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Dämon

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Héranon war stehengeblieben. Léun blinzelte. Sie hatten die alten Obstwiesen erreicht.

»So.« Der Waldhüter stellte ihn auf die noch wackeligen Füße, bevor er mit schmerzverzerrtem Gesicht den Rücken straffte. »Dachte schon, du schläfst selig wie ein Säugling, Kerl. Wenn du auch um einiges unhandlicher bist. Gute Vorstellung übrigens!«

»Heißt das, du bist gar nicht krank?« Arrec runzelte die Stirn.

»Seh ich so aus?« Léun schüttelte sich, um die taub gewordenen Schultern und Arme zu lockern.

»Ihm geht’s blendend«, bemerkte Héranon. »Die ersten paar Male zehren an deiner Substanz, aber das gibt sich im Lauf der Zeit.«

»Was meinst du damit, Waldhüter?«, wollte Arrec mit argwöhnisch gerecktem Hals wissen.

»Womit? Dass es ihm blendend geht?« Héranon kratzte sich am Kinn. »Was begreifst du daran nicht?«

Arrec schien mit sich zu kämpfen. Er ballte die Fäuste und wirbelte herum.

»Ich muss nach Hause.«

»Warte!«, rief Léun. »Tut mir leid, dass ich, äh … wegen des Durcheinanders in eurer Hütte. Komm doch mit zurück an den See, ja? Ich wollte dir sowieso erklären, was …«

»Hiergeblieben, Kerl.« Héranon trat ihm in den Weg. »Erklären ist gut. Dein Großvater und ich sind schon sehr gespannt.« Über die Schulter wandte er sich an Arrec: »Du da! Stehst du einem Freund im Notfall bei – oder bist du ein Feigling, der sich lieber zu Hause verkriecht?«

Das wirkte. Arrec machte auf dem Absatz kehrt, würdigte den Waldhüter keines Blickes und stapfte voran.

»Komm, Léun«, sagte er und fügte mit schadenfrohem Grinsen hinzu: »Oder glaubst du, ich lass mir entgehen, wie du gerupft wirst wie ein Huhn? Außerdem, das Hemd da gehört mir!«

»Woher wusstest du eigentlich, wo ich bin, Waldhüter?«, erkundigte sich Léun, als sie in Richtung Grünhag unterwegs waren. Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, dämmerte ihm selbst die Antwort: »Du bist mir nachgegangen, oder?«

»Dein Großvater bat mich darum«, gestand Héranon. »Ich hab mich nur überreden lassen, weil du dich so schwer getan hast mit der Wahrheit. Du bist nicht nur ein kolossaler Löwe, sondern auch ein ziemlich störrischer Esel, weißt du das?«

Léun war nicht zum Lachen zumute.

»Und anstatt Entwarnung zu geben, muss ich mir jetzt irgendein Märchen ausdenken. Oder willst du, dass Sárim und der Talwart weiter bei euch rumschnüffeln?«

»Wie wär’s damit: Der Löwe ist in die Rockenberge entschwunden?«, schlug Léun vor.

»Keine gute Idee«, brummte Héranon. Wie um sich zu vergewissern, dass sie niemand belauschte, warf er einen Blick über die Obstwiesen. »Keinen halben Tag nach der Sache mit Grantis Hunden sieht der Reishändler Káor. In seinem eigenen Haus. Und wer weiß, was dein Freund danach den anderen Dörflern erzählt hat.«

»Nichts«, rief Arrec, ohne sich umzudrehen. »Ehrenwort!«

»Wenn schon.« Héranon senkte die Stimme. »Die Sache ist verzwickt genug. Morgen weiß das ganze Tal davon. Tu ich so, als wäre alles in bester Ordnung, kann sich Sárim an zwei Fingern abzählen, dass ich lüge. Dann hab ich bald selber die Talwartschaft am Hals.«

»Und wenn wir es ihnen einfach sagen?« Léun schluckte. »Das mit Káor und mir … was immer es auch ist.«

»Du besitzt die Gabe der Verwandlung, das ist es«, erwiderte Héranon prompt. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Kerl. Außer Lóhan sagen wir niemandem etwas davon. Glaub mir, es ist besser so.«

Arrec wandte sich um und lief rückwärts vor ihnen weiter.

»Na gut, ich sag auch niemandem was«, verkündete er.

»Augen und Ohren hat er ja wie ein Adler, dein Freund«, bemerkte Héranon mit einem grollenden Unterton. »Aber hat er auch Flügel? Oder wenigstens Beine wie ein Reh?« Er preschte auf Arrec zu, der lachend und mit schlaksigen Bewegungen die Flucht ergriff.

Froh, dass das Gespräch fürs erste beendet war, rannte Léun los, um den beiden auf den Fersen zu bleiben.

Der Talwart hatte sich aus Grünhag zurückgezogen. Sárim, der Jäger, schlich dagegen noch immer durch das Dorf, als hoffte er, der Löwe würde auf derselben Fährte zurückkommen, die er am frühen Morgen hinterlassen hatte.

»Hol ihn sich Rástan!«, fluchte Héranon leise, als sie den grüngekleideten Mann zwischen den Hütten patrouillieren sahen. »Was er auch sagt, ihr zwei seid still, klar?«

Sie folgten dem Pfad ins Zentrum des Dorfes. Als sie gerade die Dorfstraße erreichten, tauchte Sárim auf der anderen Seite auf. Er salutierte, holte ein Messer aus dem Gürtel und begann, sich die Daumennägel zu trimmen.

»Na, Waldhüter, was gefunden?« Der Jäger streckte den Ellbogen in Léuns Richtung aus. »Abgesehen von dem Ausreißer da.«

»Er hat Glück, noch am Leben zu sein«, entgegnete Héranon. »Die Bestie scheint ihn zu verfolgen. Schätze aber, wir haben sie abgehängt. Wenn überhaupt, erwischst du sie drüben in Mittelhag.«

Sárim musterte Léun. Er biss den Rest seines Daumennagels ab und spuckte ihn auf die Straße.

»Was ist passiert?«

»Das Vieh hat sich anscheinend auf das Nachbardorf verlegt. Es muss sich unbemerkt in die Hütte von Erric geschlichen haben. Du weißt schon, der Reishändler.«

Léun schielte zu Arrec hinüber. In wortloser Übereinkunft nickten sie heftig zu Héranons Worten.

Der Jäger schnaubte trocken.

»Und du hast es vertrieben, Waldhüter?«

»Glaubst du mir etwa nicht?«

»Wenn du behauptet hättest, dass der Bursche da selber der Löwe sei«, der Jäger hob das Messer und deutete mit der Klinge auf Léun, »klänge das noch glaubwürdiger.«

Héranon schaute ihn ruhig an, schob Léun und Arrec hinter sich und ging festen Schrittes auf Sárim zu.

»Steck dein Spielzeug weg«, befahl er, »oder ich sorge dafür, dass der Talwart es beschlagnahmt.«

Der Jäger grinste ihn unfreundlich an, steckte sich das Messer jedoch gehorsam in den Gürtel.

Léun atmete auf.

»Du hast also die Gabe der Verwandlung?« Arrec funkelte ihn bewundernd an. »Wie machst du das – ein Löwe zu sein? Und kannst du es mir beibringen?«

»Hab ich doch schon gesagt«, erwiderte Léun. Er hatte sich den Mund fusselig geredet, seit sie in der Hütte seines Großvaters angekommen waren. »Keine Ahnung.«

»Und er kann es dir auch nicht beibringen«, ergänzte Héranon. »Eine Verwandlungsgabe hat man – oder man hat sie nicht.«

»Schade.« Arrec leckte sich die Lippen und spähte in seinen leeren Becher. Lóhan goss ihm gesüßte Ziegenmilch nach. »Ich wär auch gern ein Löwe. Das stell ich mir toll vor.«

»Ist es aber nicht«, murmelte Léun. »Ich wünschte, ich wäre nie zu euch nach Hause gekommen.«

»Halb so wild. Mein Vater kriegt sich schon wieder ein.« Arrec grinste. »Und du lass mich demnächst mal auf dir reiten, ja? Da werden die Leute gucken!«

»Mit so einer Verwandlungsgabe ist nicht zu spaßen, Kerl«, sagte Héranon und musterte Léun streng, als hätte er selbst den albernen Vorschlag gemacht. »Erst einmal musst du lernen, damit umzugehen. Und dann …«

»Was, Waldhüter?« Léun bemerkte, wie sein Großvater Héranon einen mahnenden Blick sandte.

»Dann kannst du Leute erschrecken, soviel du willst«, platzte Arrec heraus.

»Was?«, wiederholte er. »Ich will wissen, was …«

»Wir reden morgen weiter«, wiegelte Héranon ab. »Ich brauch dringend eine Pfeife. Und ich sorg dafür, dass Sárim und die alte Granti Ruhe geben. Nicht dass morgen früh die ganze Talwartschaft an deine Tür klopft, mein lieber Lóhan, um deinen Enkel abzuholen.«

Léun fühlte, wie ihm heiß wurde. Auch Arrec wurde schlagartig ernst.

»Warum sollten sie das machen? Er hat doch nichts getan!«

»Bleib hier, rate ich dir.« Héranon beugte sich vor und senkte die Stimme. »Versuch, ruhig zu bleiben – was auch immer passiert. Unnötige Aufregung ruft Káor zu dir. In deiner jetzigen Lage wird alles nur noch …«

»Héranon! Das reicht!«

Der Waldhüter schaute ihn eindringlich an, ohne auf Lóhan zu achten. Aus seinem Blick sprachen Verständnis und eine unausgesprochen fortgesetzte Warnung.

Dann wird alles nur noch schlimmer!

Léun fröstelte und zuckte unwillkürlich mit den Schultern. Héranon wandte sich Arrec zu.

»Du bleibst bei ihm, bis ich zurück bin«, befahl er mit erhobenem Zeigefinger. »Sieh zu, dass dein Freund keinen Unsinn anstellt!«

Arrec nickte eifrig.

»Ich bin ja auch noch da«, bemerkte Léuns Großvater.

»Also kümmer dich gefälligst um den ganzen Rest«, schnappte der Waldhüter barsch. »Und überlass mir die Dinge, von denen ich mehr Ahnung hab als du!«

Lóhan senkte lächelnd den Blick. Die Geste wirkte, als fühlte sich der alte Mann verletzt. Mit einem Mal hatte Léun das Bedürfnis, ihn zu schützen. Wieder wallte Hitze in ihm auf.

»Reiß das Maul nicht so weit auf, Waldhüter. Das hier ist die Hütte von Lóhan, meinem Großvater, und nicht die deine!«

»Tatsächlich?«, knurrte Héranon wenig beeindruckt. »Sag deinem Großvater Lóhan mal einen schönen Gruß von seinem kleinen Bruder: Er täte gut daran, seinem vorlauten Enkel Manieren beizubringen, bevor der seine Helfer anblafft wie ein Halbdackel.«

Léun blieb die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, im Halse stecken. Als er wieder sprechen konnte, hatte der Waldhüter die Hütte grußlos verlassen.

»Er ist dein Bruder?« Ungläubig starrte Léun seinen Großvater an. »Warum hast du mir das nie gesagt? Und warum ist er so viel jünger als du?«

»Na hör mal, mein Lieber, so alt bin ich auch wieder nicht. Aber du hast schon recht …« Lóhan pausierte. »Unsere Eltern, also deine Urgroßeltern, stammten beide aus armen Familien. Mein Vater Hélon verdiente als Waldhüter wenig. Ich blieb lange ein Einzelkind. Später wurde er zum örtlichen Verwalter gewählt – seit Einführung der Talwartschaft gibt es das Amt nicht mehr. Trotzdem wurden wir rasch so reich, dass wir uns sogar ein Pony leisten konnten. Meine Eltern blühten buchstäblich aneinander auf. Plötzlich war da ein Brüderchen. Obwohl ich entscheidungsfrei war, sah ich mich zur bloßen Arbeitskraft degradiert – und musste zusehen, wie Héranon Tag für Tag mehr Aufmerksamkeit bekam als ich während meiner gesamten Kindheit …«

»Hm«, machte Léun ratlos.

»Ich will euch nicht langweilen.« Sein Großvater rieb sich die Stirn. »Wenig später verließ ich unser Elternhaus. Trotzdem war ich unendlich froh über den Tag, an dem Héranon Grüntal verließ. Da war er noch ein Heranwachsender. Als er wiederkam, erinnerte sich kaum jemand an ihn, schließlich war er Jahrzehnte weggewesen. Wir machten uns nie die Mühe, alles und jeden an unsere Blutsverwandtschaft zu erinnern. Wir sind zu verschieden. Er hat seinen Wald, und ich habe …«

»Mich«, grinste Léun.

»Ja.« Der Alte lächelte dankbar. »Meine Familie. Die ihn nie interessiert hat. Láhen, deinem Vater, ist Héranon nie begegnet. Nie hat er mich auch nur gefragt, was zwischen mir und Láryn vorgefallen ist, dass sie und ich uns damals entschließen, wieder getrennte Wege zu gehen. Ich fürchte, mein Bruder ist und bleibt ein Eigenbrötler. Er schert sich nicht darum, was du oder ich …«

»Das stimmt nicht!«, fiel ihm Léun ins Wort. »Héranon ist ein guter Gastgeber. Und er hat mir angeboten, sein Lehrling zu werden.«

»Echt?«, staunte Arrec. »Also das würd mir auch gefallen.«

Lóhan seufzte.

»Was hast du geantwortet?«

»Ich, äh … dass ich einverstanden bin«, behauptete Léun – und erntete prompt den bewundernden Blick seines Freundes.

»Vom Waldhüter zum Löwenbändiger«, schnaubte dagegen sein Großvater. »Da hat sich mein Bruder ja was vorgenommen. Und du willst wirklich sein Nachfolger werden? Ich dachte immer, du hättest eher eine Laufbahn als Tischler im Sinn. Noch beim Frühlingsfest letzten Monat hast du doch Gáret über sein Handwerk ausgefragt.«

Léun zuckte die Achseln. »Ich hab’s mir eben anders überlegt.«

»Ich komm dich auch besuchen, da oben in deiner einsamen Hütte«, versprach Arrec. »Und dann starten wir einen regen Tauschhandel.«

»Wie wär’s mit einer frisch erlegten Sau pro Sack Reis?«, erkundigte sich Léun.

»Eine Sau pro zwei Säcke Reis. Weil du’s bist! Und«, Arrec verzog den Mund, »weil ich mir später nicht dasselbe nachsagen lassen will wie mein Vater. Nur wie krieg ich die Sau runter ins Tal?«

Lóhan schmunzelte. »Na, bis zum Ausbau der Handelswege in Grüntal bleibt euch ja noch genug Zeit. Bis dahin …« Mitten in seine Worte hinein klopfte jemand hart und laut an der Haustür.

»Die Talwartschaft?«, flüsterte Arrec erschrocken.

»Nur die Ruhe.« Léuns Großvater erhob sich und ging gemessenen Schrittes zur Tür. Da pochte es erneut, heftiger als zuvor. Er öffnete.

»Schlechte Neuigkeiten«, sagte Héranon heiser, drückte den alten Mann unsanft aus dem Weg und schloss hastig die Tür hinter sich. »Sárim scheint etwas zu ahnen. Er hat dem Talwart von seinem Verdacht erzählt und …«

»Langsam, ich verstehe nicht, was du sagst«, fiel ihm Lóhan ins Wort. Er folgte dem Waldhüter, der schon Platz genommen hatte, zurück an den Tisch. Héranon ignorierte ihn und begann, eindringlich auf Léun einzureden.

»War ja klar, dass er Ärger machen würde. Auf dem Weg zu seiner Jagdhütte bin ich an der Talwartstation vorbeigekommen. Durch ein offenstehendes Fenster hab ich seine Stimme gehört und bin einfach mal stehengeblieben.«

»Du hast gelauscht«, stellte Léuns Großvater fest.

»Er sagte, dass er als Jäger schon einiges an tückischer Beute erlegt habe. Und dass er aus Erfahrung wisse, wann eine Spur zu Ende ist. Kurzum, er sagte dem Talwart geradeheraus, dass er einen Löwen verfolge und dass nach seiner Überzeugung der Junge – dein Enkel, Bruderherz – der Löwe sei.«

»Héranon, ich glaube nicht, dass Sárim damit …«

»Wart’s doch ab. Er hat noch mehr gesagt. Nämlich dass er einiges über Mensch-Tier-Wandler wisse.«

»Das ist doch gut«, warf Léun ein. »Fragen wir ihn nach dieser Verwandlungsgabe!«

»Er sagte, um einen Mensch-Tier-Wandler zu bannen, müsse man ihn entweder lebendig begraben, ihm einen Holunderbolzen ins Herz schießen oder, was am sichersten sei, kopfüber aufhängen und der Länge nach entzwei sägen.«

Léun schauderte.

»Er hält dich für einen Dämon, Kerl«, flüsterte Héranon. »Gesandt vom Biestgott Rástan persönlich.«

»Dann fragen wir ihn lieber nicht«, murmelte Léun.

»Aber …«, stammelte Arrec, drängte sich an seine Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter, »ich finde nicht, dass du ein Dämon bist.«

»Bin ich auch nicht, du Strohkopf!« Léun schüttelte seine Hand von sich.

»Was ist mit dem Talwart?«, fragte Lóhan gelassen. »Hat er Sárim diesen Unfug abgenommen?«

»Zuerst hat er nicht viel gesagt. Als ich aber schon hoffte, er würde den Jäger für blöd halten, rückte der mit dem Zwischenfall in Mittelhag raus.«

»Von dem du ihm ja kurz zuvor berichtet hattest.«

»Falsch«, knurrte Héranon. »Ich hab ihm nicht mehr erzählt, als die Leute vor der Reishändlerhütte sowieso mitbekommen haben.«

»Na großartig.« Léuns Großvater musterte den Waldhüter mit abschätzigem Blick. »Lieber kleiner Bruder, du warst schon immer ein Tölpel im Umgang mit Worten. Dass du aber mit deinen weit über vierzig Lenzen noch nicht gelernt hast, wann man schlicht und einfach mal das Maul halten sollte«, Lóhan atmete tief durch, als kostete ihn das derbe Wort viel Kraft, »das ist schon ein starkes Stück. Zumal du damit meinen Enkel und mich in Lebensgefahr bringst!«

»Weiter so«, grinste Héranon. »Klingt gar nicht übel, weißt du, wenn du zur Abwechslung mal redest wie ein normaler Mensch.«

»Sárim hat uns abgepasst, als wir hierher zurückkamen, Großvater«, versuchte Léun den Waldhüter in Schutz zu nehmen.

»Lass nur, Kerl. Endlich hat mein großer Bruder die Gelegenheit, mir die Meinung zu sagen.«

»Das habe ich hiermit getan«, ruderte Lóhan zurück. »Also? Wie ging es weiter?«

»Als der Talwart das mit Mittelhag erfuhr, wurde er hellhörig. Er will sich morgen von seinen Kollegen dort Bericht erstatten lassen. Und bei euch vorbeischauen, falls sie ihm bestätigen sollten, dass der Junge und der Löwe zur selben Zeit in der Hütte waren.«

Léun presste die Knie gegen die Tischkante, damit sie nicht allzu sehr zitterten.

»Gut«, nickte sein Großvater, »bis dahin wird mir schon eine vernünftige Erklärung einfallen. Wenn er an meine Tür klopft, werde ich den Talwart gerne empfangen.«

»Nein, du Narr, das wirst du nicht!«, rief Héranon. »Überleg mal scharf: Der Mittelhager Talwart wird ebenfalls mit dem Reishändler sprechen. Nichts gegen deinen Vater, Schwarzhaar …«

Arrec lächelte schief und schüttelte den Kopf.

»… aber der wird ihnen natürlich die ganze alberne Soße von dem Dämonenjungen, der sich vor seinen Augen in einen hässlichen, bösartigen Löwen verwandelt hat, brühwarm zwischen die Arschbacken schmieren und …«

»Héranon – bitte!«

»Ich muss nicht weiterreden, oder? Unser Talwart wird auf kein gemütliches Schwätzchen aus sein. Vielmehr wird die ganze Talwartschaft dein Haus umstellen. Kommt ihr nicht freiwillig raus, werden sie euch ausräuchern. Sobald ihr halb blind, hustend und mit Brandwunden aus der Tür stolpert, werden sie deinen Enkel ergreifen, in Ketten legen und bestrafen.«

Es war sehr still geworden. Léun blickte vom einen zum anderen. Gerne hätte er etwas Kluges gesagt, doch ihm wollte nichts einfallen. Waren es nicht der strenge Blick aus Héranons stahlblauen Augen, nicht die halb offenstehenden, zitternden Lippen im kalkweißen Gesicht seines besten Freundes, so war es der ratlos gesenkte Kopf seines Großvaters, seine müden, zuckenden Lider, das faltige Ohr, die herunterhängenden Mundwinkel, was ihm wirklich und wahrhaftig Angst machte. Mehr Angst als die Vorstellung, bei lebendigem Leibe zersägt, begraben oder gepfählt zu werden.

»Du weißt einen Ausweg, oder nicht?«, wollte der alte Mann schließlich mit heiserer, seltsam gebrochener Stimme wissen.

Héranon blinzelte bestätigend.

»Der Junge muss hier weg.«

»Er bleibt!«, sagte Lóhan schroff.

»Er geht.«

»Weil?«

»Doppelweil: damit sie ihn erstens nicht massakrieren, und zweitens um zu lernen, wie er mit Káor umgehen muss.«

»Du wirst mir Léun nicht auch noch wegnehmen.«

»Du nimmst ihn dir selber weg, wenn du ihn hierbehältst«, widersprach Héranon. »Sei kein Narr und lass ihn gehen, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Wenn er wiederkommt, droht ihm keine Gefahr mehr. Und den netten Leutchen hier in Grüntal auch nicht. Denn dann wird er Káor beherrschen, und nicht Káor ihn.«

»Also ist dieser Káor doch ein Dämon?«, fragte Arrec vorsichtig.

Betretenes Schweigen.

»Es tut mir leid, Großvater«, sagte Léun. »Ich gehe.«

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