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Vorwort

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Am Ende unseres Berufslebens haben wir, Manfred Wolfersdorf und Gerd Laux, uns dazu entschlossen, ein Buch über das zu schreiben, was in den letzten Jahrzehnten der persönliche Schwerpunkt unserer Tätigkeit war und uns bis heute sowohl fachlich als auch persönlich beschäftigt, nämlich über »depressive Erkrankungen« und »depressiv kranke Menschen«.

In nun mehr als 40 Jahren hat jeder von uns über 60.000 depressive Patienten1 ambulant und stationär kennengelernt, untersucht, behandelt und auch über längere Strecken, z. T. über Jahrzehnte hinweg – sozusagen durchs Leben – begleitet. Beide Autoren waren und sind nicht nur in der Akuttherapie, sondern auch in der Langzeitbegleitung depressiv kranker Menschen tätig gewesen und haben so Lebensgeschichten über Jahrzehnte hinweg kennengelernt, begleitet und dabei Erfahrungen über das Leben depressiv kranker Menschen in ihrer Umwelt, ihrer Tätigkeit, hinsichtlich ihrer Person und ihrer persönlichen Perspektive, aber auch ihrer Lebensfähigkeit und Vitalität, ihrer Fähigkeit, sich auf neue Situationen einzustellen, sich mit einer manchmal anhaltenden Erkrankung, mit langfristigen therapeutischen Maßnahmen oder auch mit Veränderungen ihrer Lebenssituation zu arrangieren, gesammelt.

Man kann mit einer Depression oder auch mit wiederkehrenden Depressionen im Leben einen Bauernhof betreiben, eine Familie gründen, Manager, Verkäufer, Politiker, Geschäftsführer einer Firma oder auch Professor werden. Detaillierte Kenntnisse zur Diagnostik und Therapie depressiver Erkrankungen stehen zur Verfügung (siehe S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie »Unipolare Depression«; DGPPN, BÄK, KBV, AWMF et al. 2015). Unsere Kenntnisse über individuelle Ursachen, zu Langzeitverläufen und zur Lebensgestaltung sind andererseits gering.

Unsere Biografien weisen viele Parallelen auf: Tätigkeit in großen Fachkrankenhäusern in Baden-Württemberg (früher Psychiatrische Landeskrankenhäuser, heute Zentren für Psychiatrie genannt), in Universitätskliniken, in bayerischen Bezirkskrankenhäusern und in den dortigen Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und auch in Facharztpraxen. Unsere Wege haben sich vielfältig sowohl thematisch wie auch in der konkreten Arbeit immer wieder getroffen, da unser gemeinsames Interesse ja um das gemeinsame Thema »Depression und depressiv kranke Menschen« kreiste.

Vor 50 Jahren standen Depressionen nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit psychiatrischer Kliniken; stationär wurden vor allem sogenannte endogene Depressionen behandelt, bei entsprechender Schwere und/oder Chronifizierung auch »reaktiv-neurotische Depressionen«. Die Standardregel war jedoch, ein depressiv kranker Mensch geht erst dann in ein regionales Versorgungskrankenhaus, wenn die Schwere der Erkrankung so ausgeprägt und sozial beeinträchtigend ist, dass er in eine übliche psychosomatische Klinik nicht passt, wenn er akut suizidgefährdet ist, wenn er an einer »wahnhaften Depression« (heute depressive Episode mit psychotischen Symptomen) leidet oder auch wenn es keinen Kostenträger für eine zeitlich befristete Behandlung in einer psychosomatischen Klinik in schöner Landschaft gibt. »Reaktive Depressionen« und »neurotische Depressionen« gehören doch nicht in einer Klinik stationär behandelt; mit dieser Argumentation hatte einer der namhaften Ordinarien für Psychiatrie in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein vorgestelltes Forschungsprojekt zur stationären Behandlung gerade dieser Patientengruppen und damit die DFG-Förderung abgeschmettert. Depressionen bei Kindern und Jugendlichen wurden als sehr selten angesehen, in der Alterspsychiatrie war das Thema »Depression im höheren Lebensalter« ebenfalls noch nicht angekommen. Unsere klinischen Alltagserfahrungen in der Behandlung und langfristigen Begleitung depressiver Patienten im stationären Rahmen irritierten uns zunehmend und wiesen auf die Notwendigkeit einer klinikinternen intramuralen Differenzierung von Patientengruppen nach Störungsbildern und damit auf eine »Spezialisierung« (wie es damals genannt wurde in der heißen Diskussion um die »Sektorisierung versus Spezialisierung« nach Vorlage der »Psychiatrie-Enquete« in den 1980er Jahren) hin.

Manfred Wolfersdorf gründete 1976 mit seinem Team am Psychiatrischen Landeskrankenhaus Weissenau die »erste Depressionsstation« in Deutschland, Gerd Laux die zweite im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Weinsberg. Für Ersteren lag der Behandlungsschwerpunkt in der psychodynamisch-tiefenpsychologischen Psychotherapie, fachliches Spezialgebiet wurde die Suizidologie, die Suizidprävention und die Frage, warum Menschen sich das Leben nehmen. Gerd Laux widmete sich der differenzierten Behandlung mit Antidepressiva (einschließlich Infusionstherapien und Therapeutischem Drug Monitoring), von denen neue Generationen von Präparaten in der Entstehung waren. Als Arzt und Psychologe spezialisierte er sich auf die Verkehrsmedizin und -psychologie (Fahrtauglichkeitsuntersuchungen), psychotherapeutisch lag der Schwerpunkt im Bereich (kognitive) Verhaltenstherapie und interpersonell-humanistischer Psychotherapie.

Heute sind Depressionen zur »Volkskrankheit« geworden. Die Beschreibung des Krankheitsbildes und die Definition der diagnostischen Kriterien erfuhr durch die ICD-10 und vor allem durch das Diagnostische und Statistische Manual (DSM-III bis nun DSM-5) der amerikanischen Psychiatrie eine deutliche Erweiterung. »Depressive Störungen« umfassen nun ein großes heterogenes Spektrum, dessen Grenzen unscharf geworden sind. Die unglückliche Festlegung, dass bei Vorliegen einer »depressiven Episode« nach ICD-10 diese als Achse I-Diagnose an erste Stelle gestellt werden müsste, führte bereits vor Jahren zu den kuriosen Auswüchsen, dass in einem Standardversorgungsfachkrankenhaus plötzlich zwei Drittel aller Patienten unter einer F3-Störung litten.

Das Stigma »Ich bin doch nicht verrückt« scheint bei depressiven Störungen am geringsten ausgeprägt zu sein, die Inanspruchnahme von fachlicher Hilfe auch bei leichten oder mittelschweren depressiven Erkrankungen scheint zugenommen zu haben, zumindest hört man dies von niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sowie Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten, bei denen ein gutes Drittel bis manchmal die Hälfte aller Patienten solche mit primären depressiven Erkrankungen sind.

Aktuell besteht eine Diskrepanz (»Gap«) zwischen einer mit hohem Aufwand betriebenen internationalen (Grundlagen-)Forschung einerseits und einer unbefriedigenden Versorgungsrealität anderseits. Trotz immenser Forschungsbemühungen im Feld der Genetik, der Neurobiochemie, der Endokrinologie, der Psychoimmunologie, der Bildgebung und der Psychotraumatologie bleiben die Ursachen auch für Subtypen von Depressionen im hypothetischen Bereich »multifaktorieller und biopsychosozialer Modellvorstellungen«. Es gelang bisher nicht, die Wirksamkeit der ersten trizyklischen Antidepressiva zu verbessern, zerebrale Stimulationsverfahren wie die Transkranielle Magnetstimulation erreichen nicht die Wirksamkeit der in Deutschland immer noch tabuisierten Elektrokrampftherapie. Im Bereich der Psychotherapie wurden in der Nachfolge und z. T. aus den klassischen verhaltenstherapeutischen und tiefenpsychologisch-psychoanalytischen Konzepten störungsspezifische Verfahren für depressiv Kranke entwickelt; so die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), die Interpersonelle Psychotherapie (IPT) und speziell für chronische Depressionen das »Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy« (CBASP). Jüngst hält die sog. »Online-Psychotherapie« (Internet-basierte kognitive Verhaltenstherapie) Einzug in die moderne zeitgemäße Depressionsbehandlung. Die Zahl der Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, der Ärztlichen Psychotherapeuten und insbesondere der Psychologischen Psychotherapeuten in Deutschland hat zugenommen – dennoch bleiben depressive Patienten in manchen Regionen unversorgt und circa 30 % der Depressionen gelten als »therapieresistent« bzw. nehmen einen chronischen Verlauf.

Konzeptuell legen wir ein Buch mit persönlichen Akzenten vor: Einerseits enthält es wissenschaftlich-empirische Fakten im Sinne der evidenzbasierten Medizin (auf den klinischen Alltag bezogen und mit der Einschränkung, dass die Autoren sie so schildern, wie sie auch von ihnen erlebt wird), andererseits erlauben wir uns die Wiedergabe unserer persönlichen Sicht, basierend auf unseren langjährigen praktischen klinischen Erfahrungen. Diese persönlichen Anmerkungen werden im Folgenden durch einen eingefärbten Kasten hervorgehoben. Das große Spektrum depressiver Störungsbilder verdeutlichen wir durch Kasuistiken und damit »Patientenschicksale« aus dem eigenen Erfahrungsbereich, anonymisiert und auf Vignetten zur Darstellung des Wesentlichen reduziert. Vor allem zu den Themenkreisen Häufigkeit und Ursachen von Depressionen erlauben wir uns gesellschaftliche, sozialwissenschaftliche und zeitgeistkritische Überlegungen. Wir hoffen, so etwas Licht in den Nebel der »Allerweltsdiagnose Depression« bringen zu können.

Wir danken dem Kohlhammer Verlag, der sich mit uns auf dieses Projekt eingelassen hat, unseren Sekretärinnen für ihre langjährige Unterstützung und unseren Patienten, die uns lehrten, was es heißt, »depressiv krank« zu sein.

Im September 2021

Manfred Wolfersdorf Bayreuth/HollfeldGerd Laux Soyen/Waldkraiburg/München

1 Im Text wird aus Gründen der Vereinfachung das generische Maskulinum verwendet; gemeint sind immer Frauen und Männer.

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