dann heute immer noch? Und warum gibt es dann jetzt aktuelle Pläne, den Bau doch noch fertigzustellen?“

Sergejs Argumentation ist für mich äußerst plausibel, erklärt allerdings auch nicht, warum das Gebäude zu Sowjetzeiten nie fertiggestellt wurde. Anfang der 1990er Jahre hatte ein Investor die Neubauruine und das ganze Grundstück „für den Preis einer Dreizimmerwohnung“ übernommen, aber jetzt ist die Oblast Kaliningrad im Rahmen eines Grundstückstausches Eigentümerin des Gebäudes und des Grundstückes. Man wird sehen, was hier tatsächlich passieren wird. Neubau oder Abriss.

Auf jeden Fall sehr erfreulich ist die Tatsache, dass die Reste der Fundamente des Westflügels des Schlosses seit einem Jahr nicht mehr hinter einem undurchsichtigen hässlichen Zaun verborgen sind. Jetzt kann man die Ausgrabungsstätte durch einen offenen Zaun von außen besichtigen. „Ich wäre ja dafür, einen Teil des Westflügels wieder aufzubauen, als ein neues Wahrzeichen der Stadt. Aber dagegen gäbe es auch Widerstände in der Stadt.“ Sergej, derartige Diskussionen kennen die Berliner zur Genüge, wenn es um die Rekonstruktion eines Stadtschlosses geht. Das ist ja immer auch eine sehr emotionale Diskussion, die am Ende politisch entschieden wird.

Ja, ich habe eine Geliebte in Kaliningrad

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