Читать книгу Streuner - Manuel Charisius - Страница 10

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Nach Téan Hu

Vom Fluss aus hatte man einen guten Überblick, andererseits gaben Wolf und seine Begleiter eine hervorragende Zielscheibe ab. Der Himmel hatte aufgeklart, und im Mondlicht war die Gondel mit den vier Streunern auf dem Wasser gut zu erkennen. Er beobachtete das Ufer. Alles war ruhig und verlassen. Nur einmal glaubte Wolf, in einem schwach beleuchteten Fenster die Umrisse einer Scherenschrecke zu erblicken, die auf das Wasser hinausschaute – doch er konnte sich ebenso gut getäuscht haben.

Die schäbigen Hütten von Kehrdorf waren den prächtigen Villen von Königswald gewichen, einem der westlichsten Stadtteile Tanárs. Hier lebten vor allem reiche und wichtige Bürger der Stadt. Der Fluss verbreiterte sich. Auf der Nordseite leuchteten die Laternen der Uferpromenade von Königswald, deren Bau Jahrzehnte gedauert und Unsummen verschlungen hatte. Falbe steuerte die Gondel ein wenig näher ans Südufer heran. Auf dieser Seite lag Moorhausen, ein ärmlicher, fast nur von Streunern bewohnter Stadtteil, der seinen sumpfigen Untergrund mit Ost-Tanár und seinen Schmutz mit Viertürme gemein hatte.

»Wir müssten bald die Stadtmauer erreichen!«, rief Wolf den anderen zu. »Früher gab es ein riesiges Wehr mit einem Fallgitter. Ich bin einige Jahre nicht hiergewesen, gut möglich, dass die Stelle heute nicht mehr gesichert ist.« »Und wenn doch?«, meldete sich Zilber zu Wort.

»Dann klettern wir.«

Bald darauf endete die Königswalder Uferpromenade, und die Bauten wurden schlichter. Auf der Moorhausener Seite zeigte sich die Stadt inzwischen von ihrer ganzen Hässlichkeit: Die wenigen Hütten, die es noch gab, waren eingestürzt und schienen nicht mehr bewohnt zu sein. Morsche Fensterläden quietschten vor zerbrochenen Scheiben im Wind, und auf herabhängenden Dächern und Simsen wucherten Moos und Flechten. Die Strömung wurde stärker. Sie hatten den Rand von Tanár erreicht. Unmittelbar vor ihnen, vielleicht drei Steinwürfe entfernt, zeichnete sich dunkel die Stadtmauer ab.

»Haltet die Paddel mit der Breitseite ins Wasser«, befahl Wolf. »Falbe, sorg dafür, dass wir in der Flussmitte bleiben! Wir müssen dem Wehr ganz nahe sein.«

»Ich sehe es!«, rief Zilber zurück. »Scheint eingerostet zu sein. Das Gitter steht halb offen!«

Das Wasser riss sie immer schneller mit sich. Nun waren sie noch einen Steinwurf entfernt. Auch Wolf konnte das Wehr nun sehen. Die Stadtmauer endete zu beiden Seiten des Flusses; quer über seine ganze Breite lief eine dicke Welle, die über ein kompliziertes Räderwerk mit einem Fallgitter verbunden war. Früher hatte man die Welle von der Befestigungsanlage aus drehen und damit das Gitter heben oder in den Fluss hinabsenken können.

Die unteren Enden der Stahlstreben zierten rostige Spitzen, die knapp zwei Ellen über der Wasseroberfläche endeten.

»Zieht die Paddel ein!«, schrie Wolf. »Duckt euch, und festhalten!«

Er kauerte sich zusammen, die anderen taten es ihm gleich. Das Fallgitter näherte sich mit abenteuerlicher Geschwindigkeit.

Die Finger fest in die Bootsränder gekrallt, hob Wolf ein wenig den Kopf. Alt und schwarz wie die fauligen Zähne eines riesenhaften Raubtiers ragten die Spitzen hervor – und pfiffen über die Gondel hinweg, ohne Schaden anzurichten. Sie tauchte ein in diesen geöffneten Rachen, und die Stadt spie sie unbeschadet aus. Doch als Wolf schon glaubte, die Gefahr wäre vorüber, kippte die Treibgondel auf einmal vornüber.

»Was ist das?«, rief Falbe erschrocken.

Sie rasten eine mindestens zwei Bogenschuss lange und ziemlich steile Rampe hinunter, die man eigens für den Fluss gebaut hatte. Niemand konnte sie gegen die Strömung erklimmen, weshalb das Fallgitter irgendwann für unnötig befunden und nicht mehr instand gehalten worden war. Die Gondel allerdings war für diese Rampe nicht gemacht und begann, sich in der reißenden Strömung zu drehen.

Als sie endlich wieder in das ebene, tiefere Flussbett eintauchte, ergoss sich eine eisige Bugwelle über Wolf, so dass er das Gefühl hatte, von einem Wasserdrachen verschlungen zu werden. Triefnass schnappte er sich sein Paddel und versuchte mit aller Kraft, den Schwung ihres bedrohlich krängenden Gefährts auszugleichen. Der sich in die Freiheit ergießende Fluss war stärker. Das Paddel wurde ihm aus den Händen gerissen und verschwand in den schäumenden Fluten. Die Gondel bäumte sich auf und bekam gewaltige Schlagseite. Wolf spürte, wie Zilber und Balderdachs sich geistesgegenwärtig mit ihrem ganzen Gewicht auf die obere Bootskante stemmten. Sie kenterten nicht.

Wolf dankte der Mondgöttin für ihre Rettung.

»Falbe!«, rief er dann nach hinten. »Gibt es Ersatzpaddel?« »Nur noch zwei«, lautete die Antwort. »Im Bug, auf der Steuerbordseite.«

»Steuerbord …?«

»… das bedeutet rechts!«

Ein frischer Südwind blies ihnen entgegen. Wolf atmete tief durch. Monatelang hatte er nur Stadtluft in der Nase gehabt; hier draußen dagegen roch es nach feuchter Erde und gefallenen Blättern, nach Baumrinde und frischen Fährten. Wolf hatte ganz vergessen, wie gut ihm dieser Duft nach Wildnis und Abenteuer gefiel.

Auch der Flusslauf wurde rauer, ungebärdiger. Eine Stunde nachdem die vier das Tor von Tanár passiert hatten, war das Gewässer zu einem reißenden Wildbach angeschwollen. Falbe hatte alle Mühe, die für den tiefen, trägen Kanal von Tanár gebaute Gondel auf Kurs zu halten. Immer öfter stießen sie an knapp unterhalb der Wasseroberfläche lauernde Felsen. Die Gondel war stabil und schien einiges auszuhalten, doch das Geruckel war alles andere als angenehm.

»Ich schaffe es nicht mehr!«, rief Falbe schließlich und setzte sich, um nicht beim nächsten Zusammenprall ins Wasser katapultiert zu werden.

Wolf hatte ihn kaum gehört; das Rauschen des Flusses war zu laut geworden. Es sah nicht so aus, als nähmen die Stromschnellen bald ein Ende.

»Gehen wir an Land!«, versuchte Balderdachs das Wasser zu übertönen.

»Unmöglich«, brüllte Wolf zurück. »Die Strömung ist zu stark!« Fast gleichzeitig rief Zilber irgendetwas, das er nicht verstehen konnte. Umsonst bemühte sich Wolf, in der Dunkelheit das Ufer auszumachen. Die Gondel ritt auf den tosenden Wellen wie ein Reiter auf einem zornig bockenden Hengst. Das Wasserrauschen war zu einem ohrenbetäubenden Donnern angeschwollen. Wolf blickte sich um. Zilber hatte die Hände trichterförmig an die Lefzen gelegt und versuchte vergeblich, gegen das Tosen anzubrüllen. Als er Wolfs Blick bemerkte, deutete er mit beiden Armen und aufgerissenen Augen nach vorn. Wolf wandte sich wieder um. Und sah endlich, was Zilber meinte. Vor ihnen, vielleicht noch einen halben Steinwurf entfernt, endete der Fluss. Ein Vorhang aus Gischt und Spritzwasser verhüllte den Blick auf das, was jenseits lag. Ein Wasserfall, ging es ihm auf. Göttin des Mondes beschütze uns!

»Festhalten!«, schrie er aus Leibeskräften und wusste doch, dass die anderen ihn nicht hörten. Er griff nach der Verstrebung am Boden der Gondel und packte zu.

Wie der von einer straffen Bogensehne beschleunigte Pfeil schoss das lange Gefährt über den Rand des Abgrunds hinaus. Ein gewaltiger Schrei entrang sich Wolfs Kehle, als der Bug der Gondel plötzlich in der Luft hing – davor glitzerten im Mondlicht ein paar versprengte Wassertropfen –, dann stürzte die Gondel in die Tiefe.

Das Getöse des Flusses war wie abgerissen. Wolf hörte nur noch sein eigenes Gebrüll, als sich die Gondel im Fallen wieder waagerecht ausbalancierte – und dann nach hinten kippte.

Die trudelnde Gondel verdrehte ihm den Arm. Er ließ los, durchpflügte mit Armen und Beinen die Luft, die ihn nicht tragen wollte … Er erblickte eine auf ihn zurasende schwarze Fläche und davor für Sekundenbruchteile die weiße Gestalt Zilbers, dann riss es ihn im freien Fall herum, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Der sternklare Nachthimmel war das Letzte, was er sah.

Hart war der Einschlag in das schwarze, kalte Wasser. Tief zog es ihn hinab in seine Nacht, die ihn eisig-schwer umfing. Er hatte keine Zeit gehabt, Luft zu holen. Sein eigener Schwung drückte ihn noch nach unten, als seine Lungen längst nach dem nächsten Atemzug verlangten. Dabei stand doch alles in ihm still durch den Anprall gefrorener Nacht, die ihn lähmte, in seine Ohren und Nase drang und ihn zu ersticken drohte.

Er dachte nicht darüber nach. Sein Körper kämpfte von selbst gegen den Sog, ruderte mit ungelenken Schwimmzügen zurück zur Oberfläche, um sein Leben zu retten.

Seine Lungen schienen bersten zu wollen. Er schwamm und schwamm, doch die rettende Grenze war zu fern, als dass er sie jemals erreichen konnte. Er sah den Mond jenseits der Wasseroberfläche, ein Lichtspiel aus Strahlen und Wellen. Er öffnete den Rachen und stieß einen verzweifelten Schrei aus, der ihn seiner letzten Luftreserven beraubte. Und dann – … als sein Körper ihm gerade mit unwiderstehlicher Macht befahl, Wasser zu atmen, fühlte er, wie zwei kräftige Hände seine Unterarme packten und ihn das letzte Stück hinaufzogen. Wolf tat einen gewaltigen Atemzug. Kein Wasser, sondern frische Nachtluft strömte in seine Lungen. Er war an der Oberfläche, spuckte und prustete und rang nach Atem. Dann sah er, dass er sich in unmittelbarer Nähe eines felsigen Ufers befand.

»Du warst ziemlich lange da unten«, sagte Balderdachs, während er ihm vollends aus dem Wasser half. »Aber was ein echter Streuner ist, der ist unverwüstlich, nicht?«

Wolf hatte sich keuchend hin gekauert, um tief durchzuatmen. Er nickte flüchtig. Dann schüttelte er sich die Nässe aus dem Fell und stellte erleichtert fest, dass er seine Waffen nicht verloren hatte.

»Wo sind die anderen?«, wollte er wissen.

Balderdachs deutete auf das gegenüberliegende Flussufer. Falbe winkte herüber. Ein Stück rechts davon ragten ein paar mannshohe Felsnadeln aus dem Fluss. Darüber hing, in zwei Teile geborsten, die Treibgondel. Zilber war damit beschäftigt, seinen Speer und noch ein paar andere Sachen daraus hervorzuholen.

»Beim Großen Fang«, brachte Wolf staunend heraus, »da haben wir aber ein Mordsglück gehabt, was?«

»Lassen wir die anderen nicht warten«, meinte Balderdachs mit einem schiefen Lächeln. »Das heißt, wenn es dir nichts ausmacht, noch einmal baden zu gehen.«

Bei der Überquerung des Flusses entpuppte sich Balderdachs zu Wolfs Überraschung als ausgezeichneter Schwimmer. Die meisten Streuner, die Wolf kannte, waren wasserscheu. Lúpa zum Beispiel.

Und Graubart – als er noch lebte, fügte er in Gedanken hinzu. Mit vereinten Kräften lösten sie das Wrack ihres Gefährts von den Felsen und versenkten es am Fuße des Wasserfalls. Dann kehrten sie dem Fluss den Rücken, um einen geeigneten Lagerplatz zu suchen. Wolf war klar, dass sie alle eine Rast bitter nötig hatten und ihre Reise erst am nächsten Morgen würden fortsetzen können. Wenigstens schien es in der Nähe genügend Spalten und Höhlen zu geben. Jetzt galt es nur, einen einigermaßen geräumigen und trockenen Unterschlupf zu finden. Es dauerte nicht lange, da deutete Zilber auf eine etwa schulterbreite Öffnung, die Wolf fast übersehen hätte.

»Zu klein«, winkte er ab, während er vergeblich versuchte, in der stockfinsteren Höhle etwas zu erkennen.

»Glaube ich nicht«, widersprach Zilber. »Wartet hier.« Er warf seine Habseligkeiten zu Boden und eilte auf den Eingang zu.

Wolf folgte ihm in gebührendem Abstand. Dem scharfen Geruch nach zu urteilen, konnte die Höhle durchaus bewohnt sein. Es wunderte ihn nicht, als plötzlich wütendes Schnaufen und Scharren daraus hervordrang. Er hörte, dass Zilber zum Eingang zurücklief.

Mit einem Satz sprang der weiße Streuner aus der Höhle, packte seinen Speer und flog herum. Alarmiert zog Wolf sein Schwert. »Lass ihn«, sagte Balderdachs beschwichtigend. »Er mag es nicht, wenn man ihm bei der Jagd in die Quere kommt.«

Wolf konnte ein erschrecktes Keuchen nicht unterdrücken, als aus dem Höhleneingang ein ausgewachsenes Wildschwein galoppiert kam – ein junger Keiler, den Zilber aufgeschreckt haben musste.

»Komm nur«, neckte ihn Zilber in flachem, erhitztem Ton. Er stupste das rasende Tier mit dem Speer an der Schulter an, so dass es einen Satz zur Seite machte. Im nächsten Augenblick traf die flache Seite der Speerspitze hart seine Vorderläufe. Der Keiler knickte ein, und Zilber stieß zu. Mit gedämpftem Knirschen brach die Waffe durch die Rippen seiner Beute.

Kraftvoll richtete Zilber den Speer senkrecht aus und schraubte ihn ruckartig in das tödlich getroffene Wildschwein hinein. Blut quoll dem Tier in regelmäßigen Stößen aus der klaffenden Wunde. Seine Augen brachen.

Zilber drehte sich zu seinen Freunden um, riss den Rachen auf und fauchte triumphierend. Balderdachs eilte an seine Seite. »Gut gemacht, mein Freund! Jetzt haben wir schon mal etwas zu essen. Aber kann man in dieser Höhle auch wohnen?« »Eine Nacht lang werden wir es aushalten«, meinte Wolf achselzuckend.

Sie begannen sofort mit den Übernachtungsvorbereitungen.

Während Zilber mit einem Messer aus dem Boot das erlegte

Wildschwein abbalgte, sammelte Falbe Feuerholz.

Balderdachs und Wolf nahmen die Höhle näher in Augenschein.

Der Untergrund war felsig und sauber – bis auf einige Hinterlassenschaften ihres vorherigen Bewohners, die sie mit einem trockenen Zweig nach draußen fegten.

»Ah, hier haben wir das Beste«, sagte Zilber, als sie wieder ins Freie traten. In Windeseile hatte er das Wildschwein zerlegt und hielt Wolf nun eine dampfende braune Masse entgegen. »Die Leber. Willst du sie?«

Wolf schüttelte den Kopf. »Wir brauchen ein Feuer.«

»Na gut«, murmelte Zilber, dessen Fell von oben bis unten blutbefleckt war. Gierig schlug er seine Fänge in die Wildschweinleber und riss ein großes Stück heraus. »Aber glaub mir, du verpasst was!« Blut rann ihm aus beiden Mundwinkeln und sickerte in seinen Pelz.

Wolf nahm Balderdachs ein Stück zur Seite und flüsterte: »Einen merkwürdigen Freund hast du da. Man könnte glauben, dass er das gern tut!«

Balderdachs grinste.

»Sei doch froh, dass er dir die Arbeit abnimmt.«

Wolf nickte. Sie kehrten zur Höhle zurück. Falbe war ebenfalls wieder da. Ein Bündel Reisig hing ihm über der Schulter.

»Ich habe eine Quelle entdeckt«, verkündete er stolz, »ungefähr zwei Steinwürfe weiter nördlich.«

Während Zilber das Lager verließ, um sich den Pelz zu säubern, schichteten die anderen das Reisig vor dem Höhleneingang auf. »Ich zünde es an«, sagte Balderdachs.

»Hast du Feuersteine?«, fragte Wolf erstaunt.

»Wart′s ab«, erwiderte der Gestreifte geheimnisvoll. Er legte die Fingerkuppen aneinander, wobei die Daumen sein Kinn berührten, murmelte eine beschwörende Formel, die ungefähr wie Sháze Rakhan Pokh klang, und ließ dann beide Hände auseinanderschnellen. Zwischen seinen Handtellern blitzte ein blauer Funke auf, fuhr in den Reisighaufen – und erlosch. Wolf zuckte zurück. Nur ein dünner Rauchfaden kräuselte sich über der Feuerstelle. Balderdachs versuchte es mit lauterer Stimme noch einmal. Der Funke kam erneut zum Vorschein, und diesmal mit Erfolg: Das ganze Reisig fing auf einen Schlag Feuer. Prasselnd loderten die Flammen in den dunklen Nachthimmel.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte Wolf entgeistert.

»Ich stamme aus Orilac, schon vergessen?« Grinsend schob Balderdachs ein paar abstehende Zweige zurecht. »Der Stadt der Magie! Eigentlich bin ich im Zaubern ziemlich unbegabt, aber ein altes Ratsmitglied hat mir vor Jahren ein paar Kleinigkeiten beigebracht. Das hier war nur ein einfacher Blitzzauber. Einfach, aber nützlich.« Er streckte die Hände zum Feuer hin aus. »Setzt euch, es wird Zeit, dass wir endlich wieder trocken werden.«

»Ihr drei seid für manche Überraschung gut«, bemerkte Wolf mit verblüfftem Kopfschütteln. »Ich bin gespannt, was als Nächstes kommt.«

Wenig später brutzelte die erste Keule über dem Feuer. Es zischte, wann immer Fett in die Flammen tropfte, und ein überaus köstlicher Duft ließ Wolf das Wasser zwischen den Zähnen zusammenlaufen.

»Du warst schon immer ein guter Jäger«, lobte Balderdachs seinen Freund.

»Von Kindesbeinen an«, nickte Zilber. »Ich weiß noch genau, wie ich meinen ersten Hirsch erlegt habe. Ich war noch ziemlich klein.« Langsam veränderte er den Winkel des Speers, an dessen Ende das Fleisch wie an einer Angel über den Flammen hing. »Als ich meine beiden älteren Brüder zu dem Kadaver führte, wollten sie ihn vor unserem Vater als ihre eigene Beute ausgeben. Auf meine erste erfolgreiche Jagd folgte deshalb mein erster siegreicher Kampf.«

Falbe gluckste vergnügt, doch Zilber sprach umso ernster weiter.

»Meine Brüder gaben erst auf, als ich jedem von ihnen mehrere Zähne ausgeschlagen hatte. Ich trug eine blutige Nase und einen ausgekugelten Arm davon. Und natürlich den Hirsch.«

»Ich bin froh, dass wir dich haben«, sagte Wolf. »Du bist stark und mutig, das ist mir schon im Heulenden Elend aufgefallen. Genau so übrigens, dass du besser im Dunkeln sehen kannst als wir alle zusammen.«

Zilber hob ruckartig den Kopf und fixierte ihn mit einem Ausdruck zorniger Überraschung. In seinen hellen Augen spiegelte sich der Widerschein der Flammen, und für einen Moment sah er unbändig wütend aus.

»Das tust du doch, oder nicht?«, hakte Wolf nach.

»Als ich ungefähr vierzehn war«, erwiderte Zilber langsam und schaute in die zucken den Flammen, »fiel ich einem der wenigen Schwarzmagier in die Hände, die es damals in Orilac noch gab, bevor der Rat sie alle gefunden und unschädlich gemacht hat.

Ich folgte der Spur eines Luchses, der vor mir in eine abgelegene Höhle geflüchtet war. In dieser Höhle allerdings hauste der Hexer. Ihm war es nur recht, dass ich ihm in die Falle lief. Er hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, jemanden aus der Stadt für sein nächstes Experiment herzulocken. Er sagte, er wolle mir eine Gabe verleihen, die mein Leben verändern würde. Ich versuchte zu fliehen, weil ich Geschichten gehört hatte von anderen, die von Schwarzmagiern verhext worden waren und schreckliche Wunden davongetragen hatten – platzende Beulen, aus denen Spinnen herauskamen, verfaulende Arme und Beine, solche Sachen eben. Aber der Magier lähmte mich, bevor ich auch nur drei Schritte getan hatte. Dann sprach er eine kurze Formel und wedelte mit den Fingern vor meiner Nase herum. Ein blauer Blitz schlug in meinen Kopf ein. Es tat nicht weh, und ich verfaulte auch nicht, aber ich erschrak ganz gewaltig. Der Zauberer löschte die Fackeln in seiner Höhle. Eigentlich hätte es nun stockdunkel sein müssen. Für mich allerdings war die Höhle in ein bläuliches Licht getaucht. Der Magier vollführte komische Gesten und befahl mir zu beschreiben, was er tat. Da ich ihm alles genau sagen konnte, war sein Experiment geglückt, und er ließ mich wenig später gehen. Ich allerdings hatte einen teuren Preis dafür gezahlt.« Zilber hielt inne und blickte an sich hinunter.

»Früher, vor diesem Experiment, war mein Fell grau und braun. Gestreift, um genau zu sein, und damit ideal für einen Jäger. Jetzt kann ich zwar im Dunkeln sehen, aber dank dieses Schwarzmagiers – verflucht soll er sein! – werde auch ich im Dunkeln gesehen, und zwar von jedem Lebewesen. Auch von meiner Beute.«

Für eine Weile war nur das Knacken der Zweige im Feuer zu hören. Der unter gehende Mond leuchtete zwischen ein paar Baumwipfeln hervor und tauchte den weißen Streuner in sein schwächer werdendes Licht.

»Jetzt siehst du aus wie der Gott Soŋurd«, flüsterte Falbe ehrfürchtig. »Der hatte auch so ein weißes Fell … bevor Gurlóki es ihm …«

»Mit Liedern und Göttern hab ich nicht viel zu schaffen, Kleiner«, fiel ihm Zilber ins Wort. »Und den möchte ich sehen, der versucht, mir mein Fell zu rauben. Gurlóki hätte bei mir ziemlich schlechte Karten.« Er lachte hart.

»Hat man den Schwarzmagier für die Verzauberung belangt?«, fragte Wolf nach einer Pause.

»Das, was von ihm übrig war, wurde später unweit der Höhle gefunden. Die Magier des Rates stellten zweifelsfrei fest, dass es sich dabei um ihn handelte. Er hatte einen neuartigen Schwebezauber an sich selbst ausprobieren wollen und wurde dabei in der Luft zerrissen.« Zufrieden kratzte Zilber an seinem rechten Eckzahn herum. »Ihr könnt euch ja denken, wer dafür gesorgt hat, dass sein letztes Experiment so gründlich danebenging.«

Balderdachs lachte. »Jedenfalls bist du ein unschlagbarer Jäger, ob dein Fell nun weiß ist oder gestreift.«

Zilber grinste ihn mit halb zusammengekniffenen Augen an und schwieg.

»Konnte kein anderer Magier diesen Zauber rückgängig machen?«, wollte Falbe neugierig wissen.

Zilber wurde ernst und ließ ein kehliges Rollen hören.

»Hättest du an meiner Stelle gewollt, dass man weiter an dir herumpfuscht? Nein, ich hatte meine Rache. Das war mir das Wichtigste … Wie mir scheint, können wir essen.« Er zog den Speer zu sich heran, löste die Keule von der Spitze und teilte sie unter ihnen auf, wobei er Wolf das größte Stück und Falbe lediglich Knochen, Knorpel und Haut gab.

Wolf schlang den ersten Bissen hinunter. Das Fleisch des Wildschweins war saftig und von rauchigem Aroma.

»Erzähl von dir«, forderte Balderdachs ihn kauend auf. »Was wollten die Kerle im Heulenden Elend von dir? Was hat es mit dem Frieden der Sieben Reiche auf sich? Und warum sind wir jetzt unterwegs?«

Wolf hielt inne, griff in seine Hosentasche und zog die Feder heraus, die er in Graubarts Hütte gefunden hatte.

»Das hier habe ich von einer Waffe, die in der Brust meines Nachbarn steckte«, sagte er und wunderte sich selbst über die leere Kälte in seiner Stimme. »Genauer gesagt, steckte ein Speer in ihm – einer, der genauso aussah wie deiner.« Sein Blick fiel auf Zilber. »Sie haben Graubart nur ermordet, weil sie mich nicht vorgefunden haben. Außerdem haben sie mit seinem Blut eine Drohung an meinen Spiegel geschmiert und meine Hütte dem Erdboden gleichgemacht.«

Letzteres war übertrieben, doch Wolf sah keinen Grund, irgendetwas zurückzunehmen.

Auch Zilber legte nun sein Essen beiseite, schleckte sich das Bratenfett von den Lefzen und griff nach dem Speer, an dessen Ende ein weiteres großes Stück Fleisch brutzelte.

»Diesen Bratspieß hier habe ich aus dem Heulenden Elend – ob du′s glaubst oder nicht. Einer der Vermummten hat ihn nach dir geschleudert und dich eigentlich nur deshalb verfehlt, weil ich dir im selben Moment ein Bein gestellt habe. Ich konnte dich ja sehen, selbst nachdem du die Lampe zerdeppert hattest.«

»Verstehe«, sagte Wolf, dem endlich vieles klar wurde. Er glaubte sich sogar an das Geräusch erinnern zu können, als der Speer in die Wand eingeschlagen war. »Du hast vermutlich auch gesehen, wer mich angreifen wollte?«

»Ein Mensch. Er hatte seine Kapuze herunter gezogen, und sein Schwert war nur noch zwei Fingerbreit von deiner Kehle entfernt, als du dich endlich gewehrt hast.«

Wolf nickte. Er erinnerte sich daran, ziellos mit einem seiner Saï ins Dunkle gestochen zu haben.

»Wo habe ich ihn getroffen?«

»Das willst du nicht wissen«, gab Zilber zurück. »Aber glaub mir, selbst ich hätte ihn nicht besser erwischen können. Du hättest allerdings ruhig ein wenig kräftiger zustoßen können. So hast du ihn wahrscheinlich nur wütend gemacht.« Er lachte kehlig.

»Oh, beim nächsten Mal mache ich ihn traurig, du wirst sehen«, konterte Wolf.

»Aber wie kam es überhaupt zu dieser Todesdrohung?«, hakte Balderdachs ein. »Bei irgendjemandem musst du dich ganz schön unbeliebt gemacht haben, oder?«

»Das ist eine lange Geschichte.« Wolf blickte auffordernd in die Runde. »Wollt ihr sie wirklich hören? Sie beginnt an dem Abend, als ihr mich im Heulenden Elend zu einem Trinkspiel mit Starkbier provoziert habt.«

»Was du nicht sagst!«, tönte es ihm aus drei Kehlen gleichzeitig entgegen.

»Erzähl«, drängte Falbe, der sich auf den Bauch gelegt und das Kinn in beide Hände gestützt hatte. Schwanz und Ohren des Jungstreuners ragten steil nach oben.

»Nun schieß endlich los«, murmelte Balderdachs hinter einem gekünstelten Gähnen, kratzte sich wohlig am Bauch und genehmigte sich ein weiteres Stück Wildschweinrücken.

Zilber nickte schweigend.

»Ich habe das Spiel verloren, wie ihr wisst«, fing Wolf an, und dann erzählte er die ganze Geschichte – wie er die Untergebenen des Schnitters belauscht und danach in der Goldenen Scheune gesessen und dank zu vielen Branntweins einer Scherenschrecke möglicherweise Geheimes anvertraut hatte; wie ihm nicht einmal sein Mädchen, die Streunerin Lúpa, glauben wollte, dass sich über dem ganzen Land Gefahr zusammenbraute; wie er beschloss, den König der Mitte vor dem Komplott zu warnen, und wie General Várun ihn des Palasts verwies; wie er nach Hause zurückgekehrt und seine Hütte in Trümmern vorgefunden und wie er beschlossen hatte, die Scherenschrecke ausfindig zu machen, um sie auszuquetschen.

»Ihr seid mir kurz nach Vulkhans Waffenschmiede sozusagen dazwischengekommen«, schloss er, »aber vielleicht ist das auch ganz gut so. Ich meine, wenn ich dieser verfluchten Scherenschrecke irgendetwas über die Pläne des Schnitters gesagt habe und sie ihr Wissen weitergegeben hat, dann wird sie jetzt wohl kaum in Axthill auf mich warten. Nur … ich wäre gern sichergegangen, was Rikkulins Verbindung zu dem Schnitter und seinen Leuten betrifft.« Wolf starrte ins Feuer. Er spürte deutlich, dass Balderdachs den Blick unverwandt auf ihn gerichtet hielt. Lange durchbrach nichts als das gelegentliche Zischen und Knacken des brennenden Reisigs die nächtliche Stille.

»Dachte ich′s mir doch – du bist auf der Flucht«, stellte Zilber schließlich fest. »Wie feige.«

»Du bist beides nicht weniger«, knurrte Wolf verärgert.

»Ich habe wenigstens gekämpft.«

»Und getötet, aber nur aus purer Lust daran!«

»Sag das nochmal!« Zilber hatte die Zähne gebleckt, bereit,

den Streit mit Wolf kämpfend auszutragen.

»Hört schon auf, ihr zwei!« Balderdachs ging in die Hocke. »Was ist in euch gefahren? Wir sind nicht zusammen aus Tanár geflohen, um uns gegenseitig abzumurksen. Wir haben alle gekämpft. Wir müssen weiterhin zusammenhalten – gegen die Vermummten! Kapiert?«

Wolf wollte sich langsam erheben, doch Balderdachs stand im selben Moment auf, und so fühlte er sich dazu genötigt, hastig aufzuspringen. Er war der Anführer.

»Mir hast du überhaupt nichts zu sagen!«, herrschte er den Gestreiften an. »Aber danke, dass du deine Freunde zurückpfeifst. Sie sind ziemliche Hitzköpfe, weißt du?«

»So?« Zilber war nun ebenfalls auf den Füßen, während der Jungstreuner noch seinen ratlosen Blick zwischen ihnen hin und her schweifen ließ.

»Ja, Zilber. Ich wiederhole mich gerne: Du hast aus reiner Lust am Töten …«

»Hör auf, Wolf! Du bist ihm nicht gewachsen!«

Wolf wandte sich wieder Balderdachs zu. Er wusste nicht, was die Flamme der Wut in ihm höher lodern ließ – die Tatsache, dass er ihm ins Wort gefallen war, oder die Bemerkung an sich. »Wenn ich hier etwas klarstelle«, fauchte er unbeherrscht, »dann hast du so lange dein verfluchtes Maul zu halten und dich nicht einzumischen wie ein schnippisches Waschweib! Geht das in deinen gestreiften Schädel, ja oder nein?«

Balderdachs stellte sich breitbeinig hin, ballte die Fäuste und presste mit gesträubtem Nackenfell seine Antwort heraus.

»Scheinbar hast du schon vergessen, Wolf Feigling von Tanár, dass ich dich vorhin vor dem Ertrinken gerettet habe.

Vielleicht war das ja ein Fehler. Vielleicht hätte ich dich absaufen lassen sollen wie einen räudigen Hund …«

»SCHLUSS!«, schrie jemand mit sich überschlagender Stimme. Schluss! Schluss, Schluss …, tönte das schwächer werdende Echo durch das ganze Tal.

Falbe stand mit erhobenen Fäusten und drohend aufgerissenem Rachen vor ihnen. Er schien sie alle zu überragen. Mit einem Anflug von Scham wurde sich Wolf bewusst, dass er sich geduckt und die Ohren angelegt hatte. Seit wann ließ er sich von einem Schwächling wie Falbe einschüchtern? Es war ein schwacher Trost zu sehen, dass es Zilber und Balderdachs nicht anders ging.

»Setzt euch … sofort … wieder hin«, flüsterte Falbe heiser.

Sie gehorchten. Der Jungstreuner nahm als Letzter wieder Platz. Eine Weile herrschte Schweigen.

»Wir sind wohl alle ein wenig … erhitzt«, murmelte Zilber schließlich. »Ist aber auch ein verdammt großer Ärger, in den wir da geraten sind. Wolf, ich …« Er blickte kaum auf. »… es war ein Fehler von mir zu sagen, du seist feige.«

»Und ich bin …« Balderdachs brach ab. »Ach, was soll′s«, gähnte er. »Ich hätte dich in jedem Fall gerettet, und das weißt du auch. Eins wüsste ich aber trotzdem gern. In Tanár mussten wir uns gemeinsam den Fluchtweg freikämpfen – was schon Grund genug ist, bei dir zu bleiben. Schließlich will ich wissen, wie das Ganze ausgeht. Also halten wir zu dir, aber …«

»Natürlich«, sagte Falbe eifrig.

Zilber nickte.

»… aber es wäre nur recht und billig, dass du uns wissen lässt, wohin die Reise gehen soll.«

Wolf blickte nach Westen, in Richtung des vor einer Weile untergegangenen Mondes.

»Und zwar jetzt sofort!«, insistierte Balderdachs.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Wolf knapp.

»Wie, du weißt es nicht?«

»Du hast mich schon verstanden.«

»Aber irgendwohin müssen wir doch gehen«, sagte Falbe ratlos.

»Zuerst dachte ich, wir könnten in irgendeinem Dorf Unterschlupf finden«, log Wolf. In Wirklichkeit sprach er nur laut aus, was ihm spontan einfiel. »Wir könnten irgendwann in die Stadt zurückgehen und versuchen, mehr über den Schnitter herauszufinden. Oder ich gehe noch einmal zu General Várun und sage ihm, wie ernst die Lage wirklich ist …« Er unterbrach sich, weil er Balderdachs′ entgeisterte Miene bemerkte.

»Was ist?«

»Unterschlupf! In einem Dorf!« Der beißende Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Und irgendwann zurück nach Tanár …«

Für Sekundenbruchteile war es still. Dann brachen Balderdachs, Zilber und Falbe gleichzeitig in johlendes Gelächter aus.

»Schon gut«, murmelte Wolf. »Ist ja schon gut!«, rief er ein wenig lauter und ohne seinen Unwillen zu verbergen.

»Köstlich«, prustete Balderdachs und beruhigte sich mühsam.

»In ein Dorf!«

»Schlag doch selber was vor«, beeilte sich Wolf zu fordern, damit die anderen nicht wieder loslachten.

»Ich weiß längst, was wir machen!«, verkündete Balderdachs mit funkelnden Augen. Wie beim Feuermachen legte er die Hände vor dem Kinn gegeneinander. »Wir gehen natürlich nach Westen, genauer gesagt …« Er murmelte etwas Unverständliches – und schleuderte die Arme auseinander.

Ein Funke schoss in den Nachthimmel, schien dort zu bersten und wie Regentropfen herabzufallen. Der Funkenregen bildete die leuchtende Silhouette einer Stadt unterhalb eines Felsplateaus, auf dem ein riesiger Palast thronte.

»… nach Téan Hu!«

Streuner

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