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Einsame Reise

Er erwachte aus unruhigem Schlummer. Durch den Höhleneingang sickerte das fahle Licht der Morgendämmerung. Kühle Nebelschwaden zogen draußen vorbei. Die Glut des heruntergebrannten Feuers verbreitete nur noch schwache Wärme. Wolf stand auf und streckte sich. Die ganze Nacht über hatte er versucht, eine bequeme Lage zu finden. Sein Rücken fühlte sich zerschlagen an. Doch nicht nur der harte Untergrund war schuld daran, dass er in der Nacht kaum ein Auge zugetan hatte, sondern auch unerträglicher Lärm. Zilber lag, Arme und Beine weit von sich gestreckt, auf dem Rücken. Sein Rachen stand offen, die Zunge hing zur Seite heraus, und er schien ganze Wälder kahlsägen zu wollen. Woran vielleicht auch Balderdachs schuld war, der, den massigen Schädel auf den Bauch seines Freundes gebettet, ebenfalls fest schlief. Wolf musste lächeln. In seltsam friedlicher, fast zärtlicher Eintracht ruhten sie da, die beiden rauen Gesellen. Ihr Anblick stimmte ihn wehmütig.

Wie mochte es Lúpa gehen? Schon jetzt vermisste er sie.

Hoffentlich war sie nicht zu wütend über den Schuldschein. Er durfte nicht vergessen, im nächsten Dorf eine Nachricht für sie aufzugeben. Hätte er sich doch nur von ihr verabschieden können! Er hoffte, sie würde drohende Gefahr rechtzeitig erkennen und sich notfalls verstecken. Andererseits nahmen die vermummten Gestalten vermutlich eher ihn ins Visier. Dieser Gedanke beruhigte ihn – zumindest was Lúpa betraf.

Vor dem Höhleneingang saß Falbe.

»Ich habe Wache gehalten«, raunte der Jungstreuner. »Fast die ganze Nacht. Kein Moment des Tages ist schöner als die Morgendämmerung, findest du nicht auch?« Er seufzte leise.

»Wären wir nicht hier unten im Schatten, würde ich jetzt die Sonne aufgehen sehen. Ich wünschte, ich könnte auf das Felsplateau hinauffliegen.«

»Such dir lieber ein Mädchen«, sagte Wolf trocken. »Dann hast du morgens Besseres zu tun, als den Sonnenaufgang anzuglotzen.«

Er wandte sich ab und ging zur Quelle, um seinen Durst zu löschen. Das Wasser war kristallklar und hatte einen frischen, lebendigen Geschmack. Als Wolf zum Lager zurückkehrte, waren Balderdachs und Zilber wach. Letzterer bereitete das Frühstück vor – kalten Wildschweinbraten vom Vorabend.

»Wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen«, sagte Wolf, während sie sich dem Essen widmeten. »Wer weiß, wie groß unser Vorsprung noch ist.«

»Wie viele Leute uns dieser Schnitter wohl auf den Pelz hetzen wird?«, überlegte Falbe gedankenverloren. »Wenn sie überhaupt gemerkt haben, dass wir über den Fluss entkommen sind.«

»Jede Wette, dass sie es gemerkt haben«, meinte Zilber.

»Vielleicht haben sie uns sogar absichtlich entkommen lassen, um uns in der Wildnis zu überraschen. Das Heulende Elend zu stürmen hat sowieso schon viel zu viel Aufsehen erregt.«

Grübelnd kaute er auf einem Stück Knorpel herum.

»Bestimmt haben sie unsere Spur verloren«, winkte Balderdachs ab. »Wir können überall an Land gegangen sein. Der Felsabsturz zieht sich übrigens etwa zwanzig Meilen quer durch das Land. Unsere Verfolger werden einen ziemlich langen Umweg auf sich nehmen müssen, wenn sie zu feige sind, wie wir den Wasserfall hinunterzuspringen.«

»Woher weißt du das?«, fragte Wolf.

»Ich habe vor Jahren verschiedene Karten von Lesh-Tanár studiert. Das Gebiet südwestlich von Tanár, wo wir uns jetzt befinden, ist unwirtlich und kaum bewohnt. Die meisten Dörfer liegen in der Nähe der Straße zwischen Tanár und Téan Hu. Aber die verläuft um einiges weiter nördlich.«

»Was heißt das für uns?«

»Wir sollten nicht weiter am Fluss entlanggehen, denn das brächte uns zu weit nach Süden. Die Straße ist zu gefährlich.

Also bleibt uns keine andere Wahl«, Balderdachs deutete in Richtung Wald, »als uns auf eigene Faust nach Westen durchzuschlagen – quer durch unwegsames Gelände und ohne Aussicht auf ein frisch gezapftes Bier. Jedenfalls nicht so bald.«

Wolf sah die anderen beiden lange Gesichter ziehen. Er überlegte.

»Was sollen wir eigentlich in Téan Hu?«, fragte er schließlich, obwohl er es längst ahnte. »Immerhin wird dort nach allem, was die beiden Verschwörer gesagt haben, der nächste Königsmord passieren.«

»Du sagst es.« Balderdachs musterte ihn mit ernster, fast zorniger Miene. »Ein Königsmord! Wisst ihr, was das heißt?

Zwischen Hauraro und Orilac gibt es bereits diplomatische Verwicklungen, weil der allererste König des Nordens, der vor über zwölfhundert Jahren regierte, ursprünglich ein östlicher Fürst war. Jetzt möchte der Osten, dass der Norden wieder der Herrschaft Orilacs unterstellt wird, zumal es keinen legitimen Thronerben gibt. Stirbt als Nächstes der Westkönig, geraten die Beziehungen der nördlichen Reiche in eine ernste Krise.

Wenn obendrein der Süden hinter dem Mord steckt oder alle das zumindest glauben, dann gibt es Krieg. Vergesst nicht, dass die drei anderen Regionen – allen voran die Zentralregion, aber auch die Reiche des Meeres und der Steppe – aufgrund ihrer historischen Bündnisse und Solidarabkommen nicht lange neutral bleiben können. Dann findest du keine Ruhe mehr in einem Dorf, Wolf, sondern dann werden Mord und Totschlag herrschen. Städte werden brennen, Dörfer einfach zerstampft und …«

»Schon gut«, unterbrach ihn Wolf. »Es reicht! Ich habe verstanden. Deshalb müssen wir den Schnitter aufhalten.«

»Genau.« Balderdachs schlug sich mit der Faust in die offene Hand. »Aber zuerst sollten wir so viel wie möglich über ihn herausfinden. Sagtest du nicht, dass sich seine Anhänger in Téan Hu sammeln werden?«

Wolf nickte.

»Wie weit ist es denn bis Téan Hu?«, meldete sich Falbe zu Wort.

»Hunderte von Meilen«, versetzte Balderdachs. »Je eher wir uns also auf den Weg machen, desto besser.«

Sorgfältig wickelte Zilber die Reste ihres Mahls in ein Tuch, das er aus der Gondel gerettet hatte, und schnürte alles zu einem handlichen Bündel zusammen. Auch den Balg des Wildschweins behielt er, um ihn in der nächsten Siedlung zu verkaufen. Was sonst übrig war von seiner Beute – außer dem Schädel, den Knochen und allen ungenießbaren Teilen war es nicht viel –, verscharrte er unweit der Höhle im lockeren Sandboden. Balderdachs verwischte unter dessen die Spuren ihres Feuers.

»Wir können aufbrechen«, meldete Falbe schließlich, der zwei Wasserschläuche aus dem Boot an der Quelle befüllt hatte. Wolf nickte zufrieden und ging voraus.

Sie tauchten ein in den dichten Wald, der westlich von Tanár begann und die Hauptstadt jahrhundertelang wie ein mächtiger natürlicher Verteidigungswall vor anrückenden Feinden geschützt hatte. Knorrige Eichen und Buchen reckten ihre massigen Äste in schwindelnde Höhen hinauf. Manche waren von Lianen oder graugrünen Flechten behangen, als trügen sie lange Bärte. Viel Laub war schon gefallen und bedeckte den Boden wie ein bunter Teppich.

Es war sehr still, fand Wolf. In der Stadt war er fast ständigen Lärm gewohnt. Hier draußen ging nur ab und zu der Wind durch das dürre Geäst und ließ die wenigen noch hängenden Blätter unregelmäßig rascheln. Manchmal waren auffliegende Waldtauben oder das Ratschen von Hähern zu hören, seltener der Ruf eines Käuzchens.

Sie kamen zügig voran. Der leicht abfallende Untergrund war hier und da von Steinen oder Totholz bedeckt, manchmal mussten sie über um gestürzte Bäume klettern. Gruppen von Tannen und Fichten durchzogen den Laubwald. Wo ihre Äste bis zum Boden reichten und das Unterholz bewohnt zu sein schien, blieb Wolf nichts anderes übrig, als seine Gefährten um das Hindernis herum zu führen.

Damit sie die Richtung nicht verloren, versuchte er, sich an der Sonne zu orientieren. Die Voraussetzungen dafür waren die besten: Kein Wölkchen trübte den azurblauen Himmel. Bis die Sonne allerdings hoch genug gestiegen war, um hinter dem Felsabsturz sichtbar zu werden, vergingen Stunden. Da sie in der Zwischenzeit nach Süden wanderte, hielt sich Wolf eher links, um nicht ungewollt nach Norden abgetrieben zu werden. Gegen Mittag legten sie eine kurze Rast ein. Er aß nicht viel und behielt statt dessen die Umgebung im Auge. Als sie sich wieder auf den Weg machten, legte Falbe, der das Wasser getragen hatte, die Schläuche Balderdachs grinsend vor die Füße.

»Jetzt bist du mal dran!«

»Was ist denn das für ein Ton, Kleiner?« Mit dem Fuß stieß Balderdachs die Schläuche von sich, trat auf Falbe zu und verschränkte die Arme vor der Brust. »Werden wir etwa aufmüpfig?«

»Ja«, entgegnete der Jungstreuner, jetzt ernst und mit leicht gebleckten Zähnen.

Balderdachs schüttelte leicht den Kopf. »Ich hab was gut bei dir, schon vergessen?«

»Kein Grund, mir jetzt ständig die Drecksarbeit aufzubürden«, schnappte Falbe aufgebracht.

»Gibt′s Probleme?« Wolf stand auf und stellte sich neben ihn. »Nein«, grinste Balderdachs.

»Gut«, sagte Wolf kurz, hob den einen Wasserbehälter auf und drückte ihn Balderdachs unsanft in die Hand. Den anderen schulterte er selber, wandte sich ohne ein weiteres Wort um und marschierte los. Seine Art, den Streit zu schlichten, wurde nicht in Frage gestellt, und für die nächsten zwei Stunden hatte er Ruhe.

Einen Steinwurf hinter ihm lief Falbe, der ohne die Last des Wassers Balderdachs und Zilber hatte überholen können. Die beiden bildeten die Nachhut und schienen sich angeregt zu unterhalten. Wolf konnte sie flüstern hören, verstand jedoch ihre Worte nicht. Er verlangsamte seine Schritte und ließ Falbe herankommen.

»Alles in Ordnung?«, fragte dieser.

»Anzunehmen«, gab Wolf zurück. »Aber vier Augen sehen mehr als zwei.«

»Stimmt.«

»Zumal die beiden da hinten offenbar vergessen haben, wachsam zu sein. Sag mal«, er pausierte kurz, aber wirkungsvoll, »willst du mir vielleicht etwas über diesen Zilberpardel erzählen?«

»Was sollte ich denn über ihn wissen?«

»Alles. Vieles jedenfalls. Ich meine, ihr seid doch Vettern. Eure Väter müssen Brüder sein.«

»Ach … deshalb«, meinte Falbe zögerlich. »Wolf, ich fürchte, ich muss dir etwas sagen.« Er senkte schuldbewusst den Kopf. »Das war nicht die Wahrheit. Zilber ist nicht mein Vetter, wir sind überhaupt nicht miteinander verwandt. Ich kenne ihn und Balderdachs erst seit diesem Sommer.«

»Weiter.«

»Wir haben uns noch in Orilac kennengelernt. Ich war auf der Flucht, und Balderdachs hat mir das Leben gerettet. Ich hoffe, dass ich irgendwann Gelegenheit bekomme, meine Schuld wiedergutzumachen.«

»Das erklärt einiges«, sagte Wolf und dachte daran zurück, wie Balderdachs den Jungstreuner mit groben Worten zurechtgewiesen hatte. Vielleicht war es ihm lästig, dass Falbe an ihm hing wie eine Klette. »Und wovor bist du geflohen?«

»Vor ein paar Soldaten. Ich … war selber einer.«

»Und?«

Es dauerte lange, bis Falbe antwortete. »Ich bin … weggelaufen. Das Militär war nicht das Richtige für mich.«

»Du bist ein Deserteur?«, brummte Wolf misstrauisch. »Wieso hast du dich nicht einfach abgemeldet?«

So wie ich damals, setzte er in Gedanken hinzu.

»In Tanár geht das vielleicht«, meinte Falbe. »In Orilac dagegen werden die Rekruten zu einem Eid verpflichtet. Du bist Soldat auf Lebenszeit und hast keine andere Wahl mehr, wenn du einmal den Schwur geleistet hast. Solltest du dich dann wieder umentscheiden, bist du so gut wie tot.«

»Wieso?«

»Deine eigenen Kameraden stechen dich ab, wenn sie Wind davon bekommen, wegen der Truppenehre und so. In meinem Fall müssen sie es recht schnell spitzgekriegt haben. Kannst du dir vorstellen, wer hinter mir her war, um mich kalt zu machen? Diejenigen, mit denen ich die Stube geteilt hatte. Kurz bevor ich abgehauen bin, nannten sie mich noch ›Kamerad‹ und schworen, mir immer beizustehen.«

»Beim Großen Fang«, sagte Wolf, »was für Zustände. Der König des Ostens sollte schleunigst die Armee reformieren. Ist bei uns in Tanár schon vor über fünfzig Jahren geschehen. Sonst wäre ich wohl nie …« Er biss sich auf die Zunge. Was ging Falbe seine militärische Laufbahn an!

»Davon ist man in Orilac weit entfernt.« Der Jungstreuner ließ die Schultern hängen. »Deshalb bin ich fortgegangen. Dass ich Balderdachs und Zilber begegnet bin, war ein Glücksfall für mich. Ohne die beiden wäre ich nie lebend aus der Stadt herausgekommen.«

»Trotzdem kannst du mir vielleicht eine Frage beantworten«, versuchte Wolf ihn auf das eigentliche Thema zurückzubringen. »Immerhin kennst du die beiden länger als ich. Wer genau sind …«

»Riechst du das?«, unterbrach ihn Falbe. Der Jungstreuner war stehen geblieben. Sein Kinn war angehoben, die Augen halb geschlossen. Wolf schnupperte ebenfalls.

»Rauch«, sagte er.

Ein paar Meilen weiter war der Geruch nach verbranntem Holz schon um einiges deutlicher. Bald stießen sie auf die Ursache. Mitten im Wald hatte jemand einen kaum mannshohen Hügel mit einem Durchmesser von mehreren Schritt aufgeschichtet. Er war rundum mit Lehm abgedeckt; an einer Seite führte eine einfache Holzleiter nach oben. Dicke Rauchschwaden quollen aus einem Loch in der Spitze.

»Sieht aus wie eine Hütte«, meinte Wolf verwundert. »Aber wer ist klein genug, um darin wohnen zu können?«

»Das ist keine Hütte, sondern ein Kohlenmeiler«, wurde er von Zilber belehrt. »Hier wird Kohle hergestellt, das schwarze Zeug, das zum Beispiel Schmiede brauchen, um …« »Was du nicht sagst!«, fuhr Wolf ihn gereizt an. »Als hätte ich das Wort noch nie gehört!«

»Schon gut, ihr zwei.« Balderdachs legte jedem von ihnen beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Sehen wir nach, ob der Köhler in der Nähe ist. Vielleicht kann er uns ein Nachtlager anbieten, es wird nämlich bald dunkel.«

Seine Hoffnung war nicht vergebens. Der Meiler war nur einer von vielen, die sich ringförmig um eine einfache Blockhütte gruppierten. Der Köhler, ein ungeheuer kräftiger, wortkarger Streuner von vielleicht vierzig Jahren, kannte und achtete das Gastrecht Lesh-Tanárs. Mit einem knappen Nicken bot er Wolf und seinen Begleitern in seiner Behausung einen Platz für die Nacht an. Im Gegenzug teilten sie mit ihm den Rest des Wildschweins. Kurz bevor die Sonne unterging, verließ er die Runde am Feuer, um zum letzten Mal an diesem Tag nach seinen Meilern zu sehen.

Wolf fiel sofort in tiefen Schlaf, als sie sich zur Ruhe legten. Er war es gewöhnt, viel auf den Beinen zu sein, doch so weit wie heute war er schon seit Jahren nicht mehr gelaufen. Seinen Gefährten ging es kaum anders. Der Köhler war schon wieder bei der Arbeit, als sie am nächsten Morgen aufstanden und vor die Tür traten. Es war noch nicht ganz hell und sehr kühl; der Sommer schien end gültig vorbei zu sein.

Raureif bedeckte das einzige Fenster der Hütte sowie die Äste der Bäume. Die letzten verblassenden Sterne standen kalt und klar am Himmel.

Wenig später kehrte ihr Gastgeber zurück und reichte ihnen ein karges Frühstück aus Äpfeln, Fladenbrot und Schinken. Auf Zilbers Frage hin wies er ihnen den Weg zum nächsten Dorf, das keine fünf Meilen entfernt war. Dann verabschiedete er sie mit einem wortlosen, aber freundlichen Nicken.

Die Siedlung war größer, als Wolf gedacht hatte. Es gab sogar eine Botenstation, von der einmal am Tag ein Reiter in Richtung Tanár aufbrach. Dort hinterließ er eine kurze Notiz für Lúpa und traf dann wieder mit Zilber zusammen, der zwanzig Knittel und vier Groschen für die Haut des Wildschweins bekommen hatte.

»Na, immerhin«, brummte Wolf anerkennend. »Wurde auch Zeit, dass du das Ding loswirst. Hat ja schon Schmeißfliegen angezogen.«

Zilber grinste genüsslich. »Soll ich die Schwarte zurückkaufen, damit wir sie fangen und rösten können?«

»Nicht nötig. Unsere Vorräte sind knapp, du darfst heute also wieder deine Jagdkünste unter Beweis stellen.«

»Ach, auf einmal ist das Kunst, was ich mache.«

Wolf sah ein, dass es an der Zeit war, sich zu entschuldigen.

Dies spornte den weißen Streuner dazu an, am Nachmittag vier besonders fette Karnickel zu fangen – mit bloßen Händen. Mit gemächlicher Hingabe drehte er den wild zappelnden Fellbündeln den Hals um, staunte jedes Mal mit aufgestellten Ohren, wenn das leise Knacken ertönte und das Zappeln langsam nachließ.

Wolf fand, er hätte etwas rascher zu Werke gehen können, doch er war froh und dankbar, als bald darauf der erste würzig duftende Kaninchenbraten über dem Feuer schmorte.

»Hat man dich aufgehalten?«, wollte er wissen, nachdem sie alle gesättigt waren. »Oder dumme Fragen gestellt?«

»Nein«, antwortete Zilber. »Die Dörfler sind froh, wenn sie in Ruhe gelassen werden. Ich habe ihnen einfach erzählt, ich käme aus Hauraro, und wir sähen dort alle so weiß aus. Das haben sie glatt geschluckt.«

Alle vier lachten laut, und nach Wolfs Empfinden war das Eis zwischen ihm und Zilber endlich gebrochen.

»Einer hat mich gefragt, ob ich Näheres über den Tod des Nordkönigs wüsste. Ich hab natürlich den Kopf geschüttelt, weil ich vermeiden wollte, dass man mich ausfragt. Aber selbst hier draußen scheinen die Leute verunsichert zu sein.«

»Kein Wunder«, hakte Balderdachs ein. »Unter der Herrschaft der sieben Königreiche hat Lesh-Tanár jahrhundertelangen Frieden genossen, und deshalb …«

»Du vergisst den Fünfjährigen Krieg, Anfang dieses Jahrhunderts«, unterbrach ihn Wolf. »Und den Steppenkrieg zwei Jahrhunderte davor.«

»Ich habe sie absichtlich nicht erwähnt. Die meisten haben diese Auseinandersetzungen längst vergessen, weil sie das Machtgefüge in Lesh-Tanár nicht erschüttern konnten. Doch jetzt wurde ein König ermordet, zum ersten Mal in der Geschichte der Sieben Reiche! Wenn es niemandem gelingt, den Schnitter aufzuhalten, dann ist das ganze Land dem Untergang geweiht. Umso mehr wundert es mich, Wolf, dass man dich im Palast von Tanár nicht ernstgenommen hat. Der König der Mitte sollte wissen, dass gerade er besonders gefährdet ist. Was hat er eigentlich unternommen, nachdem die Nachricht vom Tod des Nordkönigs in Tanár eingetroffen war?«

»Nichts, so weit ich weiß«, erwiderte Wolf achselzuckend.

»Überhaupt hat man in den letzten Jahren nicht viel von Durban gehört oder gesehen. Mittlerweile übernehmen die Parlamentarier die meisten Regierungsaufgaben. Als König hat er lediglich ihre Beschlüsse abzusegnen.«

Balderdachs schnaubte empört. »Er hat einen Nachfolger, oder bringe ich da was durcheinander?«

Wolf nickte. »Der Prinz dürfte mittlerweile halbwüchsig sein. Die Königin starb kurz nach seiner Geburt, und Durban setzte alle Hoffnungen in seinen Sohn, hieß es damals.«

»Wäre er nur ein wenig älter, würde er seinen Vater absetzen und das Parlament in seinen Aufgaben beschränken. Dann könnte er seiner eigenen Position zu mehr Gewicht in Regierungsangelegenheiten verhelfen.«

»Und sich damit noch größerer Gefahr vor dem Schnitter aussetzen«, gab Wolf zu bedenken. »Außerdem hat das Parlament auch viel Gutes bewirkt, was der König allein nicht geschafft hätte.«

»In Orilac brauchen wir kein Parlament«, sagte Balderdachs in verächtlichem Tonfall. Er schnupperte argwöhnisch an seinem Ellbogen, biss sich plötzlich selbst ins Fell und zog mit den Zähnen eine Zecke heraus. Zielsicher spuckte er sie in die Flammen ihres Lagerfeuers, wo sie mit leisem Zischen verpuffte.

»Außerdem haben wir den Magierrat«, meinte Zilber an seiner Stelle. »Er unterstützt den König in vielen Belangen.«

Balderdachs kratzte sich am Kopf und schwieg.

»Wenn wir in Téan Hu sind«, ließ sich Falbe vernehmen, »was genau machen wir dann eigentlich? Werden wir versuchen, den König des Westens zu warnen, oder sollen wir gleich den Schnitter finden und unschädlich machen?«

»Denk mal scharf nach!«, entgegnete Wolf. »Natürlich warnen wir den König. Wenn das nicht klappt, können wir den Schnitter immer noch auf eigene Faust jagen.« Grimmig fügte er hinzu: »Er soll für den Mord an Graubart bezahlen! Nur … ich habe nicht die geringste Ahnung, woran wir ihn oder seine Untergebenen erkennen sollen. Irgendwie müssen wir herausfinden, wann und wo genau sie sich in Téan Hu treffen.« »Allerdings«, knurrte Zilber. »Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, dass uns die Vermummten mittlerweile kennen. Wenn der Schnitter so schlau ist, die Stadttore überwachen zu lassen, wird er früh genug erfahren, dass wir in Téan Hu sind. Abgesehen von Falbe sind wir nämlich alle ziemlich auffällige Streuner.«

»Wir müssten uns irgendwie tarnen«, schlug Balderdachs vor. Schwarz Vermummte …, grübelte Wolf. Kohlenmeiler … »Und wie?«, fragte Falbe ratlos.

»Wirst du schon sehen!«, erwiderte Wolf. »Mir ist gerade eine tolle Idee gekommen.«

Es war ihre erste Nacht unter freiem Himmel. Sie beschlossen, sich mit dem Wachen abzuwechseln, um nicht im Schlaf überrascht zu werden. Sie losten die Reihenfolge aus; Wolf war Dritter. Als Balderdachs ihn weckte, hatte er gerade von Lúpa geträumt, von ihrer Dachstube, ihrem Lager und ihrem duftenden Nackenfell.

»Das zahl ich dir heim«, grollte er leise. »Darf man denn nicht mal in Ruhe zu Ende träumen?«

»Sei froh, dass du überhaupt schlafen konntest«, flüsterte Balderdachs und deutete auf Zilber, der ausgestreckt dalag und die nächtliche Stille mit seinem lauten Schnarchen zersägte.

»Er müsste wachen, nicht ich«, sagte Wolf missmutig. »Im Gegensatz zu mir sieht er, was sich da draußen bewegt.« Balderdachs klopfte ihm grinsend auf die Schulter. Dann legte er sich neben seinen Freund und schien binnen weniger Augenblicke gleichfalls fest zu schlafen. Wolf ging am Feuer in die Hocke, legte Reisig nach und lauschte in die Dunkelheit hinaus.

Er schrak zusammen, als ein heulen der Ruf an seine Ohren drang. Andere Stimmen schienen Antwort zu geben. Das Geheul war leise und weit entfernt, doch es ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Wölfe!

Zwar gefährdeten die schattenhaften Räuber nur selten die Bewohner von Dörfern und Städten, doch erzählte man sich mitunter grausige Geschichten. Die Wölfe hassten die Menschen, so sagte man, aber Streuner hassten sie noch mehr, weil sie den Wölfen äußerlich ähnelten, aber sprechen konnten wie die Menschen und sogar mit ihnen zusammenlebten.

Falbe drehte im Schlaf unruhig den Kopf hin und her. Seine Lefzen und die geschlossenen Augen zuckten. Vielleicht hörte er im Traum die Stimme jenes Einsamen, der in dieser Nacht sein Rudel zusammen rief. Wolf legte sich vorsichtshalber einen Holzprügel und ein besonders dichtes Reisigbündel bereit, um im Notfall eine Fackel entzünden zu können. Feuer fürchteten die Wölfe mehr als alles andere, hieß es.

Das Heulen dauerte lange an, doch das Rudel schien nicht näherzukommen. Als schließlich der Mond aufgegangen war, verebbten die Stimmen nach und nach. Wolf spürte, wie er müde wurde. Wie lange mochte er nun schon Wache halten? Wie auch immer – es schien an der Zeit, Falbe zu wecken.

Der Jungstreuner jaulte leise auf, als er ihn sacht an der Schulter rüttelte.

»Still, sonst weckst du die anderen!«, zischte Wolf.

Panik in den Augen, starrte Falbe ihn an, die Hände in den Waldboden gekrallt.

»Hast wohl schlecht geträumt«, knurrte er leise. »Du bist dran. Ich bin müde. Weck mich, wenn dir irgendwas Verdächtiges auffällt.«

Falbe schluckte und nickte.

»Reiß dich zusammen«, mahnte Wolf. »Wer Wache hält, braucht einen kühlen Kopf. Solltest du eigentlich wissen!« Er überließ dem Jungstreuner seinen Platz am Feuer, streckte sich ein wenig abseits auf einem dicken Laubpolster aus und fiel bald in leichten Schlummer.

Als er erwachte, waren die anderen schon mit dem Frühstück beschäftigt. Falbe sah übermüdet aus. Wolf duldete nicht, dass sie sich länger aufhielten als nötig. Er hatte guten Grund dazu. Seine Befürchtung bestätigte sich im Laufe der folgen den vier Tage, während derer sich die Landschaft kaum veränderte: Sie kamen viel zu langsam voran.

Ein Königreich für ein paar Pferde, dachte Wolf mehr als einmal, obwohl er kein begnadeter Reiter war. Doch woher hier, mitten im Nirgendwo, brauchbare Reittiere nehmen? Zumindest hatten sie dank Zilber nicht über Hunger zu klagen. Als ihre Wasserflaschen leer waren, füllten sie sie an einem Bach, der eine flache Talfurche innerhalb des Waldes hinabfloss.

Am fünften Tag schlug das Wetter um. Dichter Nebel hüllte den Wald in ein graues Gewand, und die vier Reisenden verfielen in Schweigen, während Wolf versuchte, ihren bisherigen Kurs zu halten. Irgendwann einmal hatte er gelernt, dass Baumstämme nur an der Westseite Moos ansetzten. Sein Wissen half ihm nicht weiter, denn manche Bäume dieses Waldes waren an der genau gegenüberliegen den Seite bewachsen wie andere, und viele trugen gar kein Moos.

Ob er seine Gefährten schon im Kreis herumführte? Ihm kam die rettende Idee, sich in einem sehr weiten Bogen nach rechts zu wenden. Früher oder später würden sie so die Straße erreichen. Der Nebel würde sie vor den Augen neugieriger Reisender verbergen.

Am folgenden Morgen setzte heftiger Regen ein, der die Sicht weiter verschlechterte und die Welt sämtlicher Farben zu berauben schien. Um Mittag waren sie bis auf die Haut durchnässt – und begannen zu frieren.

»Verflucht«, knurrte Wolf, während ihm das Wasser von Gesicht und Fell troff. Seine Glieder waren kalt und steif, und er fürchtete, dass seine Waffen entgegen Vulkhans Versicherung anfangen würden zu rosten.

»Wir sollten versuchen, irgendwo unterzukommen, und dort besseres Wetter abwarten«, schlug Balderdachs vor.

Zilber und Falbe nickten beifällig. Obwohl sie damit weitere kostbare Zeit verlieren würden, lenkte Wolf ein. Doch wie sollten sie die nächstgelegene Siedlung ausfindig machen?

Regen und Nebel machten es ihnen unmöglich, Rauch oder andere Gerüche zu wittern. Wolf sah sich nach allen Seiten um.

»Wenn ihr im näheren Umkreis eine Hütte bauen solltet«, sagte er, »wo wäre der beste Platz dafür?«

Ringsumher erstreckte sich der Wald, weit und unberührt.

Rechts von ihnen, ungefähr einen halben Bogenschuss entfernt, konnte man den Beginn einer leichten Welle im Boden ausmachen, eine abrupt ansteigende und sich im Nebel verlierende Erhöhung.

»Auf der anderen Seite des Walls da drüben«, sagte Zilber und wies mit dem Kinn darauf.

»Irgendwo dort muss die Straße liegen«, sagte Falbe.

»Das denke ich auch«, meinte Wolf. »Kommt!«

Entschlossen marschierten sie auf den Wall zu und über ihn hinweg. Er erwies sich als kreisförmige Anlage, vielleicht die Überreste eines uralten, längst verfallenen Außenpostens oder Grenzturms. Dahinter war – nichts als Wald. Dennoch folgten sie für den Rest des Tages der neuen Richtung. Kein Dorf weit und breit, von der Straße ganz zu schweigen.

»Verflucht!«, entfuhr es Wolf erneut, als sie bei Einbruch der Dämmerung erschöpft und verfroren ihr Lager im Schutze einer riesigen Eiche aufschlugen, deren spärliches Blätterdach den Regen kaum abhalten konnte.

Die feuchten Zweige, die Balderdachs unter dem alten Baum aufgelesen hatte, wollten nicht recht brennen, obwohl er sie wieder und wieder magisch zu entfachen versuchte. Von der Wärme des mickrigen Feuers spürten die vier nur wenig, obwohl sie sich zuvor ausgiebig das Wasser aus dem Fell geschüttelt hatten.

Es wurde eine ungemütliche Nacht. Mit dem Rücken an den Stamm der Eiche gelehnt, gelang es Wolf lediglich für kurze Zeitabschnitte zu dösen, bevor ihn die Kälte oder der schaurige Schrei eines Nachtvogels wieder aus dem Schlaf riss. Erst als es hell wurde, sank er für eine erholsame Stunde ins Reich der Träume.

Lúpa – so sehr er sich auch nach ihr sehnte – begegnete ihm dort nicht.

Streuner

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